Unendlich funkenhell. Frau Michelle Schrenk
dem Altenheim weggelaufen oder so. »Sir, wissen Sie, wo Sie wohnen?«, frage ich ihn deshalb.
Er lächelt und schüttelt ganz leicht den Kopf. »Dass du mich das fragst … Das weißt du doch.«
Das ist der Moment, in dem mir endgültig klar wird, dass ich ihn nicht allein lassen darf. »Wollen Sie vielleicht auch ein Eis?«
Er beginnt zu strahlen. »Ja, sehr gern. Aber warum siezt du mich eigentlich?«
Ohne weiter darauf einzugehen, beschließe ich, ihn mit zu Jill zu nehmen.
»Was ist denn los?«, raunt sie mir zu, als ich mich zusammen mit ihm wieder in die Schlange einreihe.
»Tut mir leid. Der Mann ist echt total verwirrt und ganz allein. Er nennt mich Caroline und sucht nach irgendeinem Anhänger. Wenn wir unser Eis gegessen haben, bringen wir ihn zur Polizei. Sicher wird er schon von jemandem vermisst«, flüstere ich und Jill will gerade was sagen, als auf einmal neben uns eine junge Frau auftaucht, die sichtlich außer Atem ist. Sie trägt Sneakers und eine kurze helle Hose, und ihre hellbraunen Locken kringeln sich ungebändigt um ihr Gesicht. »Gott sei Dank, Grandpa! Was machst du denn hier? Du sollst doch nicht einfach abhauen.« Vor Erschöpfung lässt sie den Oberkörper nach vorn fallen und stützt ihre Hände auf den Knien ab.
»Wieso denn abhauen? Ich bin mit Caroline unterwegs. Wir wollten nur ein Eis essen und dann weiter nach dem Anhänger suchen. Ich habe ihn doch verloren.«
Die Frau sieht zwischen Jill und mir hin und her, dabei atmet sie erneut tief durch und seufzt. Es sieht so aus, als würde sie nicht zum ersten Mal in dieser Situation stecken. »Das tut mir so leid, Mädels. Ich hoffe, er hat euch nicht allzu sehr belästigt.« Sie beugt sich ein wenig nach vorn und spricht nun merklich leiser weiter. »Er ist krank, wisst ihr. Und es war mein Fehler, ich hätte ihn nicht aus den Augen lassen dürfen. Aber es war so viel los heute. Ich war am Aufräumen und habe vergessen, die Tür abzuschließen, als ich die letzte Kiste hereingetragen hatte.« Sie winkt ab. »Jetzt quatsche ich euch auch noch voll.«
Ich lächle ihr zu. »Schon okay. Er hat uns nicht belästigt. Ich bin ja zu ihm hingegangen, ich dachte, er sucht etwas.«
»Ach, in letzter Zeit sucht er immer etwas. Oder er erzählt von Leuten, die nicht älter werden, und andere merkwürdige Geschichten. Ich denke, es liegt daran, dass er ein leidenschaftlicher Antiquitäten- und Buchhändler war. Bestimmt vermischt er deswegen immer Fiktion und Wirklichkeit. Neulich hat er eine Frau für Wendy aus Peter Pan gehalten. Und dieser Anhänger, er war schon regelrecht wütend deswegen. Ich habe keine Ahnung, was für einen Anhänger er meint. Aber ich will euch damit nicht nerven. Jetzt rede ich schon wieder so viel.« Sie streckt uns die Hand entgegen. »Ich bin übrigens Sally Bookbloom – vielleicht habt ihr Bookbloom’s, den kleinen Laden am Ende der Straße mit den grünen Verzierungen an der Fassade, schon mal gesehen. Früher hieß er Barney’s nach meinem Grandpa.« Sie deutet auf den Mann. »Doch jetzt gehört er mir. Also, falls ihr mal auf der Suche nach außergewöhnlichen Geschenken, Büchern, Kunst- oder Zeichenutensilien seid, kommt gern vorbei. Etwas chaotisch ist es zwar bei uns noch, weil wir erst seit gut acht Wochen hier und noch am Herumräumen sind, aber das wird.«
Ich mag Sally mit ihrer offenen Art. Sie wirkt wirklich nett. »Das machen wir gern«, sage ich, »vielen Dank.«
»Komm, Grandpa, wir gehen, ja? Ich helfe dir zu Hause wieder beim Suchen. Ich glaube, ich habe ihn in einem der Regale gesehen.« Sie verabschiedet sich von uns, dann greift sie ihren Großvater am Ellbogen und zieht ihn mit sich, während er noch ein bisschen deswegen meckert, dass er jetzt kein Eis bekommt.
Mittlerweile sind wir endlich an der Reihe, und ich hoffe echt, dass sich das lange Warten gelohnt hat. Zumindest sieht alles ziemlich gut aus. Jill bestellt einen Becher Eis, und ich entscheide mich dann doch für einen gefüllten Muffin, der, laut der Bloggerin, der Knaller sein soll.
Auf einer Bank in der Nähe lassen wir uns schließlich nieder. Schon der erste Bissen schmeckt himmlisch.
»Mmh«, schwärmt Jill, während sie sich einen Löffel Karamelleis in den Mund schiebt. »Das ist richtig gut, oder? Also, KassiLondon hat echt nicht übertrieben mit ihren Tipps, das muss man sagen. Du musst ihr unbedingt auch folgen. Okay, die Wartezeit war jetzt nicht so toll, aber wenigstens hat es sich gelohnt.«
Eine Weile sagt keine von uns etwas, weil wir mit unseren Leckereien beschäftigt sind.
»Verflucht gut«, seufzt Jill nur irgendwann und ich denke bei dem Wort verflucht an den alten Mann und das, was er gesagt hat. Ob er es merkt, dass er nicht mehr in der Lage ist, alles richtig zu unterscheiden, und auf andere etwas verrückt wirkt? Aber das muss ich gerade sagen: Wie wirke ich wohl auf Jill mit den Bildern, die ich sehe und auf Papier festhalte?
Es liegt mir auf der Zunge, aber ich beschieße, heute mal nichts darüber zu sagen. Dies sollte schließlich eine Ablenkung sein.
Als wir fertig sind, reden wir noch ein bisschen über die Schule, über das anstehende Wochenende und machen uns dann auf den Weg zur U-Bahn.
Jill hat eine Nachricht von ihrem Dad bekommen, dass sie noch auf einen Geburtstag gehen und sie nicht trödeln soll – und ich habe auch nichts dagegen, mich daheim etwas auszuruhen. Wir sind schon fast bei der U-Bahn, als wir an einem Laden vorbeikommen, der mir gleich ins Auge sticht. Bookbloom’s steht auf dem Schild über der Tür. Sofort fallen mir der alte Mann und seine Enkelin wieder ein. Ob die beiden gut nach Hause gekommen sind?
»Das müsste das Geschäft sein, von dem die Frau vorhin gesprochen hat, oder?«, frage ich.
Jill lässt ihre Augen ebenfalls über das Ladenschild wandern und nickt.
»Was meinst du? Wollen wir kurz reingehen?«
»Sorry, ich muss doch los. Aber geh du doch ruhig noch rein!«
»Okay, nur ein bisschen stöbern.«
Wir umarmen uns, bevor sich Jill in Richtung U-Bahn verabschiedet und ich die Ladentür öffne. Wie bei den meisten Läden in London erklingt ein helles Glöckchen über meinem Kopf, und mir schlägt ein Duft entgegen, den ich liebe. Der Duft nach Papier und alter Zeit. Es ist beinahe, als würde das Geschäft Tausende von Erinnerungen in sich tragen. Sofort fühle ich mich hier wohl – mehr als das.
Kurz sehe ich mich um, doch dann tritt schon die Frau von vorhin hinter die Ladentheke, Sally.
Sie lächelt mich an. »Oh, hallo, so schnell sieht man sich wieder.«
Ich nicke. »Ja. Ich dachte, ich schau mal rein.«
»Und deine Freundin? Hatte sie Angst vor meinem Grandpa?«
Sie verzieht das Gesicht und ich muss lachen. »Nein, sie hatte nur schon was vor.«
»Gut. Brauchst du was Bestimmtes oder willst du dich einfach mal umsehen?«
Ich winke ab. »Ich sehe mich nur ein bisschen um, wenn das recht ist. Habt ihr Zeichenstifte?«
»Klar, einfach dort nach hinten gehen, da sind sie irgendwo.« Sally deutet in Richtung einer Regalreihe, vor der einige Kartons stehen, und grinst.
»Irgendwo klingt gut.«
»Ja, es ist wie gesagt noch etwas chaotisch, aber am Ende des Ganges müsstest du welche finden. Kurz bevor der Bereich mit den alten Büchern beginnt, haben wir alles Mögliche an Kunstbedarf: Zeichenstifte, Leinwände, Pergament …«
»Super, dann schaue ich dort mal.«
»Mach das. Ich muss noch mal kurz in den Keller, ein paar Kartons verstauen. Nachdem Grandpa ausgebüxt ist, komme ich erst jetzt dazu, jetzt schläft er, es war echt aufregend für ihn«, sagt sie und verschwindet durch eine Tür, vor der ein roter Samtvorhang hängt.
Ich hingegen schlendere in den hinteren Teil des Ladens und muss zugeben, dass ich es hier sehr schön finde. Es ist beinahe wie eine große Fundgrube – zwar wirklich etwas chaotisch, wie Sally gesagt hat, und vieles steht herum, ohne dass dahinter ein System zu erkennen ist, trotzdem hat es seinen Charme. Mit