Schlaf schön. Andrea Revers
Heinz? Das kann ich mir nicht vorstellen.« Ursula schüttelte ihre dünnen Locken. »Überhaupt, wenn was im Essen gewesen wäre, hätte das doch jemand mitbekommen.«
»Wieso? Wenn hier einer die Scheißerei hat, ist das doch nichts Besonderes«, dröhnte Horst.
Käthe räusperte sich indigniert. Sie schätzte die rustikalen Kommentare von Horst nicht, was dieser natürlich wusste und sich dementsprechend noch häufiger danebenbenahm, nur um sie zu schockieren. Das war ein kleines Spiel zwischen den beiden, das die anderen drei mit Heiterkeit betrachteten.
»Nein, im Ernst. Hat denn jemand von euch etwas gemerkt?«, fragte Klara.
Helga schüttelte den Kopf. »Wir kriegen davon sowieso nicht viel mit, Ursula und ich kochen meist selbst.«
Horst grinste. »Meine Verdauung ist kein Maßstab. Da würden selbst die Salmonellen dran verzweifeln.«
Käthe flötete fein: »Ich bekomme mein Essen nach oben gebracht, da ich Schonkost benötige.«
Horst haute ihr lachend auf die Schulter, sodass sie hustend nach vorne sackte. »Aber Pflaumenkuchen geht immer, was?«
Käthe tupfte sich mit der Serviette die Kuchenkrümel von der Bluse. »Also wirklich! Benehmen ist wohl Glückssache.«
Klara lachte und hob ein Stückchen Pflaume auf, das heruntergefallen war. »Ein wenig mehr Ernst, meine Lieben.«
Helga winkte ab. »Was soll das Ganze? Der Tod sitzt doch hier immer mit am Tisch. Schaut euch doch mal um. Die alte Frau Hummel da vorne. Otto, der nur noch im Rollstuhl unterwegs ist, da hinten die drei, die den Kuchen nur noch mümmeln – würdet ihr euch ernsthaft wundern, wenn die in den nächsten Wochen oder Monaten sterben?«
Ursula lachte. »Ich wundere mich eher jeden Morgen, dass ich noch lebe.«
Klara schaute die beiden Schwestern liebevoll an. »Unkraut vergeht nicht. Euch beide muss man irgendwann mal notschlachten.«
Doch Horst wurde nun ernst. »Aber hier geht in der Tat irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu. Ich habe mal eine Statistik aufgestellt. In den letzten beiden Wochen sind signifikant mehr Menschen zu Tode gekommen als in den Jahren davor.«
Ursula spottete: »Da spricht der Buchhalter.«
Horst nickte. »Genau. Von Statistik verstehe ich etwas. Und wenn etwas aussieht wie eine Kröte und klingt wie eine Kröte, dann ist es meistens auch eine Kröte.«
Das überforderte Käthe nun ein wenig. »Was hat es denn jetzt mit Kröten auf sich?«
Klara legte ihr die Hand auf den Arm. »Das ist doch nur eine Analogie, Käthe. Was er damit sagen will, ist …«
Horst unterbrach sie: »Was ich damit sagen will, ist, wir sollten davon ausgehen, dass es sich nicht nur um eine Häufung natürlicher Todesfälle handelt. Da hilft jemand nach.«
Das schockierte die kleine Runde so sehr, dass alle die Gabeln niederlegten und eine Weile schwiegen.
»Bist du sicher?«, fragte Klara.
Helga beugte sich nach vorne und zischte: »Machen wir uns nichts vor. Das denkt doch hier jeder. Horst hat es nur ausgesprochen.«
Doch Ursula wollte davon nichts wissen. »Ihr unkt doch bloß. Wenn hier wirklich was nicht mit rechten Dingen zuginge, wäre doch schon längst die Polizei im Haus.«
Käthe schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Die machen sich viel zu große Sorgen, dass Bewohner ausziehen. Andrea würde das sicher nicht an die große Glocke hängen.« Sie war über ein paar Ecken mit der Heimleiterin verwandt und kannte sie daher recht gut.
