Unendlich funkenhell. Frau Michelle Schrenk
und Stiften bleibe ich stehen. Ich bin ganz überrascht von der großen Auswahl und mustere alles andächtig. Es gibt Stifte von Milon, einer guten Marke, von der ich allerdings nur träumen kann. Da ich mir nicht annähernd etwas davon leisten kann, genieße ich es, mich einfach nur umzusehen und all die Eindrücke in mich aufzunehmen.
Ich gehe einen Gang weiter, in dem sich auch ein paar gemütliche Sitzgelegenheiten befinden, und lasse meinen Blick über die vielen Regale mit Büchern wandern. Es gibt alte Bücher, so wie Sally gesagt hat, und auch neue, die auf einem Tisch ausgestellt sind. Wunderhübsche bunte Cover leuchten mir entgegen.
Schließlich finde ich eine alte Ausgabe von Oliver Twist. Die Seiten sind schon vergilbt, und ich lasse das dünne Papier durch meine Finger wandern. Eine Weile sehe ich das Buch noch an, doch dann entdecke ich ein anderes, das mich interessiert. Es hat einen schwarzen Ledereinband und wirkt irgendwie faszinierend und geheimnisvoll, was vielleicht an den verschlungenen goldenen Verzierungen auf dem Rand liegt.
Gerade will ich danach greifen, als ich ein kurzes, dumpfes Geräusch höre und gleich darauf auf dem Boden einen Stift entdecke, der in meine Richtung rollt. Ich bücke mich danach, sehe um die Ecke, weil ich wissen will, wo der Stift herkommt, und zucke heftig zusammen. Denn da sitzt Louis in einem der Sessel. Sofort beginnt es wieder, in meinem Magen zu kribbeln. Das Geräusch kam wohl von dem Buch, das jetzt am Boden liegt.
Das Bildniss des Dorian Gray – Oscar Wilde. Ich sehe zum Buch und wieder zu Louis. Was macht er denn hier?
Mit geschlossenen Augen sitzt er da, den Kopf schief gelegt, vor sich auf dem Schoß ein weiteres Buch. Die schwarzen Haare hängen ihm in die Stirn. Zuerst vermute ich, dass er schläft, aber dann sehe ich, dass er Kopfhörer im Ohr hat. Wobei ich dennoch nicht ausschließen kann, dass er eingeschlafen ist. Ich stehe wie festgewachsen da, und wieder schaffe ich es nicht, die Augen von ihm abzuwenden. Die Ärmel des hellen Hemdes, das zur Schuluniform gehört, hat er hochgekrempelt, und ich kann deutlich erkennen, wie schön seine Unterarme sind. Ich versuche krampfhaft, meine Augen abzuwenden, doch es gelingt mir nicht so ohne Weiteres.
Als ich einen Blick auf das Buch in seinem Schoß werfe, entdecke ich darin ein Bild, das Louis anscheinend unter einen Text gezeichnet hat und das ein Paar zeigt. Ich kann es nicht deutlich erkennen, aber das Motiv kommt mir irgendwie bekannt vor. Unsinn, ermahne ich mich, aber meine Neugier lässt mich noch etwas näher herangehen. Als Louis plötzlich tief einatmet, trete ich jedoch rasch wieder zurück.
Was mache ich da? Mich geht es schließlich nichts an, was er in das Buch geschrieben oder gezeichnet hat. Ich sollte mich lieber umdrehen und gehen, bevor er mich noch entdeckt. Aber ich kann nicht anders, ich beuge mich weiter vor, um noch mehr von dem Bild zu sehen, was mir schließlich auch gelingt. Es zeigt ein Paar auf einer Wiese umgeben von Rosen. Mein Puls schießt in die Höhe. Ich bin mir ganz sicher, dass es dem Bild, das ich schon mal gezeichnet habe, ähnelt, nur ist das Motiv aus einer anderen Perspektive dargestellt.
Während ich mich kopfschüttelnd frage, ob ich mir das wohl auch nur einbilde, gelingt es mir, einen weiteren Blick auf das Buch zu erhaschen. Louis hat darin wohl auch Briefe gesammelt und noch andere Bilder, die ich allerdings nicht erkennen kann. Kann es sein, dass es eine Art Tagebuch ist? Ein Buch zur Recherche? Oder ein Sammelbuch? Ich versuche, etwas von dem Text zu entziffern. Nicht bestätigt, muss geprüft werden, steht da.
Doch plötzlich geht alles ganz schnell. Louis bewegt sich, das Buch fällt zu Boden, ich stolpere in meiner ganzen Panik nach vorn und falle – natürlich – auf ihn drauf. Er öffnet die Augen, sein Blick trifft meinen. Es ist eine Sekunde, mehr nicht. Aber in genau dieser Sekunde sind wir uns plötzlich sehr nah. Als ich registriere, wie nah, will ich mich rasch aufrichten und greife an seinen Oberschenkel – leider etwas zu weit oben. Er verzieht das Gesicht, und mir schießt sofort die Röte auf die Wangen, nachdem mir klar wird, wo sich meine Hände gerade befinden.
