Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Honore de Balzac


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      Seit die­sem denk­wür­di­gen Tage führ­ten Cäsar, sei­ne Frau und sei­ne Toch­ter ihr Le­ben in volls­tem Ein­ver­neh­men. Der arme An­ge­stell­te woll­te ein, wenn auch nicht un­mög­li­ches, so doch un­ge­heu­res Er­geb­nis er­zie­len: die vol­le Be­zah­lung sei­ner Schul­den! Die­se drei Men­schen, durch das Ge­fühl der glei­chen strengs­ten Red­lich­keit ver­bun­den, wur­den gei­zig und ver­sag­ten sich al­les; je­der Hel­ler war ih­nen hei­lig. Mit vol­ler Ab­sicht wid­me­te sich Cäsa­ri­ne ih­rem Ge­schäft mit der hin­ge­ben­den Schwär­me­rei ei­nes jun­gen Mäd­chens. Sie ver­brach­te die Näch­te, in­dem sie sich den Kopf dar­über zer­brach, wie dem Ge­schäft zu ei­nem wei­te­ren Auf­schwung ver­hol­fen wer­den kön­ne; sie er­fand neue Stoff­mus­ter und ent­fal­te­te ihre an­ge­bo­re­ne kauf­män­ni­sche Be­ga­bung in ge­nia­ler Wei­se. Die Ge­schäfts­in­ha­ber wa­ren ge­nö­tigt, ih­ren Ar­beitsei­fer zu zü­geln, und be­lohn­ten ihn mit Gra­ti­fi­ka­tio­nen; aber wenn sie ihr Putz und Schmuck­sa­chen schen­ken woll­ten, so lehn­te sie ab, sie woll­te nur Geld! Je­den Mo­nat brach­te sie ihr Ge­halt und ihre klei­nen Son­der­ge­win­ne ih­rem On­kel Pil­ler­ault, und eben­so mach­te es Cäsar und eben­so sei­ne Frau. Da alle drei sich nicht für ge­schickt ge­nug hiel­ten und kei­ner al­lein die Verant­wor­tung für eine gute An­la­ge ih­rer Er­spar­nis­se über­neh­men woll­te, so hat­ten sie Pil­ler­ault die end­gül­ti­ge Ent­schei­dung dar­über über­tra­gen. Wie­der zum Kauf­mann ge­wor­den, leg­te der On­kel das Geld in Bör­sen­ge­schäf­ten an. Spä­ter wur­de be­kannt, daß er da­bei von Ju­les Des­ma­rets und Jo­seph Le­bas un­ter­stützt wor­den war, die sich bei­de be­müht hat­ten, ihm si­che­re An­la­gen nach­zu­wei­sen. Der ehe­ma­li­ge Par­füm­händ­ler, der bei sei­nem On­kel leb­te, wag­te nicht, ihn über die Un­ter­brin­gung des Gel­des, das durch sei­ne, sei­ner Frau und sei­ner Toch­ter Ar­beit er­wor­ben wur­de, zu be­fra­gen. Ge­senk­ten Haup­tes ging er über die Stra­ße und ver­such­te, sein nie­der­ge­schla­gens, ent­stell­tes, stumpf ge­wor­de­nes Ge­sicht al­len Bli­cken zu ent­zie­hen. Er mach­te sich so­gar Vor­wür­fe, daß er gute Stof­fe trug.

      »We­nigs­tens«, pfleg­te er zu sa­gen und blick­te dank­bar auf den On­kel, »brau­che ich nicht das Brot mei­ner Gläu­bi­ger zu es­sen. Das Brot, das Sie mir ge­ben, wenn es auch nur aus Mit­leid mit mir ge­schieht, schmeckt mir süß, wenn ich be­den­ke, daß dank die­ser himm­li­schen Güte ich nichts von mei­nem Ge­halt weg­zu­neh­men brau­che.« Die Kauf­leu­te, die dem An­ge­stell­ten be­geg­ne­ten, konn­ten kei­ne Spur mehr von dem al­ten Par­füm­händ­ler wahr­neh­men. Die Gleich­gül­tigs­ten be­ka­men einen un­ge­heu­ren Be­griff von dem Sturz der Men­schen aus ih­rer Höhe, wenn sie das Ge­sicht die­ses Man­nes an­sa­hen, in das der schwär­zes­te Kum­mer sei­ne Zei­chen ge­gra­ben hat­te, und das von dem, was es nie­mals frü­her be­schäf­tigt hat­te, zer­stört wur­de: vom Nach­den­ken! Zer­stört aber wird nur der, der sich nicht da­ge­gen sträu­ben will. Leicht­le­bi­gen, ge­wis­sen­lo­sen Leu­ten wird man nie­mals ihr Un­glück an­mer­ken. Das re­li­gi­öse Ge­fühl al­lein ver­mag nie­der­ge­wor­fe­nen Exis­ten­zen sei­nen be­son­de­ren Stem­pel auf­zu­drücken; die­se glau­ben an eine Zu­kunft, an eine Vor­se­hung; es schwebt ein Leuch­ten über ih­nen, das kenn­zeich­nend ist, eine Art from­mer Er­ge­bung mit Hoff­nung ver­mischt, die rüh­rend ist; sie wis­sen, was sie al­les ver­lo­ren ha­ben, wie der ge­fal­le­ne En­gel, der an der Pfor­te des Him­mels weint. Kri­da­re dür­fen nicht an der Bör­se er­schei­nen. Cäsar, aus der Ge­sell­schaft der voll­be­rech­tig­ten Kauf­leu­te aus­ge­sto­ßen, bot das Bild des am Him­mel­stor um Gna­de fle­hen­den En­gels dar. Vier­zehn Mo­na­te hin­durch from­men Grü­belei­en über sein Un­glück hin­ge­ge­ben, ver­sag­te sich Cäsar je­des Ver­gnü­gen. Ob­gleich der un­ver­än­der­ten Freund­schaft der Ra­g­ons si­cher, war es un­mög­lich, ihn zu be­we­gen, zu ih­nen zum Di­ner zu kom­men, eben­so­we­nig wie zu Le­bas, den Ma­ti­fats, den Pro­tez und Chif­fre­vil­les, nicht ein­mal zu Herrn Vau­que­lin, die alle be­müht wa­ren, Cäsars her­vor­ra­gen­dem Ver­hal­ten Ehre zu er­wei­sen. Er zog es vor, al­lein in sei­nem Zim­mer zu blei­ben, um nicht ei­nem sei­ner Gläu­bi­ger un­ter die Au­gen tre­ten zu müs­sen. Das wärms­te Ent­ge­gen­kom­men sei­ner Freun­de er­in­ner­te ihn im­mer wie­der bit­ter an sei­ne Lage. Auch Kon­stan­ze und Cäsa­ri­ne gin­gen nir­gends hin. An Sonn- und Fest­ta­gen, den ein­zi­gen, wo sie frei wa­ren, hol­ten die bei­den Frau­en Cäsar zur Mes­se ab und leis­te­ten ihm, nach Er­fül­lung der re­li­gi­ösen Pf­lich­ten, Ge­sell­schaft bei Pil­ler­ault. Die­ser lud dann den Abbé Loraux ein, des­sen Wor­te Cäsar in sei­nen Prü­fun­gen auf­recht er­hiel­ten, und so blie­ben sie im engs­ten Krei­se zu­sam­men. Der ehe­ma­li­ge Ei­sen­händ­ler war selbst im Punk­te der Ehren­haf­tig­keit zu emp­find­lich, als daß er Cäsars Fein­ge­fühl miß­bil­ligt hät­te. Des­halb sann er dar­auf, die An­zahl der Per­so­nen zu ver­grö­ßern, vor de­nen sich der Kri­dar mit frei­em Blick und er­ho­be­nem Haup­te zei­gen konn­te.

