Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
um ein halb zwölf Uhr dort …«
»Das ist anständig; volle Zahlung und vier Prozent«, sagte sie mit naiver Verwunderung. »Hören Sie, lieber Herr, ich mache gute Geschäfte mit Ihrem kleinen Rotkopp; der is anständig und läßt mich gut verdienen, ohne den Preis zu drücken, weil er mich entschädigen will; wissen Sie was, ich werde Ihnen eine Quittung geben, aber behalten Sie Ihr Geld, mein armer Alter! Die Madou ist hitzig und schreit leicht, aber hier hat sie auch was«, sagte sie und schlug sich dabei auf die dicksten Fleischkissen, die jemals in den Markthallen gesehen worden sind.
»Keinesfalls,« sagte Birotteau, »das Gesetz ist klar und deutlich, ich wünsche, Sie voll zu bezahlen.«
»Na, dann werde ich mich nicht länger bitten lassen«, sagte sie. »Aber morgen in der Markthalle, da werde ich Ihr ehrenwertes Verhalten überall herumerzählen. Ach, das is eine Seltenheit, diese Geschichte!«
Dieselbe Szene spielte sich bei Crottats Schwiegervater, dem Stubenmaler, aber in etwas anderer Form ab. Es regnete draußen und Cäsar hatte seinen Schirm an die Tür gestellt. Der reichgewordene Malermeister war nicht sehr liebenswürdig, als er bemerkte, wie das Wasser auf den Fußboden seines schönen Speisezimmers lief, wo er mit seiner Frau beim Dejeuner saß.
»Also was wünschen Sie, armer Vater Birotteau?« sagte er in dem groben Tone, in dem die Leute mit lästigen Bettlern zu sprechen pflegen.
»Herr Lourdois, hat Ihnen Ihr Schwiegersohn nicht mitgeteilt …«
»Was denn?« fragte Lourdois ungeduldig, der an irgendeine Bettelei dachte.
»Daß Sie sich heute vormittag um einhalb zwölf Uhr bei ihm einfinden sollen, um mir über meine volle Zahlung Quittung zu erteilen? …«
»Ach, das ist etwas anderes; aber nehmen Sie doch Platz, Herr Birotteau, und essen Sie einen Bissen mit uns …«
»Machen Sie uns doch das Vergnügen, mit uns zu frühstücken«, sagte Frau Lourdois.
»Nein, Herr Lourdois, ich muß alle Tage aus der Hand an meinem Schreibtisch frühstücken, um etwas Geld zu verdienen; aber mit der Zeit hoffe ich, allen Schaden, den ich meinen Nächsten verursacht habe, wieder gutmachen zu können.«
»Wahrhaftig,« sagte der Malermeister und schob eine Schnitte mit Gänseleberpastete in den Mund, »Sie sind ein Ehrenmann.«
»Und was macht Frau Birotteau?« sagte Frau Lourdois.
»Sie führt Herrn Anselm Popinot die Bücher und die Kasse.«
»Arme Leute«, sagte Frau Lourdois zu ihrem Manne.
»Wenn Sie mich brauchen sollten, mein lieber Herr Birotteau, kommen Sie nur zu mir,« sagte Lourdois, »vielleicht kann ich Ihnen helfen …«
»Ich brauche Sie nur heute um elf Uhr, Herr Lourdois«, sagte Birotteau und entfernte sich. Dieses erste Ergebnis machte dem Kridar Mut, wenn es ihm auch noch nicht seine Ruhe wiedergab; der Wunsch nach Wiederherstellung seiner Ehre rieb ihn übermäßig auf; er hatte seine blühende Gesichtsfarbe völlig verloren, sein Blick war erloschen, sein Antlitz abgemagert. Wenn alte Bekannte Cäsar früh um acht oder nachmittags um vier Uhr auf seinem Hin- und Rückwege in der Rue de l’Oratoire begegneten, in demselben Überrock, den er zur Zeit der Katastrophe getragen hatte, und den er, wie ein armer Unterleutnant seine Uniform, schonte, mit ganz weiß gewordenem Haar, bleich und ängstlich, so hielten ihn einige gegen seinen Wunsch fest, obwohl er, um sich spähend, auszuweichen suchte, indem er wie ein Dieb an den Mauern entlangschlich.
