"Wer seiner Seele Flügel gibt …". Renate Holm
eine ziemliche Prozedur – aber als Belohnung versammelten sich nach der Arbeit alle Helfer an einem riesigen Tisch und wir aßen die frisch gekochten Pellkartoffeln, die wir zuvor gerade geerntet hatten. Dazu gab es das berühmte Spreewälder Leinöl und Quark, was bis zum heutigen Tag zu meinen absoluten Lieblingsspeisen zählt! Keine Woche vergeht ohne dieses Gericht! Das weiß auch mein treuer Berliner Fanclub, der mir alle zwei Monate frisches Spreewälder Leinöl nach Wien schickt.
Mit Ragow verbinde ich noch etwas: den herrlichen Duft von frisch getrocknetem Heu. Nachdem die Männer mit Sensen die Wiesen gemäht hatten, hieß es für uns, das geschnittene Gras so lange sorgfältig zu wenden, bis es trocken war. Und zwar wirklich ganz trocken! Andernfalls bestand die Gefahr, dass das Heu schimmlig werden würde und somit als Futter unbrauchbar war. Also mussten wir wenden, wenden, wenden … Danach wurde stundenlang zusammengerecht und das Heu auf den Ochsenkarren verladen. Wenn abends der Heuwagen voll war, kletterte ich ganz hinauf und genoss dieses unbeschreiblich schöne Gefühl, weich gebettet und eingehüllt von diesem herrlichen Duft nach Hause zu fahren – in der untergehenden Sonne … All das gehörte jetzt schon zu meinem Leben. Es hätte eine schöne Zeit sein können, wenn nicht dieser fürchterliche Krieg die Idylle ständig wie ein Damoklesschwert überschattet hätte.
Die andere Seite von Ragow …
Was ich bisher von Ragow erzählt habe, waren die positiven Seiten meiner Jugendjahre auf dem Land. Mit der Heugabel zu hantieren, war für mich das Natürlichste auf der Welt. Dass ich relativ bald mit einer ganz anderen Art von Gabel konfrontiert sein würde, nämlich mit der Stimmgabel, zählt zu den kleinen Wundern, die einem im Leben widerfahren können … Zunächst kamen aber sehr schmerzhafte Jahre auf uns zu. Als der Krieg 1945 zu Ende ging, marschierten russische Soldaten in unser kleines Dorf ein. Ich kann mich nur an Eines erinnern: Angst, Angst, Angst … Besonders schlimm war es, als sie eines Tages drohten, das ganze Dorf niederzubrennen, weil sich angeblich unser Nachbarbauer einem russischen Befehl widersetzt hätte. Alle Dorfbewohner mussten in ein nahegelegenes Waldstück flüchten. In der Eile konnten wir nur ein paar Lebensmittel, Kissen und Decken mitnehmen. Wieder war es mein Puppenwagen, den wir als Transportmittel nutzten. Es waren unvorstellbar qualvolle Stunden, es war tiefer Herbst, feucht, kalt und nebelig. Und dann diese Riesenangst, dass womöglich unser ganzes Dorf mitsamt allen Tieren, Häusern und Lebensmittelvorräten in Flammen aufgehen könnte … Von einer Stunde zur anderen haben wir geschaut, ob der Himmel über dem Dorf schon vom Feuer rot geworden ist …
Als drei Tage und drei Nächte nichts passiert war, schlich sich einer der Männer ins Dorf, um auszukundschaften, was geschehen war. Er kam mit der Nachricht zurück, dass die Russen das Dorf nicht niedergebrannt hätten. Stattdessen hätten sie die ganze Familie von jenem Bauern exekutiert, der angeblich Widerstand geleistet haben soll. Diesen Anblick werde ich nie vergessen … Als wir ins Dorf zurückkehrten, fanden wir die ganze Familie – vom Enkelkind bis zur Großmutter – an den Händen zusammengebunden tot vor ihrem Bauernhof liegen.
Heute, siebzig Jahre später, sind solche Grausamkeiten in erschütternder Weise nahezu täglich in allen Facetten in den Medien zu sehen. Der Unterschied zu den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges ist nur, dass diese nicht medial transportiert wurden. Die Menschen, die das damals erleben mussten, haben keine Wiedergutmachungen erhalten. Es gab zu dieser Zeit weder psychologische Betreuung noch karitative Hilfeleistungen, wie es heute der Fall ist. Erst im Jahr 1949, als meine Mutter und ich nach Berlin zurückgekehrt waren, änderte sich alles zum Besseren und somit auch unser Leben.