      Im Mo­nat Mai des Jah­res 1820 wur­de die­se ge­gen das Un­glück kämp­fen­de Fa­mi­lie für ihre An­stren­gun­gen mit ei­ner Fest­lich­keit be­lohnt, mit der sie der Lei­ter ih­res Ge­schicks über­ra­schen woll­te. Der letz­te Sonn­tag die­ses Mo­nats war der Jah­res­tag von Kon­stan­zes Ver­lo­bung mit Cäsar. Pil­ler­ault hat­te im Ein­ver­ständ­nis mit Ra­gon ein klei­nes Land­haus in Sceaux ge­mie­tet und der frü­he­re Ei­sen­händ­ler woll­te dort das Ein­wei­hungs­fest ge­ben.

      »Cäsar,« sag­te Pil­ler­ault zu sei­nem Nef­fen am Sonn­abend Abend, »mor­gen ge­hen wir aufs Land und du wirst mit­kom­men.«

      Cäsar, der eine vor­treff­li­che Hand schrieb, mach­te abends Ab­schrif­ten für Der­ville und ei­ni­ge an­de­re Ad­vo­ka­ten. Auch am Sonn­tag ar­bei­te­te er, mit kirch­li­chem Dis­pens, wie ein Skla­ve dar­an.

      »Nein,« ant­wor­te­te er, »Herr Der­ville war­tet auf eine Vor­mund­schafts­ab­rech­nung.«

      »Dei­ne Frau und dei­ne Toch­ter ver­die­nen wohl eine Be­loh­nung. Du fin­dest auch nur un­se­re Freun­de drau­ßen: den Abbé Loraux, die Ra­g­ons, Po­pi­not und sei­nen On­kel. Im üb­ri­gen wün­sche ich es.«

      Cäsar und sei­ne Frau wa­ren bei dem Ge­trie­be ih­rer Ge­schäf­te nie­mals wie­der nach Sceaux ge­kom­men, ob­gleich sie bei­de von Zeit zu Zeit den Wunsch hat­ten, dort den Baum wie­der­zu­se­hen, un­ter dem der ers­te Kom­mis der Ro­sen­kö­ni­gin vor Glück bei­na­he ohn­mäch­tig ge­wor­den war. Wäh­rend der Fahrt, die Cäsar mit Frau und Toch­ter im Wa­gen sit­zend mach­te, den Po­pi­not kut­schier­te, warf Kon­stan­ze ih­rem Man­ne Bli­cke des Ein­ver­ständ­nis­ses zu, ohne je­doch ein Lä­cheln auf sei­ne Lip­pen her­vor­zau­bern zu kön­nen. Sie flüs­ter­te ihm ei­ni­ge Wor­te zu, aber er schüt­tel­te statt al­ler Ant­wort nur den Kopf. Der lie­be­vol­le Aus­druck zärt­li­cher Emp­fin­dung, der, wenn auch er­zwun­gen, so doch un­er­schüt­ter­lich in ih­rem Bli­cke leuch­te­te, mach­te Cäsars Ge­sicht, an­statt es auf­zu­hel­len, nur noch trüber und ließ ihm die zu­rück­ge­hal­te­nen Trä­nen in die Au­gen tre­ten. Vor zwan­zig Jah­ren hat­te der arme Mann den­sel­ben Weg als ein wohl­ha­ben­der, hoff­nungs­freu­di­ger jun­ger Mensch ge­macht, der in ein jun­ges Mäd­chen ver­liebt war, eben­so schön wie jetzt Cäsa­ri­ne; da­mals träum­te er von Glück, und heu­te saß er im Wa­gen, vor ihm sein ed­les Kind, bleich von


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