»Ihr ehrenhaftes Verhalten ist allgemein bekannt, lieber Freund«, sagten sie zu ihm. »Aber alle bedauern, daß Sie, ebenso wie Ihre Tochter und Ihre Frau, so hart gegen sich selbst verfahren.«
»Gönnen Sie sich doch etwas mehr Zeit«, sagten andere, »an einer Geldwunde stirbt man nicht.«
»Nein, aber an einer Seelenwunde«, antwortete der arme ermattete Cäsar einmal Matifat.
Zu Beginn des Jahres 1822 wurde der Bau des Kanals Saint-Martin beschlossen. Die im Faubourg du Temple gelegenen Terrains erreichten wahnsinnige Preise. Nach dem Projekt sollte das Grundstück du Tillets, das früher Cäsar Birotteau gehörte, in der Mitte durchschnitten werden. Die Gesellschaft, die die Baukonzession für den Kanal erhalten hatte, wollte ihm einen ungeheuren Preis zahlen, wenn der Bankier das Terrain zu einem bestimmten Termin übergeben könnte. Der Mietvertrag, den Cäsar mit Popinot geschlossen hatte, verhinderte das. Der Bankier suchte deshalb den Drogisten in der Rue des Cinq-Diamants auf. Wenn Popinot auch du Tillet gleichgültig war, so empfand Cäsarines Verlobter einen instinktiven Haß gegen diesen Menschen. Er kannte weder den Diebstahl noch die niederträchtigen Machenschaften des erfolgreichen Bankiers, aber eine innere Stimme sagte ihm: Dieser Mensch ist ein strafloser Dieb. Popinot hätte nicht das kleinste Geschäft mit ihm machen mögen, seine Gegenwart war ihm verhaßt. Dazu mußte er gerade jetzt sehen, wie du Tillet sich an dem, dessen er seinen früheren Prinzipal beraubt hatte, bereicherte, denn der Wert der Terrains an der Madeleine begann schon so zu steigen, daß man die Riesenpreise ahnen konnte, die sie im Jahre 1827 erreichten. Als der Bankier daher den Anlaß seines Besuchs ihm mitgeteilt hatte, betrachtete ihn Popinot mit erhöhter Entrüstung.
»Ich will es nicht ablehnen, von meinem Mietvertrage zurückzutreten, aber ich verlange dafür sechzigtausend Franken und werde keinen Heller von dieser Summe ablassen.«
»Sechzigtausend Franken?« rief du Tillet aus und machte Anstalten, sich zu entfernen.
»Ich habe noch fünfzehn Jahre Kontrakt und müßte für eine neue Fabrik jährlich dreitausend Franken mehr ausgeben. Also es bleibt bei sechzigtausend Franken, oder wir brauchen über die Sache nicht weiter zu reden«, sagte Popinot und ging in den Laden zurück, wohin ihm du Tillet folgte.
Die Diskussion wurde lebhaft, und es fiel der Name Birotteau, als Frau Konstanze gerade herunterkam, die du Tillet seit dem berühmten Ball zum erstenmal wiedersah. Der Bankier konnte beim Anblick der Veränderung, die das Aussehen seiner ehemaligen Prinzipalin erfahren hatte, ein Zeichen der Überraschung nicht zurückhalten und schlug, erschreckt über sein Werk, die Augen nieder.
»Der Herr«, sagte Popinot zu Frau Birotteau, »verdient an ›Ihren‹ Terrains dreihunderttausend Franken und will uns nicht sechzigtausend Franken Entschädigung für unsern Mietvertrag gewähren …«
»Das sind dreitausend Franken Rente«, sagte du Tillet emphatisch.
»Dreitausend