Heart to heart. Alexia Meyer Kahlen
mit zittriger Stimme zu beruhigen, aber das schien alles nur noch schlimmer zu machen.
Als sie auf der Wiese angekommen waren, war er so angespannt, dass Paula meinte, er könne jeden Augenblick unter ihr explodieren. Ihr ruhiges Verlasspferd Bogart. Sie zwang sich dazu, sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Ein, aus, ein, aus. Das hatte sie mal als Mentaltechnik von einem Sportpsychologen gehört. Sie wurde ein kleines bisschen ruhiger und trabte an.
Bogart schüttelte unwillig den Kopf und wehrte sich gegen das Gebiss. Paula wurde plötzlich bewusst, dass sie die Zügel extrem kurz hielt. Die Worte ihrer Mutter kamen ihr in den Sinn und sie gab etwas nach. Ihr Herz begann noch schneller zu schlagen, als gäbe sie damit auch das letzte bisschen Kontrolle auf, das sie noch zu besitzen glaubte.
Sie parierte Bogart durch. Was war nur los? Sie war doch gestern schon gesprungen und es war okay gewesen.
»Bei den Stangen konnte er ja auch nicht am Sprung hängen bleiben«, schoss ihr durch den Kopf und wie eine Welle brachen plötzlich die Bilder und Gefühle über sie ein: wie sie über dem Baumstamm mit Entsetzen bemerkte, dass Bogart viel zu früh abgesprungen war und sie nichts, absolut nichts mehr tun konnte, außer wahrzunehmen, wie er an dem festen Sprung hängen blieb, wie sie durch die Luft geschleudert wurde und ihr Pferd sich neben ihr überschlug.
Paula begann, am ganzen Körper unkontrolliert zu zittern, und die Übelkeit, die sie zusammen mit den Bildern überfallen hatte, zwang sich ihren Weg von ihrem Magen den Schlund hinauf. Gerade rechtzeitig konnte sie noch vom Pferd heruntergleiten, um sich auf der Wiese zu übergeben.
Alle Kraft war plötzlich aus ihr gewichen. Zitternd führte sie Bogart zu dem Baumstamm, an dem der Unfall sich vor knapp zwei Wochen ereignet hatte. Er schnupperte nur kurz daran und interessierte sich dann für das Gras. Nein, nicht er hatte das Problem, sondern sie.
Nachdem sie ihr Pferd mechanisch zum Stall zurückgeführt, abgesattelt und auf die Weide gebracht hatte, setzte sie sich einfach auf einen Stuhl in der Küche und wartete. Ob sie eine oder zwei Stunden hier saß, sie wusste es nicht. Jetzt war eh alles egal. Es war vorbei, das musste ihr keiner sagen. Sie war durch.
Irgendwann hörte sie ihre Mutter an der Haustür, Johannes war auch dabei, wahrscheinlich hatte sie ihn von der Schule abgeholt.
Als sie mit ihren Einkaufstaschen die Küche betrat, entdeckte sie Paula. »Warum sitzt du denn hier in der Küche, Schatz, und machst es dir nicht auf dem Sofa bequem?«
Paula begann einfach zu sprechen, als habe sie sich in den letzten zwei Stunden auf genau diesen Moment vorbereitet. »Ich bin nicht mehr locker. Kann mein Herz nicht mehr zuerst über den Sprung werfen, wie ich es früher immer getan habe. Das Vertrauen ist weg. Mein Kopf will alles kontrollieren und das bringt Bogart total in Stress. Und sein Stress macht mir den Megastress. So kann ich im Leben keine Vielseitigkeitsprüfungen mehr reiten.«
Paula war erstaunt, wie einfach die Worte über ihre Lippen kamen, obwohl ihr Körper sich immer noch irgendwie taub anfühlte, als sei sie gar nicht richtig da.
»Du bist kreideweiß«, rief die Mutter. »Was ist passiert?«
Nun kam auch Johannes in die Küche. »Alles frisch, kleine Schwester?«
Marlene Lippold bedeutete ihm, Paula jetzt mit irgendwelchen Sprüchen in Ruhe zu lassen.
Als ob sie das nicht bemerkte. Sie brauchte kein Mitleid. Von niemandem.
Abrupt erhob sie sich und rannte in ihr Zimmer.
»Willst du denn nicht wenigstens erzählen, was passiert ist?«, rief ihre Mutter ratlos hinterher.
Doch Paula hatte schon die Tür hinter sich abgeschlossen.
Am Abend konnte ihr Vater sie dazu bewegen, ihr Zimmer zu verlassen und zu erzählen, was passiert war. Endlich brach der Damm. Unter heftigem Schluchzen berichtete sie ihrer Familie von der Angst und Bogarts Unruhe, von den Ohnmachtsgefühlen, die sie auf dem Pferd ergriffen hatten, und den Bildern von dem Unfall, die sie nicht mehr losließen. Und auch von den heftigen körperlichen Reaktionen, dem Zittern und der Übelkeit. Sie fügte hinzu: »Als Johannes Bogart longiert hat und er so rumgebockt ist, habe ich keine Luft bekommen und ganz dolles Herzrasen. Und dann auf dem Klo musste ich mich übergeben.«
An den betretenen Gesichtern ihrer Familie konnte Paula ablesen, dass sie völlig ratlos waren.
»Und wenn es doch irgendeine Nachwirkung von der Gehirnerschütterung ist?«, versuchte ihre Mutter hilflos, sie zu trösten. »Vielleicht musst du dir einfach nur etwas mehr Zeit geben, Liebes.«
Paula schüttelte den Kopf. »Es ist nicht die Gehirnerschütterung. Es ist der verdammte Unfall. Das Vertrauen ist einfach weg.«
»Und jetzt?« Ihr Vater wagte auszusprechen, was alle dachten. »Wie soll es denn jetzt mit dir und der Reiterei weitergehen?«
Paula hatte sich verändert. Sie war zögerlich geworden, handelte nicht mehr spontan, sondern dachte drei Mal nach, bevor sie eine Entscheidung traf. Die Angst war ihr ständiger Begleiter geworden. Sie lauerte ihr morgens auf, wenn sie die Augen aufschlug, und war das Letzte, was sie wahrnahm, wenn sie abends einschlief. Wenn sie einschlief. Meistens lag sie gefühlt stundenlang in einem eigentümlich hellwachen Zustand einfach da, ihr Körper gerädert, während in ihrem Kopf die Gedanken rasten.
»Du hast eine Erfahrung von maximalem Kontrollverlust gemacht«, waren die Worte der Psychologin, die Paula nach langem Zureden der Familie schließlich aufsuchte.
Aber wirklich helfen konnte sie ihr auch nicht. Sie sprach von Panikattacken und riet an, eine Therapie zu machen, um die Auslöser ihrer Attacken zu verstehen und sie zu kontrollieren.
Dabei war der Auslöser so klar für sie. Es war genau der Moment, wo sie mit Bogart über den Sprung flog und realisierte, dass er nicht rüberkommen würde. Und sie nichts, aber auch gar nichts tun konnte, um es zu verhindern. Wieder und wieder spielte die Sequenz in ihrem Kopf, als hätte jemand eine Repeat- Taste gedrückt, und sie selbst hatte keine Ahnung, wie sie diese Endlosschleife unterbrechen konnte.
6.
Sie hatte gehofft, dass die Routine aus Schule und der Arbeit auf dem Hof, die zu den Verpflichtungen jedes der Lippold-Kinder gehörte, ihr Leben irgendwie wieder in eine Art Normalität bringen würde. Doch was war normal?
Paula fand sich mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert, dass sie durch ihren starken Fokus auf das Reiten und den Turniersport nie irgendwelche Freundschaften geknüpft hatte, die über oberflächliches Geplänkel hinausgingen. Die Interessen der meisten Mädchen ihres Alters waren auf Beauty, Fashion und natürlich Jungs ausgerichtet. Und die wenigen Mädchen in ihrer Klasse, die ebenfalls pferdebegeistert waren, hatten entweder »nur« ein Pflegepferd oder standen reiterlich weit unter ihrem Level, sodass jegliche Unterhaltung ihr sinnlos schien.
Anne hatte noch ein paarmal versucht, sie zu auf dem Handy telefonisch zu erreichen, aber nachdem Paula ihre Anrufe immer weggedrückt hatte, war auch da Funkstille eingekehrt.
Sie konnte spüren, dass sie sich mehr und mehr in eine Art Kokon einspann, der sie nicht nur vor der Außenwelt abschirmte, sondern auch die Wahrnehmung ihrer Gefühle auf ein für sie erträgliches Maß herunterdimmte.
Das blieb ihrer Familie nicht verborgen. Als sie eines Nachmittags mit ihrem Bruder schweigend die Boxen ausmistete, in denen die Pferde über Nacht standen, konnte Johannes sich nicht zurückhalten: »Mann, kleine Schwester, du rennst seit Wochen rum wie ein Zombie. Ich kann das echt nicht mehr mit ansehen. Komm endlich wieder ins Leben zurück.«
Paula zuckte mit den Schultern. Was sollte sie dazu sagen?
Doch Johannes ließ nicht ab. »Wann warst du das letzte Mal Bogart auf der Weide besuchen? Wann hast du überhaupt das letzte Mal auf einem Pferd gesessen? Bogart ist zu jung für den Ruhestand. Und du auch. Nur weil das mit dem Springen gerade nicht mehr geht, musst du doch nicht das Reiten aufgeben!«
»Ich überlege wirklich, es ganz dranzugeben«, erwiderte