Gespräch unter zwei Augen. Werner Schneyder
Das hast du beschrieben. In »Von einem, der auszog, politisch zu werden«.
So ist es. Über die Keime des politischen Erwachsenwerdens brauchen wir nicht mehr zu reden.
Über die soziologischen schon. Denn in dieser Wohnung wohnten ja fünf Personen: die Eltern, zwei Kinder und eine Großmutter. Du hast die Raumaufteilung genannt. Wo wohnte die Großmutter?
In der Kammer hinter der Küche.
Ärmlich.
Arm. Zu Zeiten, als es eine Hausgehilfin gab, wohnte die in der Kammer.
Und wo die Großmutter?
Ich kann mich erinnern, dass sie auch bei uns im Kinderzimmer geschlafen hat.
Es kristallisiert sich heraus, dass deine Eltern sich zur Großmutter mütterlicherseits benommen haben wie die …
Sprich’s nicht aus.
Speisezimmer und Wohnzimmer, oft Wochen nicht genützt, dienten der Repräsentation. Die Großmutter, die du in deinem Bekanntenkreis berühmt gemacht hast …
… ja, den Namen Anna Berzkowitsch kennt man bis in die Kreise der Meisterköche …
… der Haushaltsvorstand, die wichtigste Person dieser Familie, wurde gehalten wie eine Magd, eine Magd in den Zeiten, als die noch keine Ansprüche zu stellen hatte. Warum hast du dich nie vor deine Eltern hingestellt und gesagt: Das geht nicht, die Oma braucht ein Zimmer!?
Das frage ich mich heute noch in Träumen. Das lastet auf mir, da machst du dir keine Vorstellung.
Die Eltern hatten für Statussymbole, für später einmal übereinanderliegende »Perserteppiche«, die Würde einer sehr früh alten Frau geopfert.
Die musste auch noch zittern, ob der Vater, der was vom Essen verstand, das immer meisterlich Gekochte auch goutierte.
Sie waren Kleinbürger, die Großbürger mimten. Koste es, wen es wolle.
Das gehört zum Wesen des Bürgertums …
… so wie es die Eltern verstanden haben. Es könnte ja auch ein anderes geben …
Ich habe nur das eine kennengelernt, und das definierte sich durch einen Satz: »Was werden die Leute sagen?«
Und wenn du rückgefragt hast: » Welche Leute?«
Haben sie die Frage nicht begriffen.
Entscheidend in diesem Zusammenhang war ja auch die immer wiederkehrende Frage, mit wem man verkehren kann und mit wem nicht.
Da waren die Eltern flexibel. Die hatten die Gewohnheit, sich zyklisch mit den Hausbesitzern, Hausbesorgern und Mitmietern zu zerstreiten. Ich habe nie begriffen, warum.
Aber du durftest eine Zeit lang den oder die nicht grüßen. Nicht einmal den Sohn der Klavierlehrerin über uns.
Deshalb war ich sehr oft allein.
Zu oft, wie man heute weiß.
Gespräch über den Tormann
Du erzählst gerne den Leuten, dass du Tormann warst.
War ich ja.
Du hast im Tor gespielt. Aber die Laufbahn ist nicht hinreichend für die Behauptung: »Ich war Tormann.«
Wenn man weiß, dass diese Tätigkeit an meiner gesamten psychischen Konstitution wesentlich, sehr wesentlich beteiligt ist, dann muss man das einsehen.
Gut, du hast schon als Kind beschlossen, Tormann zu werden.
Diesem Entschluss lagen aber Erfahrungen zugrunde. Mein Vater nahm mich mit etwa vier auf den Fußballplatz mit. Zu einem Ort, den ich angeblich als »Fuffatz« bezeichnete.
Du konntest lange nicht ordentlich sprechen.
Das aber unaufhörlich, wie mir oft erzählt wurde. – Also, auf diesem Fußballplatz sah ich erstmals die zwei bunt gekleideten Mannschaften auf einer annähernd, wenigstens an den Rändern grünen Wiese, sah dieses damals noch weiß lackierte Holzgestänge mit dem Netz und davor einen Spieler, der erstens eine besondere Verantwortung hatte, zweitens eine von den anderen unterscheidbare, eigene Dress. Schon beim Nachhausegehen wusste ich: So einer muss ich werden.
