Heart to heart. Alexia Meyer Kahlen
»Danke, Jojo. Und sorry, dass ich dich vorhin so angepampt habe.«
»Dafür habe ich bei dir einmal Suchen gut«, gab Johannes grinsend zurück.
Ihr Bruder hatte Bogart einfach nur sein Stallhalfter angezogen und führte ihn an der Longe auf den Reitplatz. Paula und ihr Vater standen an der Umzäunung und sahen zu, wie er den Wallach im Schritt auf den Zirkel schickte. Bogart schnaubte entspannt ab.
Die tierärztliche Abklärung seiner Sehnen und Gelenke hatte nichts Auffälliges ergeben, und nachdem sie ein paar verklemmte Wirbel im hinteren Teil des Rückens gelöst hatte, erklärte auch die Osteopathin ihn wieder für uneingeschränkt leistungsfähig.
Nachdem er ein paar Runden Schritt gegangen war, ließ Johannes ihn antraben. Auch hier zeigte Bogart klare, elastische Gänge.
»Sieht alles super aus«, meinte ihr Vater.
Paula nickte. Warum hatte sie nur plötzlich so eine blöde Enge in der Brust?
Johannes wechselte die Hand und auch hier zeigte der Wallach einen klaren Trab. Paula entspannte sich allmählich und das Engegefühl klang ab.
»Lass ihn mal angaloppieren«, rief sie Johannes zu.
Dieser schnalzte und hob die Longierpeitsche. Das war wohl etwas zu viel für seine aufgestaute Energie, denn Bogart raste plötzlich wild buckelnd los, sodass Johannes ihn mit der Longe kaum auf der Kreisbahn halten konnte.
Im selben Augenblick hatte Paula das Gefühl, als schließe sich eine Eisenklammer um ihr Herz und nehme ihr die Luft zum Atmen. Ihr wurde schwindlig, ihr Herz begann wie verrückt zu rasen, und sie hatte das Gefühl, als müsse sie sich gleich übergeben.
»Der hat Dampf«, lachte ihr Vater neben ihr, doch Paula nahm ihn nur durch einen Nebel wahr. Sie war viel zu eingenommen von den intensiven Vorgängen in ihrem Körper. Das Schlimmste aber war die Angst. Wie eine gefräßige Krake nahm sie Paulas Denken und Fühlen vollkommen ein und schickte ihren ganzen Körper in ein unkontrolliertes Beben. Merkte denn keiner, was mit ihr los war?
Sie blickte auf den lachenden Johannes, dem Bogarts Temperamentsausbruch offenbar Spaß zu machen schien und der ihrem Vater jetzt irgendetwas zurief. Nein, nicht ihrem Vater. Ihr rief er scherzend etwas zu: »Willst du dich mal draufsetzen?«
Paula öffnete den Mund, aber konnte nicht antworten, weil sie das Gefühl hatte, als sei ihre Zunge auf die dreifache Größe angeschwollen. So plötzlich, wie der ganze Spuk gekommen war, flaute er auf einmal wieder ab.
»Alles gut?« Ihr Vater blickte sie an. »Bist ein bisschen blass um die Nase, Kleines.«
Paula schüttelte den Kopf. »Alles gut.«
Sie rief Johannes zu: »Lass ihn schon mal freispringen, ich muss nur mal eben aufs Klo.« Wenigstens ihre Stimme hatte sie wieder unter Kontrolle.
Sie rannte ins Haus und musste sich übergeben. Dann saß sie zitternd auf dem Klodeckel. Was war nur los mit ihr?
Wahrscheinlich hatte ihre Mutter recht und sie war einfach noch nicht wieder ganz fit. Sie würde Johannes fragen, ob er Bogart noch ein, zwei Tage länger bewegen konnte, und sie könnte sich noch ein bisschen erholen.
Paula spürte, wie sie sich bei dem Gedanken entspannte. Ja, das war ein guter Plan.
Die kleine innere Stimme, die ihr bedeutete, dass die Attacke eben nichts mit ihrer Gehirnerschütterung zu tun hatte, verdrängte sie irgendwo in den hintersten Teil ihres Bewusstseins.
4.
Selbstdiziplin war Paulas große Stärke, und so zwang sie sich drei Tage später aufs Pferd, nachdem Johannes Bogart für sie vorher noch mal ablongiert hatte. Ihr Vater bestand neben der Reitkappe auch auf die Reitschutzweste, und Paula spürte, dass sie ihm dafür irgendwie dankbar war.
Sie ließ Bogart erst mal am langen Zügel im Schritt gehen, und von irgendwoher kam das selbstverständliche Körpergefühl zurück, wie es war, auf ihrem Pferd zu sitzen.
