Ein Verteidiger. Dietrich Theden
als ob sie die besondere Veranlassung ahnte, die den Sohn zu ihr führte: sie suchte weich, fast ängstlich fragend seinen Blick.
»Warte nur,« fuhr Bendring fort, »morgen oder in ein paar Tagen kehren wir nach Berlin zurück, und Tante Hede wird dich schon pflegen, daß du bald wieder frisch und gesund wirst. Willst du noch ein paar Wochen an die See gehen? Ich glaube, es würde dir gut thun. Meinen Sie nicht auch, Herr Wilden?« wandte er sich halb über die Schulter an den Kommissar. »Verzeihe, Mama, daß ich nicht gleich vorgestellt habe, wir wollten dich nicht stören. Meine Schwiegermama, lieber Herr Wilden.« – Der Kommissar war hinzugetreten und verbeugte sich ehrerbietig. Geben Sie Ihren Rat, lieber Freund: Ahlbeck? – was meinen Sie? Mama war im vorigen Sommer dort und kam sonnenverbrannt und frisch und blühend wieder. Apropos, Mama, Ahlbeck! Entsinnst du dich eines – eines Herrn, der häufig in eurer Gesellschaft war?«
Sie ließ die Lider sinken und schien zu grübeln.
»Nein, Fritz,« antwortete sie leise.
»Denke einmal nach, Mama,« bat der Anwalt. »Habt ihr nicht Bootfahrten aufs Meer hinaus oder Spaziergänge am Strand und in den Buchenwäldern gemacht? Weißt du, es giebt so schöne Buchenwaldung dort wie hier am Plöner See – denke nur nach, Mama.«
»Ja, Fritz. Es war schön da, ich weiß. Aber Hedwig« – ein Beben überfiel sie – »war so still, so weltfremd, so abgeschlossen für sich – –«
Sie schluchzte.
Bendring fand durch die wenigen Worte seine Vermutung bestätigt, daß die Begegnung Hedwigs mit dem Ehrlosen weiter zurück liegen mußte. Sie hatte die Erinnerung zu verwinden gehabt und deshalb die Einsamkeit gesucht. Für diese Annahme sprach auch, daß das Mädchen die in jene Zeit fallende erste Annäherung Bendrings an sie noch entschiedener zurückgewiesen haben würde, wenn sie noch unter dem ganz frischen Eindrucke der erlebten Enttäuschung und Kränkung gestanden hätte.
»Die Seeluft dürfte wohl zu rauh sein,« warf Wilden ein, um die alte Dame abzulenken.
»Ja? Vielleicht Bergluft? Mama war vor zwei Jahren ein paar Monate im Harz – – in Harzburg, Mama?«
Sie faßte sich.
»Ja, Fritz,« antwortete sie monoton.
»Ihr seid auf den Brocken gekraxelt, nicht wahr? Habt ihr auch das Brockengespenst gesehen, Mama?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Gespenst?« wiederholte sie. »Nein.«
»Weißt du, wovon mir Hede vorgeschwärmt hat?« fragte Bendring. »Vom Kaiserhaus in Goslar!« fügte er halb aufs Geratewohl hinzu.
Frau von Viersen sann.
»Ja. Und da war noch jemand. Ein – Maler. Ja, er zeichnete. Erst mit Blei, flüchtig, aber schon treu. Dann – mit Farben. Das Kaiserhaus, den Brocken, die Burgruine. Hede auch … «
Bendring horchte auf.
»Ein Künstler, sieh 'mal an. Ja, Mama, wo's schön ist, da stellen die sich auch ein. Nur an unserem Plöner See nicht. Den kennen sie nicht und suchen sie nicht. – Der war wohl oft bei euch?« forschte er.
»Ja, Fritz. Jeden Tag. Das heißt, nicht immer. Nur zuerst; dann nicht mehr. Hede – war bös geworden mit ihm, ganz bös, und dann reiste er ab.«
»War er nett, Mama?«
»Nett? Ich weiß nicht … Freundlich, aufmerksam, ja; nett, das ist wohl nicht das Richtige.«
»Aber interessant, nicht wahr? Weißt du nicht noch, wie der Mann hieß?« fragte Bendring.
Sie dachte nach.
»Ja – Vermissen, David Vermissen,« erwiderte sie einfach.
Bendring atmete tief auf und streifte den Kommissar mit einem Blicke der Befriedigung.
