Heilung als schöpferischer Prozess. Klaus-Dieter Platsch
IBN ‘ARABI spricht vom Schleier, der die Existenz Gottes verbirgt. Ein Schleier ist etwas, das verhindert, das Gesicht zu sehen. Insoweit als alles unter dem Himmel uns hindert, Gottes Gesicht zu sehen, ist es ein Schleier. Insoweit jedoch alles eine Manifestation der Existenz Gottes ist, ist jedes Ding auch identisch mit Seinem Gesicht. »Der Schleier ist die immer gegenwärtige Schranke zwischen Wesen und Existenz. Sie erinnert uns, dass inmitten unserer persönlichen Sicht auf das Göttliche immer auch ein verborgener transzendenter Aspekt liegt. Wir wissen mit Sicherheit, dass Neuschöpfung, die zu Gott gehört, mit jedem Atemzug des Kosmos geschieht.
›Würde, was verschleiert ist, den Augen offenbar,
Kein Glaube, kein Prinzip dann bliebe uns.
Nichts, was unbeständig, schiene auf,
Keine Krankheit, keine Heilmittel, keine Medizin,
keine Unsicherheit.‹«14
Auch wenn man nicht der mystischen Begründung folgen möchte, so haben sich auch Physiker mit diesem Phänomen »Alles wird jeden Moment neu erschaffen« auseinandergesetzt.
Der Physiker JULIAN BARBOUR thematisiert dies 1999 in dem Text The End of Time.15 und kommt zu dem folgenden Schluss: »Nach vielen Berichten sowohl aus der Mainstream-Wissenschaft als auch aus den Religionen hat das Universum entweder schon immer existiert oder es entstand in der fernen Vergangenheit – durch den Urknall. Warum jedoch nehmen wir an, dass das Universum eher in der Vergangenheit erschaffen wurde, als dass es jeden Moment, den wir erfahren, neu erschaffen würde? Keine zwei Momente sind identisch. Was wir in einem finden ist nicht genau dasselbe, das wir im anderen finden. Was also rechtfertigt es zu sagen, dass etwas in der Vergangenheit erschaffen wurde und seine Existenz eine Kontinuität bis in die Gegenwart hat?«16
Auf einer tiefen, existenziellen Ebene werden wir jeden Moment neu erschaffen – wie durch ein großes kosmisches Ein- und Ausatmen. Wie wir schon gesehen haben, tauscht sich unsere Körpermasse alle vierzehn Tage komplett aus und unsere Atome erneuern sich fast vollständig in Jahresfrist. Das ist inzwischen bereits weitgehend anerkanntes Wissen. Dieser unglaubliche, stete Austausch von Körpersubstanz ist eine Bewegung in Raum und Zeit. Auf der zeitlosen, vertikalen Achse des Lebens – der göttlichen Immanenz – werden wir jedoch auf einer viel essenzielleren Ebene jeden Moment neu erschaffen. Schöpfung ist jeden Moment neu – immer jetzt. So ist auch Heilung jeden Moment neu – immer jetzt.
Vergleichen wir das mit einem Film: Das Licht des Filmprojektors ist die Quelle, von der aus die Bilder des Films bzw. der Welt auf die Leinwand projiziert werden. Das Licht des Projektors bleibt immer dasselbe – unverändert, wie das gleißende Licht des kosmischen Ursprungs. Das Leben, die Welt, ist eine Projektion, die durch das Licht möglich wird. Der Film/das Leben besteht aus zahllosen Einzelbildern. In Wirklichkeit sehen wir immer nur ein Einzelbild als Neuschöpfung aus einem Raum »dazwischen«. So erscheint es auch im realen Leben, dass jeder Moment eine Neuschöpfung aus einem Raum »dazwischen« ist. Es ist allein unserem Gehirn geschuldet, dass wir die Folge der Einzelbilder als eine scheinbare Kontinuität erleben, also eine Story, die sich kontinuierlich von einer Vergangenheit über eine Gegenwart in eine Zukunft fortschreibt. Und auch im Film sind Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft implizit als Ganzes enthalten – sie werden erst zu Zeitabläufen, wenn wir den Film abspielen. Zeit existiert nicht in der impliziten Ordnung17 und ist auf der Ebene der eingefalteten Non-Dualität eine Illusion, wie EINSTEIN bereist nahegelegt hat.
Anders als im Film gibt es im richtigen Leben kein festgelegtes Drehbuch. Was im jeweiligen Augenblick erschaffen wird bzw. in Erscheinung tritt, hängt von zahllosen begleitenden Faktoren ab – unter anderem von unseren Erinnerungen und Glaubenssätzen.
WIE ERINNERUNGEN NEUSCHÖPFUNG VERHINDERN
WIR HALTEN UNSERE ERINNERUNGEN FÜR REALITÄT. Die wissenschaftliche Forschung belehrt uns da eines Besseren. Erinnerung ist nicht an einem Ort im Gehirn gespeichert, sondern verteilt an ganz unterschiedlichen Orten. Wir erinnern uns vor allem an Ereignisse, die uns stark emotional bewegt haben. So wissen zum Beispiel die meisten Menschen noch heute, wo genau sie am 11. September 2001 waren und was sie gerade gemacht haben, als sie die Nachricht erreichte, weil der Anschlag auf die Twin-Towers sie stark bewegt hat. Anderes, was uns nicht so berührt und wir eher banal finden, verschwindet dagegen schnell aus dem Gedächtnis. Das Gehirn ist ein wahrer Meister darin, die Gedächtnislücken, die unweigerlich da sind, durch »Ersatzfakten«, sprich reine Erfindungen, zu ergänzen. Die Ergänzungen gestalten sich entsprechend unseren Erwartungen und Überzeugungen.
»Die Erkenntnis der neueren Gedächtnisforschung zieht sich durch alle Bücher, Ted-Vorträge und Aufsätze von DAVID EAGLEMAN, JULIA SHAW und HANS J. MARKOWITCH: In unseren Erinnerungen verdrehen, vereinfachen und erfinden wir. Menschliche Gehirne halten Gelesenes, Gehörtes, Gewünschtes und von anderen Erlebtes für ihre eigene, präzise Erinnerung. Sie erinnern sich sogar an Vorfälle, die niemals geschehen sind.«18
Ohne Gedächtnis wäre alles Gegenwart und es gäbe kein Konzept vom Ich und keine Persönlichkeit. Wir sind also Erinnerung.
Je nach Bewertung unserer Vergangenheit oder der daraus resultierenden Einschätzung der Zukunft hat das Einfluss auf den jeweiligen Heilungsprozess. Denn jede Heilung hängt maßgeblich auch von unseren Glaubenssätzen und Einstellungen ab, davon, wie rhythmisch das Öffnen und Schließen19 möglich ist, davon, wie wir uns von krank machenden Überzeugungen lösen können, und vielem mehr.
Schöpfung ist immer jetzt. Uns für den Moment der Heilung offenzuhalten ist Kunst und Geschenk zugleich. Die Kunst liegt darin, zu erkennen und es mehr und mehr zu leben, dass die Vergangenheit nicht existiert, sondern ausschließlich ein Konzept in unseren Köpfen ist – noch dazu ein sehr fehlerhaftes, wie wir nun sehen können. Genauso verhält es sich mit der Zukunft. So gilt für beide, Vergangenheit und Zukunft:
Wer ich gerade vor einer Sekunde war, ist nicht mehr. Wer ich in einer Sekunde bin, existiert noch nicht. Was eben noch war, ist bereits zum Ursprung zurück, was erst noch kommt, ruht noch im Ursprung und ist noch nicht emergiert.
Jetzt – die einzige Realität
SO HEISST ES IM ALTEN WEISHEITSBUCH der Chinesen, im Dao De Jing, in Kapitel 16:
»Alle Wesen treten miteinander hervor,
und ich sehe sie wieder zurückgehen.
Wenn die Wesen sich entwickelt haben,
kehrt jedes zurück in seinen Ursprung.«
Die dynamischsten Heilungsprozesse sind möglich, wenn sich der erkrankte Mensch in der Gegenwart verorten kann, ohne an Vergangenem zu hängen und ohne Schatten auf die Zukunft zu projizieren.
2|WIEDERHERSTELLUNG DER URSPRÜNGLICHEN LEBENSBEWEGUNG
Es liegt in der Natur des Menschen, nach dem kostbaren Atem der Freiheit zu verlangen.«
Dalai Lama
ENERGIE UND FLIESSEN
DIE HORIZONTALE BEWEGUNG DES LEBENS geschieht in der Zeit, und was sich bewegt, ist Energie. Energie tritt hervor aus der Vertikalen, speist sich jeden Moment vom schöpferischen Impuls des Urgrunds und ist davon durchdrungen.
Alles unter dem Himmel entspricht diesem kosmischen Gesetz. Lernen wir, immer mehr das, was ist, als Energie wahrzunehmen, werden wir wach für das Prinzip des Lebens – tauchen darin ein.