Das ist aufgelegt für Psychologen. Du bist im Begriff, dich auszuliefern.
Du solltest ermessen können, welches Vergnügen mir das macht, zumal es ja noch viel schlimmer kommt.
Du hast dich als Tormann angezogen.
Vor dem Schlafzimmerspiegel der Eltern. Ich bat die Großmutter, den Vorderschlitz einer weißen Unterhose zuzunähen, sodass sie wie eine Sporthose aussah, zog irgendeinen schwarzen Pulli an, wohl einen meiner Schwester, versuchte Schuhe so zuzubinden, wie ich sie bei den Spielern gesehen hatte, betrachtete mich und träumte mich in Tore von rot und blau gekleideten Mannschaften.
Du warst als Kind also leicht irr.
Du kannst das »leicht« ruhig weglassen. Ich erinnere mich genau, wie ich mit etwas sechs den abgerissenen Teufelskopf eines Kasperltheaters gegen die Wand schmiss, um ihn nach dem Abprallen zu fangen. Ich warf ihn schräg links und rechts vom Körper weg und begann mich – wie gesehen – nach ihm zu werfen. Ball hatte ich keinen.
Den ersten richtigen Fußball hast du erst mit elf bekommen.
Ja. Und ich habe ihn beim Einschlafen umarmt und erst am Morgen ausgelassen. Bis dahin hatte ich selbst nur den einen oder anderen Gummiball.
Mit dem hast du auch – sagen wir – trainiert.
Und wie! Ich habe mich nach dem Wurf gegen die Wand um die Achse gedreht, bevor ich ihn fing. Oder drei Mal in die Hand geklatscht. Ich muss das im Turnunterricht mitbekommen haben. Von selbst kann man ja da nicht draufkommen.
Dein Vater war doch Fußballer gewesen.
Hat er behauptet. Das ging bis zur Rechtsaußenposition einmal in einer Wiener Liga-Auswahl. Später haben einige Versuche, auf der Wiese einen Elfmeter zu schießen, das in keiner Weise bestätigt. Ein Meniskusschaden, von dem eine riesige Narbe zeugte, war seiner Auskunft nach an seiner Hilflosigkeit schuld. Aber wir eilen der Geschichte voraus.
Du hast in der Volksschule beim Spiel 1. Klasse A gegen 1. Klasse B zum ersten Mal im Tor gestanden.
Auf dem Turnplatz. Natürlich ohne Dressen. Da kam ein einziger Schuss auf mein Tor, und der war drinnen. Aber es hatte sich um meine erste ernste Begegnung mit einem Lederfußball gehandelt.
Der Schuss war sicher haltbar.
Anzunehmen.
Warum haben sie dich ins Tor gestellt?
Weil ich in dieser Zeit schon zu erzählen begann, welch großartiger Torwart ich wäre. Ich schilderte, wie mein Vater – ein großartiger Ex-Fußballspieler – mir in unserem Garten scharf einschoss und ich die unwahrscheinlichsten Bälle hielt.
Das stimmte nicht.
Keine Silbe. Mein Vater hat mit meiner – sagen wir – Tormannwerdung keine Sekunde zu tun gehabt.
Außer der Initialzündung: Besuch eines Fußballspieles.
So ist es. Also, dass ich ein Tormann war, war in Kreisen der Gleichaltrigen durchgesetzt. Jetzt ging es nur mehr um das permanente Beweisen. Von Frühling bis zum ersten Schneefall kamen wir, ich meine die Kicker, von der Schule nach Hause, stopften das Essen hinein und trafen uns mit einem Ball auf einer – heute längst gesperrten – Wiese. So gut wie jeden Tag. Es war unvermeidlich, Fertigkeiten auszubilden. Im Sommer, im Strandbad, wurde auch täglich auf Kleintore gespielt.
Du wolltest zu einem Verein.
Das war nicht einfach. Meine Mutter fürchtete um das Ansehen der Familie, denn Fußball war für sie ein »Proletensport«. Mit der von ihr angestrebten Außendarstellung der Familie Schneyder war das nicht kompatibel. Ich erinnere mich, dass ich später einmal, um