Wie ich »Bäuerin aus Liebe« wurde
Aus Ragow nahm ich allerdings einen Traum mit: Ich wollte später einmal Tiere haben, einen Stall und einen Acker, ich wollte Kartoffeln anbauen und diese Nähe zur Natur noch einmal erleben … Und schicksalhaft sollte dieser Traum fünfzehn Jahre später in Erfüllung gehen. Zu dieser Zeit war Wien bereits mein Lebensmittelpunkt und Herbert von Karajan hatte mir gerade einen langjährigen Vertrag an der Staatsoper angeboten. Für mich als Sängerin bedeutete das, in der Weltelite angekommen zu sein. Ich war erfüllt von unendlicher Dankbarkeit … Gleichzeitig kam ein enormes Arbeitspensum auf mich zu. Um den hohen Erwartungen gerecht zu werden, widmete ich mich von morgens bis abends der Materie Sängerin. Und zwar mit voller Konzentration! Und vollem Einsatz! Da gab es nicht viel Freizeit. Aber auf der Suche nach einem kleinen Stück Erde und einem kleinen Häuschen in der Natur, wo ich meine Batterien aufladen konnte, ergab sich ganz plötzlich Folgendes: In einer Zeitungsannonce wurde in Niederösterreich, in der Nähe von Hollabrunn, eine dreihundert Jahre alte Mühle zum Verkauf angeboten. Es war »Liebe« auf den ersten Blick. Inmitten der idyllischen Hügellandschaft des Weinviertels stand diese im Jahr 1693 errichtete Wassermühle, umsäumt von mehreren Hektar Ackerland. Mit einem Schlag waren meine Erinnerungen an Ragow wieder da … Ich dachte nur: »Mein Gott, wäre es schön, wenn ich diese Mühle erwerben könnte!« Sie war zwar um ein Vielfaches größer, als ich es mir ursprünglich vorgestellt hatte und noch dazu in einem sehr desolaten Zustand, doch ich spürte, dass sich hier nicht nur mein Wunsch nach einer Ruheoase im Grünen verwirklichen ließe, sondern sogar mein Traum von einer eigenen kleinen Landwirtschaft … Die große Frage war nun: Würde ich das finanziell überhaupt schaffen? War das realistisch? Aber mit dem bereits gesparten Geld konnte ich mir die Anzahlung leisten und durch die Sicherheit, die mir mein Engagement an der Staatsoper bot, war es mir möglich, den Hypothekarkredit auf zehn Jahre abzubezahlen und in Renovierungsarbeiten zu investieren.
Ein derart altes Gebäude zu sanieren, ist eine echte Herausforderung! Ich wollte nach Möglichkeit alles so belassen, wie es war, nur eben reparieren und neu herrichten. Der Charme der Mühle, die alte Bausubstanz, sollte um jeden Preis erhalten bleiben. Das war mir sehr wichtig. Jeder einzelne Dachziegel zeugt im Grunde von einer längst vergangenen Epoche. Ich habe großen Respekt vor der Arbeit jener Menschen, die vor mehr als dreihundert Jahren in stundenlanger Handarbeit kleine Kunstwerke geschaffen haben. In die tragenden Balken meines jetzigen Kaminzimmers sind wunderschöne Figuren gemeißelt, und die Türen des Hauses sind mit kunstvollen Holzschnitzereien versehen worden, zufälligerweise mit Löwen-Motiven (mein Sternzeichen!). Und dann diese riesengroßen Mühlräder! Die unglaubliche Erhabenheit und Wucht dieser Holzkonstruktion ist faszinierend und vermittelt mir Wärme und Geborgenheit.
Schlossmühle bei Altenmarkt
Am Wiesengrund
Baum umstanden
steht die alte Mühle.
Gladiolen, Türkenbund, Rosen
duften in die Abendkühle.
Altes Mauerwerk im Flur
bergend Truhen, einen alten Schrank.
Blumen füllen Krüge, Kannen
und man sitzt auf brauner Bank,
sieht durchs offne Tor
in die Weite der Natur.
Bei dunklem Brot –
Wein ist hingestellt –
wachsen gute Gedanken
in die Nacht.
Alfred Tuschak
Ein Gemälde aus dem Jahre 1892, als in der Mühle noch Getreide gemahlen wurde, und 100 Jahre später, als das Getreide kurz vor der Ernte stand
Weihnachtsstimmung