»Oh Gott, tut mir leid«, stammle ich und will aufstehen, doch er hält mich an der Taille fest.
»Du schon wieder.« Seine Augen fixieren mich eindringlich, während ich auf seinem Schoß kauere und mein Herz zu rasen beginnt. »Suchst du was Bestimmtes?«
»Nein.« Ich schlucke und kann die Hitze, die ich gerade spüre, nicht leugnen.
Kurz sehen wir uns noch an, seine Finger noch spürbar an meiner Taille schicken ein Kribbeln durch meinen Körper. Ich muss aufstehen, denke ich, dann löse ich mich aus seinem Griff. Schnell, ich sollte mich ablenken. Ich will ihm helfen, das Buch aufzuheben, aber er schiebt mich weg, bückt sich nach dem Buch und klappt es hastig zu. Trotzdem kann ich noch die Jahreszahl auf dem Bild erkennen: 1887.
Der Stift, der mir bei meinem Sturz aus der Hand geglitten ist, liegt noch immer am Boden. Ich hebe ihn auf und halte ihn Louis entgegen. »Ääh, hier, ich glaube, der gehört dir auch und das Buch von Oscar Wilde«, sage ich, weil mir nichts anderes einfällt und die Situation mehr als unangenehm ist.
Er zieht eine Augenbraue nach oben. »Was machst du eigentlich hier? Verfolgst du mich?«
»Was? Nein, warum sollte ich? Und woher soll ich denn wissen, dass du hier sitzt und vor dich hin schläfst?«
Er packt das Buch in seine Tasche, dann kommt er auf mich zu. Als er nach dem Stift greift und unsere Fingerspitzen sich erneut kurz berühren, passiert es wieder. Wieder ist da dieser kurze, aber spürbare Schlag sowie ein Licht, gefolgt von Bilderfetzen, die mit einem Mal so greifbar sind und durch den Raum zu schweben scheinen. Sie zeigen einen jungen Mann und eine junge Frau, die aus einem brennenden Gebäude flüchten. Es ist so real, dass ich beinahe schon die Hitze spüre.
Ich reiße mich los, aber das Kribbeln ist noch immer da. »Das ist so heftig«, murmle ich. Es rutscht mir einfach so heraus, und ich bereue es auch sofort.
Er sieht mich merkwürdig an. »Ja, das ist allerdings heftig.«
Er macht noch einen Schritt auf mich zu und ist mir nun wieder so nah, dass mein ganzer Körper unter Strom zu stehen scheint. Ich weiß nicht, ob es vor Aufregung ist, weil Louis so dicht vor mir steht, oder weil er mich so ansieht und ich seinen Duft erneut in der Nase habe, diese Mischung aus Zedernholz und frischer Wäsche. Er riecht gut. Mist.
»Ich frag mich, warum«, meint er.
»Warum, was?«
»Warum du mich beobachtest. Die ganze Woche schon.«
»Was? Nehm dich mal nicht so wichtig. Das habe ich sicher nicht«, antworte ich bestimmt.
»Ach ja? Und wie nennst du das dann?«
»Das nenne ich einkaufen. Ich kann hier sein, solange ich will. Oder gehört dir der Laden etwa?«
Er blickt an mir vorbei und beginnt zu schmunzeln.
Bevor ich noch etwas entgegnen kann, taucht Sally hinter uns auf. »Alles okay hier? Belästigst du etwa unsere Kundin, Louis?«
Unsere Kundin? Sie kennt ihn? Gehört er etwa tatsächlich zum Laden?
»Nein, das tue ich nicht«, entgegnet er mit ziemlich finsterer Miene.
Doch Sally scheint ihm das nicht abzunehmen. Sie mustert ihn skeptisch. »Das hoffe ich für dich. Reicht ja, dass Grandpa heute schon sein Unwesen mit der jungen Dame getrieben hat.« Sie sieht mich entschuldigend an. »Tut mir echt leid, mein Neffe ist ab und zu etwas mürrisch, vor allem wenn er aus dem Schlaf aufwacht, da ist er ein richtiger Sonnenschein.« Sie grinst, und ich grinse zurück.
»Ja, Sonnenschein trifft es gut«, bekräftige ich.
Louis’ Blick wird noch eisiger. »Ich habe nicht geschlafen.«
Sally tippt ihm an die Brust. »Hast du wohl. Oder warum bist du sonst so unfreundlich?«
»Es ist alles gut«, sage ich. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass Louis Ärger mit seiner Tante bekommt. »Er hat mich nicht belästigt, wirklich.«
Louis nickt. »Eben. Ich wurde eher von ihr belästigt. Und zwar unsittlich.«
Sallys Augen weiten sich,