Ihr Vater und Johannes standen außen am Reitplatz, nun kam auch die Mutter dazu. Als sie an ihrer Familie vorbeiritt, lächelte sie ihnen zu. Alles war gut.
Nachdem sie die Zügel aufgenommen und den Wallach etwas gestellt und gebogen hatte, trabte sie an. Sie ritt ein paar Bahnfiguren, die alte Routine war wieder da. Bogart stand einwandfrei an den Hilfen und ließ sich auch willig auf die höheren Dressurlektionen im Trab ein, die sie als Nächstes abfragte – Schulterherein, Traversale, Travers, alles lief prima.
Als sie an den Galopp dachte, wurde es in ihrem Magen kurz flau, doch sie gab die Hilfen, und Bogart sprang gleich an. Paula ließ ihr Pferd im versammelten Galopp auf dem Zirkel gehen. Jetzt aus dem Zirkel wechseln mit einem fliegenden Galoppwechsel. Auch das klappte wunderbar. Nun zum Abschluss noch mal die Schlangenlinie entlang der langen Seite mit zwei fliegenden Wechseln. Einwandfrei.
»Du hast ihn vorne arg festgehalten, achte da mal drauf«, kommentierte ihre Mutter, als sie an der Umzäunung durchparierte.
Doch das kümmerte Paula jetzt nicht. Sie war einfach nur grenzenlos erleichtert, dass sie ihr Leben offenbar wieder unter Kontrolle hatte.
»Johannes und Papa, baut ihr mal ein paar Sprünge auf? Wo ich schon dabei bin.«
Im Handumdrehen hatten ihr Vater und Johannes auf dem Reitplatz einen kleinen Parcours aus bunt angemalten Stangen aufgestellt. Einen Oxer, ein paar Steilsprünge, eine Kombination.
Als sie Bogart zwischen den Sprüngen angaloppierte, war da plötzlich wieder diese komische Enge in ihrer Brust. Paula verdrängte den Gedanken daran und konzentrierte sich auf ihr Pferd. Was sollte schon passieren? Wenn Bogart riss, flog die Stange eben runter. Fehlerfrei nahm der Wallach Sprung um Sprung. Doch das Gefühl blieb.
Am Abendbrottisch herrschte eine heitere Stimmung. Alle schienen irgendwie erleichtert, dass Paulas erster Ritt nach dem Unfall so glatt gelaufen war. Paula stimmte äußerlich in die allgemeine Heiterkeit ein, doch innen ließ sie die Erinnerung an das merkwürdige Engegefühl beim Reiten nicht los. Bis zu dem Unfall hatte sie sich tollkühn in jeden Parcours geschmissen und kein Geländesprung war ihr zu gefährlich gewesen. Und jetzt war da plötzlich diese komische Beklemmung, die sich wie eine Raubkatze irgendwo in ihr geduckt hielt, bereit, jeden Moment wieder zuzuschlagen.
Paula konnte in ihrem Magen ein Angstgefühl spüren. Die Angst vor einer weiteren Attacke, wie sie sie drei Tage zuvor überfallen hatte. Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, doch es wollte ihr nicht gelingen.
Nach dem Essen setzte sie sich in ihrem Zimmer an den Laptop und gab Gehirnerschütterung und Angst ein. In der Tat schienen 30 bis 80 Prozent der Personen mit leichten bis mittelschweren Hirnverletzungen nicht nur unter Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Erschöpfung und Reizbarkeit zu leiden, sondern auch unter psychischen Symptomen wie Angst oder Depression, Schlafstörungen und Konzentrationsproblemen. Dort stand auch, dass man sich an einen Arzt wenden sollte, wenn die Beschwerden zu einem Problem wurden.
Paula klappte den Laptop schnell zu. Unsinn. Mit ihr war alles in Ordnung.
5.
Eine Vielseitigkeitsprüfung bestand immer aus den drei Teilprüfungen Dressur, Geländeritt und Springen. Die Dressur und das Springen hatte sie sich gestern zurückerobert. Jetzt war es an der Zeit, sich dem Geländeritt mit seinen festen Hindernissen zu stellen.
Heute war sie allein. Ihr Vater war auf einem Kundentermin, ihre Mutter beim Einkaufen und Johannes in der Schule. Einen Moment huschte ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es vielleicht besser gewesen wäre, bis zum Nachmittag zu warten, wenn alle zu Hause waren. Doch sie schob ihn wieder weg. Schließlich musste sie ihre Prüfungen auch allein bestehen, da hatte ihr Vater recht gehabt.
Paula ritt ihr Pferd zuerst auf dem Dressurplatz ab. Als Bogart warm war, wandte sie sich in Richtung der Wiese mit den Geländesprüngen. Sie spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann