Gespräch unter zwei Augen. Werner Schneyder
Ich wusste aber, der Schritt in diese Karriere ohne sofortigen lebenslänglichen Vertrag an der Wiener Staatsoper mit Rollengarantien hätte eine familiäre Katastrophe, eine mehr, zur Folge gehabt. Ich war von den anderen schon viel zu entnervt, um mich ihr zu stellen. Ich hatte nicht die Kraft, zu sagen: Ich singe. Ich hatte nicht den Mut, zuzugeben, ein Verkommener zu sein.
Aus Angst vor den Eltern warst du zu feig.
Ja. Einmal hab ich bei der Einstudierung der H-Moll-Messe von Bruckner mitgeprobt. Da habe ich im »Kyrie eleison« ein H gedonnert, dass alle erschrocken sind.
Du bist erschrocken. Du wusstest ja nicht, dass du diese Höhe hast.
Die Entscheidung fiel nach dem Studienbeginn in Wien. Ich überlegte, ob ich, ohne Wissen der Eltern, versuchen sollte, an einen Gesangslehrer heranzukommen. Ich war wieder zu feig.
Ist ja nicht wahr. Du hast realisiert, wie lang du bist, und hast dir gesagt, es hat keinen Sinn, den Rodolfo, den Hoffmann, den José kann kein Mensch singen, der so aussieht wie du. Dich würden sie ins Wagner-Fach stecken, und an diesem Gesang hast du keinen Bedarf.
Damit hatte sich die Idee erledigt.
Trotzdem hast du, wo immer es sich ergeben hat, die Stimme heraushängen lassen. Vor allem beim Heurigen.
Und da gab’s schon im ersten Wiener Herbst ein wichtiges Erlebnis.
Beim Heurigen. Das führt eher in die tenorale Ebene.
Nein, allgemein in die existenzielle. Wir gingen zu einem Heurigen, der dann lange mein Stammheuriger blieb, bis die Witwe aufgab. Dort spielten zwei ganz gute Musiker. Der Akkordeonist, ein lustiger Geselle, konnte fehlerfrei die »Zwei Märchenaugen« aus der »Zirkusprinzessin« von Emmerich Kálmán spielen. Der Gitarrist konnte es fast. Ich – schon weinmäßig gelockert – sang das sofort. Mit dem Ergebnis, dass vom Nebentisch vier Viertel Wein für uns geordert wurden.
Du hast gewusst, wenn alle Stricke reißen …
… mir kann nie was passieren. Ganz bin ich den Tenor nicht losgeworden. Da war zum Beispiel in München die Veranstaltung einer Zeitung, die alljährlich »Sterne des Jahres« verliehen hat. Da war ich als ehemaliger Sternträger eingeladen.
Du hattest ihn als Kabarettist.
Ja. Aber damals bekam ihn ein junger Sopran von der Nürnberger Oper. Und wie sich’s eben ergibt, geht nach Mitternacht ein Kapellmeister zum Klavier, sie fängt an mit Operette und ich steig ein. Danach hat sie mich gefragt: »Wo haben Sie studiert?« Hab ich wahrheitsgemäß gesagt: »Singen keine Stunde. Wieso fragen Sie?«
Eitle Sau. Du wolltest dir was abholen?
Sowieso. »Sie können, was manche in drei Jahren nicht erlernen«, hat sie gesagt.
Ich weiß, was sie gemeint hat. »Voce mista« oder »Voix mixte«, Kopfstimme und Bruststimme zugleich. Angeboren. Kein Verdienst.
Angeboren glaube ich nicht. Ich bin etwa sechs Jahre lang in jede Musikproduktion des Stadttheaters Klagenfurt gegangen, in fast alle mehrfach, ich habe jeden Sänger oft gehört und imitiert, kannte alle beim Namen, auch die Sängerinnen. Ich kann dir alle Namen heute noch nennen …
Du hast auch bei einer neuen Intendanz immer gierig zum Prospekt gegriffen, weil du wissen wolltest, wie der neue Operettentenor oder die neue Soubrette heißen.
Und ich war selig, wenn ich später irgendwo las, dass diese Leute danach auch noch woanders, womöglich an größeren Häusern, gesungen haben.
Jetzt lassen wir den Tenor, sonst erzählst du noch einige Bemerkungen von Fachleuten über die Stimme, die du vielleicht gehabt hättest.
