Der neue Sonnenwinkel Staffel 1 – Familienroman. Michaela Dornberg
würde auch ihre Mutter gern umarmen, ganz gewiss, doch die müsste es zulassen.
Es hatte keinen Sinn, Stella stieg ebenfalls in ihr Auto und dann fuhr sie los, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie fühlte sich müde, erschöpft wie nach einem langen Arbeitstag, dabei war sie nur für ein paar Stunden bei ihren Eltern gewesen.
Stella wollte nicht schon wieder Vergleiche anstellen, doch es ging nicht anders.
Die Auerbachs waren so ganz anders.
Wenn sie von denen kam, da war sie beschwingt, gut gelaunt, und da war sie innerlich voller Liebe.
Ach, wie gern würde sie sich so fühlen, wenn sie von ihren Eltern kam.
Vielleicht sollte sie es ganz gelassen angehen wie ihre Schwiegereltern. Obwohl sie so ganz anders waren, hatten sie es doch geschafft, zu den Rückerts sogar so etwas aufzubauen wie ein loses freundschaftliches Verhältnis.
Sie nahmen sie wie sie waren und ließen es zu einer Konfrontation gar nicht erst kommen. Es war nicht so, dass sie brenzlige Themen vermieden, überhaupt nicht. Sie vertraten nur ruhig und bestimmt ihre Meinung, und wenn Rosmarie, die in erster Linie dazu neigte, sich zanken zu wollen, dann wechselten sie das Thema.
Vielleicht kam sie ja auch mal dahin, sich wenigstens nicht mehr über ihre Eltern zu ärgern.
Stella freute sich, nach Hause zu kommen, zu ihrem Mann und zu ihren beiden Süßen.
*
Roberta konnte es noch immer nicht glauben, was praktisch über Nacht geschehen war.
Die Patienten gaben sich die Türklinke in die Hand, und es waren bei Weitem nicht nur Neugierige, sondern Menschen, die wirklich krank waren, die Enno bereits seit Längerem behandelt hatte.
Sie war in ihrem Element, endlich konnte sie zeigen, was sie so drauf hatte. Und in einem Fall korrigierte sie sogar, natürlich ohne es dem Patienten zu sagen, Ennos Diagnose. Für sie war es keine langwierige Geschichte. Sie würde den Mann rasch wieder auf die Beine bringen.
Jetzt sah Roberta auch, wie gut ihre Mitarbeiterin war, und wie schnell und umsichtig sie arbeiten konnte. Und sie war bei den Patienten beliebt.
Es fing an, ihr so richtig Spaß zu machen, und sie bereute es nicht mehr, in den Sonnenwinkel gekommen zu sein.
Natürlich machte sie auch Hausbesuche, und das rechnete man ihr hoch an.
Ihr alter Freund Enno hatte sich da ein wenig gedrückt, und diese Hausbesuche vermieden, wenn sie zu vermeiden gewesen waren. Nur wenn es unumgänglich gewesen war, hatte er sie natürlich gemacht.
In gewisser Weise war er zu verstehen.
Der Arbeitstag in einer Arztpraxis war lang und anstrengend, und wenn man Familie hatte, wollte man die knappen freien Stunden mit seiner Frau und seinen Kindern verbringen.
Für Roberta war es einfacher. Sie musste nur für sich selbst sorgen. Wobei sie sich da allerdings auch ganz sträflich vernachlässigte, sich mit einem Butterbrot begnügte, weil sie sich nicht dazu aufraffen konnte, etwas für sich zu kochen. Sie hatte einfach nicht die Energie dazu, zumal sie zwar sehr gern sehr lecker aß, jedoch selbst keine begnadete Köchin war. Das gab sie offen zu. Also dieses Problem musste sie noch lösen, und sie hoffte auch da auf Ursel Hellenbrinks Hilfe.
Es war sehr schade, dass sie sich im »Seeblick« nicht mehr verwöhnen lassen konnte. Da war das Angebot sehr spärlich geworden, seit Monika Lingen sich in der Reha befand.
Und wie würde es da danach werden? Nach ihrer Rückkehr?
Für die Gäste sah es nicht gut aus, die jammerten, weil sie natürlich erst einmal ihre eigenen Bedürfnisse sahen, fantastisches Essen zu einem überaus günstigen Preis zu bekommen.
Roberta freute sich, weil ihre Worte sowohl bei ihm als auch bei ihr auf fruchtbaren Boden gefallen waren.