Klara schaute sie an. »Kannst du nicht mal mit der Bader sprechen und sie aushorchen? Mir hat Heike im Vertrauen erzählt, dass beim Personal auch schon getratscht wird.«
Sie erzählte der Runde von ihrem Gespräch mit Heike und Frederike. »Meine ehemalige Nachbarin – sie war früher bei der Polizei, aber behaltet das bitte für euch, sie spricht da nicht gerne drüber – ist auch schon misstrauisch geworden. Uns würde interessieren, wie die Heimleitung zu der Sache steht.«
Horst nickte bedächtig. »Für eine solche Einrichtung könnten allein schon Gerüchte extrem geschäftsschädigend sein. Möglicherweise wäre das wirklich ein Grund, die Sache unter den Teppich zu kehren, weil man sich einen Imageverlust finanziell nicht leisten kann. Ich kann mir ja mal die Bilanzen anschauen.«
Ursula schaute ihn fragend an. »Wie kommst du denn daran?«
Helga mischte sich ein. »Kein Problem, ich besorge dir den Geschäftsbericht.« Sie verstand sich gut mit Frau Weißbrot, der Leitungsassistenz, und gab ihr manchmal Tipps für ihre Arbeit.
Horst nickte. »Prima, da bekomme ich schon ein gutes Bild.«
Ursula fragte: »Was können wir sonst noch tun? Zwar glaube ich eigentlich nicht, dass an der Sache wirklich etwas dran ist, aber jetzt passiert hier wenigstens mal was.«
Klara schaute sie und Helga erwartungsvoll an. »Ihr seid doch hier gut vernetzt. Hört euch doch mal um bei Bewohnern, die die Toten gekannt haben. Vielleicht haben sie etwas mitbekommen oder noch Kontakt in die Dörfer zu den Verwandten und Nachbarn. Zumindest Hubert und Werner wirkten doch noch ganz fit, von Gertrud ganz zu schweigen.«
Käthe schaute sie irritiert an. »Gertrud war sechsundneunzig!«
»Ja, schon! Ich dachte, die überlebt uns alle und wird mindestens hundertfünf«, erwiderte Klara traurig. »Solange Gertrud da war, so geistig fit und beweglich, hatte ich keine Angst davor, alt zu werden.«
Horst tätschelte ihr die Hand. »Bis du mal alt bist, ist noch lange hin. Du bist doch erst siebenundachtzig, du junger Hüpfer!«
Klara, die ihm gegenüber bei der Altersangabe fünf Jahre weggemogelt hatte, zog bedauernd die Hand weg und meinte trocken: »Da hüpft nicht mehr viel. Aber was soll’s. Gehen wir an die Arbeit.«
Die Runde löste sich auf.
Nachts hörte Klara Stimmengemurmel aus der Nebenwohnung. Sie schlief nicht mehr besonders gut und war nicht selten schon gegen drei Uhr wach. Statt sich dann wieder ins Bett zu legen, stand sie meist auf und frühstückte schon einmal. Das war einer der Gründe, weshalb sie inzwischen nur noch selten zu den offiziellen Mahlzeiten ging. Die Zeiten passten einfach nicht mehr für sie.
War Käthe vor dem Fernseher eingeschlafen? Das passierte ab und zu. Dann hörte Klara, dass auch draußen auf dem Flur Bewegung war. Sie zog ihren Bademantel über und öffnete leise die Tür. Hoffentlich war nichts mit ihrer Nachbarin.
Heike, die Nachtdienst hatte, sprach gerade mit zwei jungen Notfallsanitätern. Dann sah sie Klara in der Tür und ließ die beiden mit einer kurzen Entschuldigung stehen. Sie kam zu Klara, mit Tränen in den Augen: »Ach, es tut mir so leid. Du warst ja mit Käthe Gilles befreundet.«
Klara stand stocksteif und fragte mit bebender Stimme: »Ist sie tot?«
Heike nickte: »Ja, sie hat noch geklingelt, aber wir konnten nichts mehr für sie tun. Sie wird gerade nach unten gebracht. Ich bin gleich wieder da.«
Doch Klara hatte sich schon abgewandt. »Nicht nötig.« Sie brauchte jetzt einige Zeit für sich.
Am nächsten Morgen mochte Klara gar nicht nach unten gehen. Gestern hatte man noch so schön zusammengesessen. Käthe hatte doch fit gewirkt und auch keinerlei Hinweise gegeben, dass es ihr nicht gut ging. Klara verstand das nicht. Sie beschloss, Frederike anzurufen. Sie musste mit jemandem reden.
Frederike kam eine Stunde später vorbei. Sie blieben in Klaras Räumen, und Klara brühte einen Tee auf.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich bin noch völlig fassungslos.« Klara konnte sich gar nicht beruhigen. Die Tränen liefen über ihre Wangen.
Frederike saß nur still in ihrem Sessel und ließ Klara reden.
»Gerade gestern haben wir über die Todesfälle