»Na, Mama,« fuhr er fort, »eigentlich interessiert uns ja der Herr wenig; aber da wir doch einmal von ihm sprechen – vielleicht hat er auch gesagt, woher er stammte? Ich meine: von Hamburg, von Kiel, von Schleswig oder sonst wo her? Der Name klingt norddeutsch, und vielleicht sind wir gar in seiner Heimat. Erinnerst du dich nicht?«
»Nein, Fritz.«
»Auch nicht, wohin er abreiste?«
Frau von Viersen verneinte.
»Er hat noch einmal geschrieben. Ich weiß aber nicht, von woher. Hede wollte den Brief nicht annehmen.«
»Der ging dann zurück?«
»Ja.«
»Und darauf hat er nichts mehr von sich hören lassen?«
»Nein, Fritz.«
»Danke, Mama. Ich muß wohl fürchten, daß es dich zu sehr anstrengt; sonst hätte ich dich gern gebeten, mir etwas näher zu beschreiben, wie der Mann aussah. Meinen Sie, lieber Herr Wilden, daß Mama noch weiter sprechen kann, ohne daß es ihr schadet?« fragte Bendring, zu dem Beamten gewendet.
»Ich glaube, Sie können ruhig weiter fragen, Herr Rechtsanwalt. Die gnädige Frau dürfte dadurch wohlthuende Zerstreuung finden.«
»Na, wenn das sein sollte. – Liebe Mama, viele dieser Maler sind wie die Musikanten auf hundert Schritte – an den langen Künstlerlocken – zu erkennen – der auch?«
»Nein, der nicht. Der trug das Haar kurz, ich glaube, mit der Maschine geschnitten.«
»Welche Farbe hatte es?«
»Dunkelbraun. Sein Bart war etwas heller.«
»Vollbart?«
»Ja, an den Backen kurz, am Kinn spitz.«
»Aha, à la Boulanger. War der Mann groß, klein, mittel?«
Fran von Viersen maß den Fragesteller abschätzend.
»Einen Kopf größer als du,« erklärte sie entschieden.
»Alle Wetter, also ein wahrer Riese!« meinte Bendring lebhaft.
»Hede nannte ihn auch im Scherz den neuen Goliath.«
»So so. Weißt du sonst noch etwas von ihm? Zum Beispiel, wodurch er Hedwig erzürnte?« fragte Bendring.
»Nein, Fritz. Darüber hat sie sich nicht ausgesprochen. Du weißt ja, wie sie war. Für sich, nicht aus sich herausgehend. So war sie immer, nur daß es mir damals zuerst aufgefallen ist. Unser gutes, armes Kind … «
Bendring kam zum Schluß.
»Brechen wir ab, Mama. Wir überlegen in Berlin weiter, mit Tante Hede zusammen, wohin die Fahrt gehen soll – ja? Und Kopf hoch, Mama! Frau Hansen hat so schöne Fruchtlimonade unten: soll sie dir davon herausbringen? Die erfrischt. Ich werde es ihr gleich sagen. Und nach Tisch leg dich wieder ein paar Stündchen hin, Mama – ja? Ich komme, nachzusehen.«
Er drückte die mageren Hände und grüßte noch von der Thür aus.
»Also David Vermissen! Einen Schritt wären wir weiter!« sagte er draußen befriedigt. »Kommen Sie mit ins Gastzimmer. Hansen weiß im Lande Bescheid, und vielleicht kann er uns, wenn der Herr Künstler wirklich in Holstein zu Hause sein sollte, auf den Weg helfen.«
Christian Hansen las eine Kieler Tageszeitung.
»Die ist auch voll davon,« sagte er zu dem Anwalt.
Bendring überflog einen ›Der Mord am Plöner See‹ überschriebenen Artikel und bat den Gastgeber, ihm das Blatt aufzuheben.
»Sagen Sie, Hansen,« fuhr er dann fort, »Sie sind ja wohl in dieser Gegend aufgewachsen und kennen Land und Leute. Giebt es im Holsteinischen irgend einen Familienstamm Vermissen?«
»Ja, und gar nicht weit von hier: in und um Preetz herum. In Preetz selbst ist eine Pastorfamilie, die so heißt; ich weiß aber nicht, in welchem Grade die mit den Bauern Vermissen, die in Löbtin ansässig und weit verzweigt sind, verwandt