Hubert und Monika Lingen wollten und würden etwas verändern. Was genau, das wussten sie noch nicht. Doch das war durchaus verständlich.
Man gab ein Leben mit all seinen Gewohnheiten nicht so einfach auf. Da waren viele Überlegungen anzustellen, und man musste sich klar darüber sein, wohin die Reise gehen sollte.
Bei allem Unglück brauchten die Lingens sich finanziell um ihre Zukunft keine Sorgen zu machen. Doch wenn es möglich wäre, würden sie leichten Herzens und ohne zu zögern das Mehrfamilienhaus gegen Monikas Gesundheit eintauschen. Gesundheit ließ sich mit allem Geld der Welt nicht kaufen.
Auch heute hatte Roberta einen langen, anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Und das ohne Pause, denn mittags hatte sie rasch noch Hausbesuche gemacht, und den letzten, den sie tagsüber nicht geschafft hatte, hatte sie jetzt hinter sich gebracht.
Sie war ganz schön fertig, doch es war eine Erschöpfung, die ihr auf jeden Fall lieber war als eine, die vom quälenden Nichtstun herrührte.
Sie war hungrig, müde. Und eigentlich war ihr danach, sich daheim auf ihr Sofa zu werfen und sich vom Fernsehen berieseln zu lassen und dabei vermutlich einzuschlafen, ohne von einem Film etwas mitzubekommen.
Nein, das konnte es nicht gewesen sein.
Es war windig, doch das Wetter war stabil, keine dunkle Wolke am Himmel.
Roberta entschloss sich, sich am See noch ein wenig den Wind um die Ohren wehen zu lassen.
Ihren Gedanken, am Wochenende zu rudern, hatte sie nicht in die Tat umsetzen können, weil anderes zu tun gewesen war.
Vielleicht am nächsten Wochenende, nahm sie sich vor. Aber an einem Spaziergang konnte sie niemand hindern.
Am See angekommen sah sie, dass einige Boote draußen waren, obwohl es schon recht spät war.
Bestimmt waren es auch Leute, die den ganzen Tag über gearbeitet hatten und jetzt einfach dieses Gefühl von Freiheit und frischer Luft genießen wollten.
Ach, die hatten es gut.
Sie lief los, und es wurde ihr überhaupt nicht bewusst, dass sie den Weg Richtung Bootsverleih nahm. Um sich jetzt ein Boot zu leihen, dazu war sie nicht richtig angezogen, und auch zu müde, um sich ins Zeug zu legen. Zum Rudern war es zu windig, aber segeln, ja, das wäre es. Das liebte sie ebenfalls, und früher, als ihre Welt noch in Ordnung gewesen war, hatten ihr Exmann Max und sie viel Zeit auf dem Boot verbracht. Es war anders geworden, als Max lieber links und rechts des Weges Affären mit Frauen, teils sogar Patientinnen, angefangen hatte und als ihm ein Segelboot nicht gut genug gewesen war. Er hatte von einem schnittigen Motorboot mit allem Komfort, mit mehreren Schlafkojen und Kabinen geträumt.
Ach, Max.
Seit sie im Sonnenwinkel lebte, dachte sie kaum noch an ihn. Das war ein anderes Leben gewesen, das sie nicht mehr zurückhaben wollte. Nicht mehr brauchte, weil ihr längst bewusst war, dass sie, ohne eine Gegenleistung zu bekommen, einen sehr hohen Preis bezahlt hatte.
Schnee von gestern, würde ihre Freundin Nicki burschikos sagen.
Nicki und Max waren keine Freunde gewesen. Er hatte nichts von ihr gehalten, weil er sie nicht anbaggern konnte, und Nicki hatte ihn durchschaut und dafür verachtet, weil er auf Kosten ihrer allerbesten Freundin ein richtiges Drohnendasein führte.
Tatsächlich Schnee von gestern …
Roberta hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie den Bootsverleih erreicht hatte.
Kay Holl war damit beschäftigt, ein Segelboot startklar zu machen.
Sie wollte umkehren, doch das vereitelte er, indem er gerade in dem Augenblick aufblickte, als sie diesen Gedanken in die Tat umsetzen wollte.
Sie war nicht mehr gekommen, hatte sich nicht gemeldet, doch er tat so, als sei sie gerade erst gestern da gewesen.
Er richtete sich auf, kam ihr ein paar Schritte entgegen, lachte.
»Hi, schön dich zu sehen«, in Sportlerkreisen duzte man sich einfach, und dagegen