Sternstunden Österreichs. Gerhard Jelinek

Sternstunden Österreichs - Gerhard Jelinek


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werde.

      So muss Kara Mustafa das Belagerungshandwerk beginnen. Tag für Tag graben Pioniertruppen Laufgräben, donnern die Kanonen gegen Mauerstücke und versuchen Mineure tief unter die Fundamente der Basteien zu graben. Es ist ein mühsamer, brutaler und verlustreicher Kampf. Fast immer Mann gegen Mann: Säbel, Dolche, Streitkolben, Hellebarden erweisen sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts als immer noch wirkungsvoller als Pistolen und Musketen. Hinter den Mauern und Palisaden versteckt, versuchen aber mehr als fünfzig Wiener Scharfschützen den Feind aus der Entfernung zu töten. Der Krieg wird mit Zähigkeit und oft auch sadistischer Härte geführt. Den türkischen Toten wird gelegentlich der Bauch aufgeschlitzt, weil sich die Kunde verbreitet hat, die Osmanen würden Golddukaten schlucken. Tatsächlich soll ein Wiener Student so sechs zusammengerollte Dukaten aus dem Leib eines Osmanen geschnitten haben. Beim Zelt des Großwesirs gibt es für die Überbringung abgeschnittener Wiener Köpfe Goldstücke. Da verstümmelte Köpfe Getöteter oft nicht genau unterscheidbar sind, steigt die Versuchung, außerhalb der Gefahrenzone Wehrlose zu ermorden und deren Köpfe als Beute zu präsentieren. Gefangene werden abgeschlachtet, auf Bauern in der weiteren Umgebung Wiens Jagd gemacht.

      Es sind keine schöne Zeiten.

      In der belagerten Stadt geht der Tod um. Viel gefährlicher als der türkische Beschuss ist die »rote Ruhr«. Die Seuche breitet sich in den warmen Sommermonaten in der engen Stadt aus. Tag für Tag stirbt ein Dutzend Menschen an der Darminfektion, später sind es drei Mal so viele Menschen. Acht Geistliche werden eingeteilt, den Sterbenden die letzten Sakramente zu spenden. Die Friedhöfe in der Stadt sind überfüllt, fast zweitausend Opfer des Kampfes und der Ruhr werden auf Anordnung des »Geheimen Deputiertenkollegiums« zwangsweise im Franziskanerkloster begraben. Anfang September beginnt die Lage für die Eingeschlossenen kritisch zu werden. Die Hälfte der Berufssoldaten ist getötet oder verletzt, die Wiener Bürgerkompanien haben sich de facto aufgelöst, nur die Studenten erscheinen noch zum täglichen Gefechtsdienst auf den Mauern. Mit vorgehaltener Muskete werden kampffähige Wiener aus ihren Verstecken geholt, Deserteuren wird angedroht, sie »unverzüglich zum Fenster hinaus aufzuhängen«.

      Während die Wiener Garnison unter großen Verlusten den Angriffen der Türken standhält, versucht Kaiser Leopold I. von Linz und Passau aus, ein christliches Entsatzheer zu organisieren. Das Vorhaben entpuppt sich als nicht ganz einfach: Die Jahrzehnte später heroisierte Rettung des »christlichen Abendlandes« war wenigen Fürsten das Risiko und die Kosten eines kriegerischen Einsatzes wert. Verbündete des Kaisers müssen erst durch entsprechende finanzielle Versprechungen überzeugt werden. Die Diplomaten und Beamten im kaiserlichen Exil beim Bischof von Passau schreiben unablässig Briefe, unter anderem an den bayerischen Kurfürsten Maximilian II. Emanuel, an den sächsischen Kurfürsten Johann Georg III., an Fürst Georg Friedrich von Waldeck, und an Papst Innozenz XI. Der katholische Kirchenfürst in Rom stellt für den Kampf gegen die Osmanen in erstaunlich kurzer Zeit und ohne machtpolitische Winkelzüge eineinhalb Millionen Gulden zur Verfügung. Auch das katholische Spanien, Portugal, die Toskana und die Republik Genua greifen tief in ihre wohlgefüllten Geldbeutel, freilich mehr aus Angst vor französischem Expansionsstreben als aus christlicher Solidarität. Kaiser Leopold verfügt nun über eine pralle Kriegskasse und kann mit dem Anwerben von Verbündeten beginnen. Einige wenige Fürsten sind selbst für Gotteslohn bereit, für die Sache der Christen und der Habsburger zum Schwert zu greifen. Der Salzburger Erzbischof Maximilian Gandolf Graf von Kuenburg etwa schickt dem Kaiser tausend bestens ausgerüstete Infanteristen und bezahlt sie. Auch der Franke Georg Friedrich von Waldeck feilscht nicht ums Kleingeld. Er lässt seine disziplinierten und kampferprobten Truppen aus der Region um Bamberg Richtung Osten abmarschieren. Neben Bayern und Sachsen, Franken und Salzburgern braucht der Kaiser aber auch die Streitmacht des polnischen Königs Johann III. Sobieski. Dieser zeigt sich durchaus willens nach Wien zu ziehen und das kaiserliche Heer zu verstärken. Der Pole verlangt allerdings den Oberbefehl des Heeres für sich. Für den Heerführer der kaiserlichen Truppen, Herzog Karl V. Leopold von Lothringen, der Sobieski schon bei der Wahl zum polnischen König unterlegen war, ist dieses Ansinnen eine persönliche Zumutung. Doch er muss nachgeben. Der Kaiser braucht Soldaten. Die Polen sind bereit zu kämpfen. Und so sammelt Sobieski in aller Ruhe sein Heer bei Krakau, um »mit Gottes Hilfe die Sache der Christenheit zu unterstützen«.