Eine Schlagerstimme habe ich gehabt. Das habe ich, nachdem ich in einem Schihotel »entdeckt« wurde, in drittklassigen Lokalen – selbst in Istanbul – bewiesen.
Du hast ein unfassbares Repertoire gehabt. Ich glaube der Tiefpunkt war eine Nummer, die so ging: »Südamerika singt, Südamerika tanzt, den Mambo Bolero. Und bei dieser Musik findet jeder sein Glück. Amore, amor.«
Das habe ich gesungen.
Das hast du gesungen.
Das Quartett wollte das spielen, ich war der Sänger, also habe ich …
Jetzt rede dich nicht heraus. Das konntest du vor dir nicht verantworten.
Ich habe auch eine Reihe amerikanischer Standards gesungen.
Drei.
Eine Nummer auf Italienisch, das war eine große Überraschung, denn das Lied kennt man original nur auf Französisch, »J’attendrai«, und »Bésame mucho« auf Spanisch.
Da hast du aber jeden Abend gebetet, dass kein Spanier im Lokal ist, denn der hätte dich verprügelt.
Die Person, die mir den Text vermittelt hatte, konnte den Mittelteil nicht ganz auswendig. Da habe ich ein bisschen Lautmalerei betrieben. Das gebe ich schon zu.
Du, der Perfektionist.
Hör dir einmal an, was in Wien, in der berühmten Eden-Bar, ein ausgezeichneter italienischer Entertainer als englischen Text von »I’ve Got You Under My Skin« von sich gibt. Dagegen war mein »Bésame mucho« …
Irgendwie strahlst du immer noch, wenn du über dieses Repertoire sprichst.
Zu einem runden Geburtstag meines Freundes Konstantin Wecker haben ihm ein paar Kollegen ein Ständchen gebracht. Ich auch. Und ich habe, weil er das von mir nicht kannte, ein kleines amerikanisches Swing-Medley gesungen. Da hat er dann nachher gesagt: »Eigentlich wolltest du das werden, aber dann ist dir dein Intellekt dazwischengekommen.«
Er hat recht.
Ich war gut. Aber es gab eine große Irritation.
Gerhard Bronner.
Der betrieb eine Bar, »Fledermaus«. Dort spielte und sang Georg Kreisler, solange sich diese beiden Größen des »Brettls« noch verstanden…
Da hat die Marianne Mendt begonnen …
… und beim Bronner haben immer erstklassige Tanzmusiker gespielt.
Andere hätte der wohl auch nicht ertragen.
Ich hab mir eines Tages gedacht, ich sing ihm vor. Das war ganz unkompliziert. Wir gingen ins Hinterzimmer der Bar, dort stand ein Klavier. Er sagte: »Was wollen Sie singen?« Ich hab gesagt: »September in the Rain.« Er sagte: »Welche Tonart?« Ich sagte: »C«.
Weil du in dieser Zeit selbst immer noch nur in C gespielt hast.
Er spielte. Ich sang. Übrigens den schwachen deutschen Text. Wo sich, wenn »Paris« kommt, das Reimwort »süß« nie vermeiden lässt. Wie wir fertig waren, sagte er ganz ruhig: »Das klingt sehr gut. Aber von Ihnen erwartet man sich was Lustiges.«
Wie gescheit.
Hab ich mir, als alles ganz anders weitergegangen war, oft gedacht.
Das Schlagersingen wurde zum Hobby. Zur Gelegenheitssünde.
Wie das Eisessen. – Mit dem alten Bronner bin ich in der legendären Broadway-Bar oft zusammengesessen. Dort spielte er fast immer, wenn er da war …
… das war täglich …
… auch Klavier. Er wartete darauf, dass man ihn bat. Wenn das nicht der Fall war, setzte er sich von selbst an den Flügel. Eines Abends spielte er das Wiener Lied »Es steht ein alter Nussbaum«. Ich sang. Von dem Tag an sagte er immer: »Wir haben doch eine Nummer miteinander?« Wie ich ihm dann sagte, welche, ging er sofort zum Klavier.
Du konntest ja viele Wienerlieder.
Was heißt »konntest«?
Du hast ja damit auch Geld verdient. Mit einem Programm, »Poesie und Wein«.
Eine Kombination von Weinlyrik, vom alten Rom bis zur Gegenwart, und Wiener Weinliedern. Das hab ich, begleitet vom auch nicht mehr existenten Diabelli-Trio, oft in Deutschland gespielt.
Du