Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch


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Vortag zu rekonstruieren. „Ich hatte gerade wieder die Oberhand im Kampf gegen Biff gewonnen und ihm einen gut platzierten Hieb auf die Leber gegeben. Dann zog mich Schwester Arundel an meinem Ohr von ihm weg, während er mich noch einmal mit einem hinterlistigen Tritt am Oberschenkel traf. Sie brachte mich zu meiner Kammer und schimpfte dabei wie eine Elster, die ihre silberne Beute verteidigt.“ Dantra war schon fast mit seinen Gedanken beim eigentlichen Vorfall auf seiner Stube angelangt, doch die Erinnerung, was genau ihn so sehr zur Weißglut getrieben hatte, stoppte seine Überlegungen. Es war nicht etwa die übertriebene Lautstärke gewesen, in der die Schwester ihn belehrt hatte. Oder die Tatsache, dass sie ihm eine feurige Zukunft in der Hölle vorausgesagt hatte. Nein. Das Problem lag vielmehr darin, dass sie die handfeste Auseinandersetzung mit Biff, bei der ihr sehr wohl bewusst war, um was es ging, als absolut sinnlos bezeichnet hatte. Und ihm stattdessen zum wiederholten Male mit gehässiger Stimme ihre Sicht der Dinge dargelegt hatte. „Sie wird ohnehin bald brennen. Das ist ihr von Gott zugedachtes Schicksal. Und das wirst auch du nicht verhindern können. Selbst wenn du dich mit jedem einzelnen deiner Mitschüler prügelst.“

      Wie sehr er das hasste, wenn man ihm das für sie wohl Unvermeidliche vor Augen hielt. Er hatte sich geschworen, sie vor allen Gefahren zu beschützen, egal, was er dafür tun musste. Es war seine Pflicht, aber auch sein eigener Wille, ihr Leben zu verteidigen, und koste es sein eigenes. Nur würde er anfangs nicht die Möglichkeit haben, sich um sie zu kümmern. Und das war auch das Einzige, vor dem er wirklich Angst hatte. Seine ungewisse Zukunft, die Probleme und Schwierigkeiten, die früher oder später auf ihn zukommen würden und ihn im schlimmsten Fall sogar in Gefahr bringen könnten, all das bereitete ihm bei Weitem nicht so viel Kummer wie der Gedanke, sie für 56 Tage allein lassen zu müssen. Das war seine Achillesferse, die offene Fleischwunde in seiner Seele. Die Angst in ihm, die sich Schwester Arundel zu eigen machte, um ihn zu quälen. Sie rührte darin herum wie ein Schlachter im Schweineblut, damit es nicht gerinnt.

      Und dann war da noch der Rabe gewesen! Als er vor Zorn bebend in seine Kammer getreten war und Schwester Arundel die Tür hinter ihm unsanft ins Schloss geworfen hatte, war sein Blick auf ihn gefallen. Er hatte regungslos vor seinem geöffneten Fenster gesessen und zu ihm herübergeschaut. Dantra brachte des Öfteren Brotkrümel vom Frühstück mit, um sie auf seinem Fensterbrett für die Vögel zu verteilen. Dann beobachtete er mit Freude, dass es die kleinsten Vögel waren, die den größten Mut besaßen und sich trauten, die trockenen, aber dennoch begehrten Brotreste von dem Buchenholzbrett zu holen. Es waren daher meistens Spatzen oder in Ausnahmefällen einmal eine Drossel. Aber so ein großer Vogel wie ein Rabe war noch nie unter ihnen gewesen. Und gerade in dem Moment, als seine Gedanken um den Tod gekreist waren wie ein Bussard um seine erspähte Beute am Boden, hatte ein Rabe, den man im Volksglauben auch als Vorboten des Todes ansah, auf seinem Fensterbrett gesessen und ihn mit seinen pechschwarzen Augen angefunkelt. Was dann geschehen war, wusste er nicht mehr so genau. Die Wut in ihm, nun zusätzlich gemischt mit Panik, schien zu explodieren. Die Bilder vor seinen Augen hatten sich in einem schwammigen Grau verloren, als wäre in dem Bruchteil eines Flügelschlages ein dicker, undurchlässiger Nebel vor ihm aufgequollen und hätte ihm die Sicht genommen. In seinem Kopf hatte es wie wild gehämmert. Er hatte das Gefühl gehabt, als würde jemand versuchen, von innen seine Schädeldecke mit einer Spitzhacke zu öffnen. Sein ganzer Körper hatte gekribbelt. Der kleine Funken klaren Verstandes, der noch übrig gewesen war, hatte ihm befohlen, sich zu schütteln, damit was auch immer auf ihm herumkroch und dieses Kribbeln hervorrief von ihm abfalle. Doch noch bevor er die Anweisung ausgeführt hatte, war ihm komplett schwarz vor Augen geworden. Das Letzte, was er noch gespürt hatte, war ein ungeheurer Druck gewesen, der aus dem Innersten seines Körpers zu kommen schien, genau dort, wo seine Rippen am unteren Ende auseinandergingen, um sich schließlich aus jeder Pore seines Körpers zu entladen.

      Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er am Boden gesessen, sich den immer noch dröhnenden Kopf gehalten und zu Schwester Arundel hinaufgesehen, die sich mit hochrotem Kopf vor ihm aufgebaut hatte. Sie hatte ihn an den Haaren auf die Beine gezogen und auch genau so hinter sich her. Die Augen gezwungenermaßen gen Boden gerichtet, hatte er es nur noch geschafft, einen kurzen Blick unter seinem Arm hindurch auf das hinter ihm liegende Chaos zu erhaschen. Danach hatte er Mühe gehabt, in dieser Haltung nicht die schmalen Stufen der Wendeltreppe hinunterzustolpern. Als sie ihn wieder losgelassen hatte und er sich aufrichten konnte, hatte er sich bereits in dem Kellerraum befunden, der nur für ganz besonders schwere Vergehen reserviert war. Selbst er hatte es zuvor noch nicht geschafft, in dieser kerkerähnlichen Kammer zu nächtigen. Doch was auch immer dort oben vor sich gegangen war, es hatte ihn so geschwächt, dass er sich gedankenlos auf dem mickerigen Häufchen Stroh niedergelassen hatte und sofort eingeschlafen war.

      Das war es. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Warum seine Kammer aber nun aussah wie ein Schlachtfeld, war ihm immer noch ein Rätsel. Aber um nicht wieder Ärger zu bekommen, dieses Mal, weil er zu spät zum Frühstück erscheinen würde, beschloss er, seine Überlegungen auf später zu verschieben, und fing rasch an, sich zu waschen und saubere Kleidung anzuziehen.

      Als er in den bereits von Schwestern und Schülern belagerten Speisesaal kam, verstummte das Sprachgewirr und es wurde peinlich still. Sämtliche Augenpaare ruhten auf ihm. In ihnen entdeckte Dantra die verschiedensten Empfindungen. Zum einen Angst vor dem Unerklärlichen und zum anderen Schadenfreude über seinen Wutausbruch, der ihm viel Ärger gebracht hatte und sicher auch noch bringen würde. Aber vor allem Missgunst, die ihm insbesondere von dem Tisch der Schwestern entgegenschlug. Sie waren auch die Ersten, die ihn nicht mehr beachteten. Dantras Blick schweifte über seine Mitschüler und blieb an Biff hängen. Er grinste über beide Backen, sodass sein Gesicht aussah wie ein Halbmond, der auf den Rücken gefallen war. Er starrte Dantra dabei aber nicht in die Augen, sondern auf seine Stirn, auf der sich die Beule inzwischen in ihrer ganzen Pracht darbot. Natürlich war Biff der Auffassung, Dantra hätte es ihm zu verdanken, dass er nun aussah, als hätte er mit einem Steinbock um die Gunst eines Weibchens gekämpft. Aber Dantra war das immer noch lieber, als wenn Biff wüsste, dass er sich bei dem Versuch, den Stein wieder zurück aus dem Fenster zu werfen, so dumm angestellt hatte, dass er sich die Verletzung selbst beigebracht hatte.

      Dantra schenkte seinem Rivalen keine weitere Beachtung und drehte sich nach links, wo einige Schritte entfernt ein Durchbruch in der Wand war, der als Verbindung zwischen Speisesaal und Küche diente. Schwester Casale, eine etwas korpulentere, nicht allzu große, Anfang vierzigjährige Dame, die dem Titel Küchenbulle alle Ehre machte, war für gewöhnlich äußerst gut gelaunt und immer freundlich zu ihm. Aber als sie Dantra am heutigen Morgen von unten herauf ansah, verflog selbst ihr sonst anscheinend eingemeißeltes Lächeln. Sie klatschte ihm lieblos eine halbe Kelle Rührei auf den Teller und legte das knochenharte Ende eines Weißbrotes dazu. „Das dürfte wohl für dich ausreichen, groß und stark musst du ja nicht mehr werden, oder?“ Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

      Dantra beachtete sie jedoch nicht weiter, denn in diesem Moment erschien Tami in der Küche und schenkte ihm zur Begrüßung ein Lächeln. Egal, was er für sie durchmachen musste, dieses Lächeln war es, das ihn immer wieder dafür entschädigte. Sie hatte langes blondes, schon fast golden schimmerndes Haar. Ihre Augen waren so blau wie der Morgenhimmel über dem rauschenden Ozean, und wenn sie lächelte, bildeten sich kleine Grübchen unter ihren Augen, die einen dahinschmelzen ließen. Ihrer samtweichen Haut, ob in ihrem engelsähnlichen Gesicht oder an ihren zarten Händen, konnte scheinbar weder strenge Witterung noch harte Arbeit etwas anhaben. Sie war der Inbegriff von Schönheit. Sie war so schön, dass es einem Angst machen konnte. Und genau da lag das Problem. Dantra hatte sich auf einer der Holzbänke an dem ersten von zwei Jungentischen niedergelassen und dabei so viel Abstand wie möglich zu den anderen eingehalten. Dass seine Frühstücksportion etwas mager ausgefallen war, störte ihn wenig. Die offenen Fragen über die Ereignisse vom Vortag und die Sorge um Tami hatten ohnehin keinen Platz für Hunger in seinem Bauch gelassen. Außerdem plagte ihn ferner die bange Ungewissheit, was er noch an Bestrafung zu erwarten hatte. Denn es war doch sehr unwahrscheinlich, dass die Sache mit seinen Möbeln und der Tür mit einer Nacht in der Kellerkammer erledigt war.

      Die Antwort sollte allerdings nicht lange auf sich warten lassen. Noch als er in seine Gedanken vertieft das Rührei mit der Gabel umgrub und mit der anderen Hand das Stück Brot knetete, während sein Daumen eine


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