      Die polnischen Truppen stellen mit etwa 24 000 Mann das größte Kontingent des Entsatzheeres, das sich Anfang September auf dem Tullnerfeld südlich der Donau sammelt. Der Aufmarsch hat Wochen gedauert. Wochen, in denen die belagerte Stadt unter täglichem Beschuss der Osmanen durchgehalten hat.

      Als Botschafter des Papstes begleitet der Kapuzinermönch Marco d’Aviano die kaiserliche Armee und berichtet dem Heiligen Vater nach Rom, aber auch dem Kaiser nach Passau. Am Tag vor der Schlacht schreibt der streitbare Bußprediger: »Die Armee ist sehr schön, sowohl an Infanterie als auch an Kavallerie.« Der inoffizielle Beobachter des Kaisers soll auf dem heutigen Leopoldsberg, der damals Kahlenberg genannt wird, die letzte Messe für die versammelten Heerführer gelesen haben.

      Vieles ist Legende, auch die Rolle des Geistlichen wandelt sich im Lauf der Zeit. Der Friulaner wird in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Helden mystifiziert. Wiens Kardinal Innitzer ehrt den Mönch 1933 als »Retter des Abendlandes« und stellt ihn und Bundeskanzler Engelbert Dollfuß auf eine Stufe. Die Vereinnahmung durch das undemokratische Regime des Ständestaates hat Marco d’Aviano posthum einen schlechten Ruf eingetragen und ihn beinahe »seinen« Gassennamen gekostet. Wiens Kommission zur »Kontextualisierung der Benennung der Straßennamen« sprach dreihundert Jahre nach seinem Tod allen Ernstes eine Mahnung aus: Der katholische Geistliche sei aufgrund seiner »anti-islamischen Haltung« heute möglicherweise diskreditiert.

      An seiner Abneigung gegen den Islam hat der Bußprediger aber ohnehin nie einen Zweifel gelassen. »Politische Korrektheit« war als Begriff unbekannt. Seine Predigt am Leopoldsberg hatte nur einen Zweck: die Kampfkraft der Truppen zu stärken. Er selbst erinnert sich nur, dass er den vorbeimarschierenden Truppen seinen Segen gespendet hat.

      Kara Mustafa entscheidet sich in diesen frühen Morgenstunden des 12. September 1683 für Angriff als die beste Verteidigung. Seine bewährtesten Truppen greifen den Flügel des Entsatzheeres unterhalb des heutigen Leopoldsbergs an. Die Sachsen und Österreicher müssen den Ansturm abwehren. Es kommt zu heftigen Straßenkämpfen in Nußdorf. Am Vormittag ist der türkische Angriff gescheitert und in der Mitte rücken die Bayern, Franken, Schwaben und Salzburger zügig gegen Neustift vor. Das polnische Heer, ganz am rechten Flügel aufgestellt, bleibt unsichtbar. König Jan Sobieski muss mit seinen Soldaten wieder den weitesten Weg zurücklegen, er verspätet sich. Der Vormarsch des kaiserlichen linken Flügels gerät ins Stocken. Die Soldaten sind erschöpft, es ist heiß. Die österreichischen Offiziere überlegen, erst mal eine Mittagspause einzulegen – nicht mit einem Preußen. Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz drängt vorwärts: »Es wäre anjetzo nicht Zeit, dergleichen vorzunehmen, sondern vielmehr zu fechten!« Die Mittagspause ist abgesagt, die Regimenter bewegen sich dennoch kaum vorwärts. Das Eingreifen der Polen wird abgewartet. Erst am frühen Nachmittag taucht Sobieskis Armee bei Dornbach und Pötzleinsdorf auf. Die berittenen Husaren geben ihren Rössern die Sporen. Die Bären- und Pantherfelle über ihren Schultern flattern im Wind. Auf den Brustpanzern sind mit Schwanenfedern beklebte bewegliche Flügel angebracht. So donnert die Masse die Hügel herab und wird von den in den Weinbergen gut getarnten Türken zum Stehen gebracht. Erst vier sächsische Bataillone können in geschlossener Formation den Gallitzinberg besetzen und die Janitscharen ins freie Gelände treiben. Dort hat die türkische Elitetruppe gegen den Angriff der polnischen Reiterei keine Chance. Der Rückzug, die Flucht beginnt. Immer mehr Einheiten des osmanischen Heeres flüchten zu ihren Zelten, raffen Beute zusammen, packen sie auf Wagen, Pferde und Kamele und ziehen gegen Osten ab. Kara Mustafa gibt keine Befehle mehr. Er verlässt überstürzt sein Lager, die polnischen Reiter erstürmen das türkische Hauptquartier. Die Schlacht ist geschlagen. Vor den Mauern und Bastionen geraten etwa zehntausend türkische Belagerer in eine tödliche Falle. Vor ihnen das kaiserliche Heer. Im Rücken die Verteidiger der Stadt, die nun einen Ausfall wagen. Ein Gemetzel.

      An diesem Tag sterben zwischen 15 000 und 30 000 osmanische Soldaten. Die Verlustziffern sind höchst unpräzise. Das kaiserliche Heer hat einen vergleichsweise unblutigen Sieg errungen. Auf dem Schlachtfeld


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