Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch
vor Unterrichtsbeginn findest du dich bei der Schwester Oberin ein.“ Zu ihrem Befehlston gesellten sich nun auch noch Empörung und Abscheu. „Und hör auf, mit den von Gott gegebenen Gaben zu spielen, du undankbarer Tunichtgut.“ Mit einem verächtlichen Blick ließ sie von ihm ab, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte aus dem Saal wie ein Feldherr, dem gerade die bedingungslose Kapitulation der feindlichen Truppen übermittelt worden war.
Dantra wandte sich wieder seinem Rühreihaufen zu und stocherte weiter darin herum. Er hatte zwar jetzt Gewissheit darüber, wann das Gewitter über ihn hereinbrechen würde, aber die immer noch offene Frage, ob sich ein Sturm oder gar ein Orkan dazu gesellte, verstärkte seine Appetitlosigkeit noch mehr.
Kurz darauf stand er nervös vor der Stubentür von Schwester Burgos, die aufgrund ihrer Führungsposition von allen nur Schwester Oberin genannt wurde. Nervös wippte er von einem Fuß auf den anderen. Er hatte bereits geklopft, aber der ranghöchsten Ordensschwester im Eberbachkloster bereitete es anscheinend Vergnügen, die Leute vor ihrer Tür warten zu lassen. Dantra kam es wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich das auffordernde „Herein!“ vernahm. Er drehte den Handknauf und drückte. Mit einem leisen Ächzen schob sich die Tür auf, in deren Inneren der ein oder andere Holzwurm ein Zuhause gefunden hatte. Schwester Burgos saß hinter einem großen dunkelbraunen Schreibtisch, der nach vorne hin mit einer Holzplatte verkleidet war, auf der wiederum ein schneeweißes Kreuz aus Elfenbein jeden Blick auf sich zog. Es lagen einige Pergamentrollen ausgebreitet vor ihr auf dem Tisch, die an den Enden mit den verschiedensten Gegenständen beschwert waren, damit sie sich nicht wieder einrollen konnten. Die noch tief stehende Morgensonne schien durch das mattglasige Fenster, das sich hinter ihr befand, und ließ sie so noch erhabener, aber zugleich auch bedrohlicher wirken.
„Komm näher und setz dich.“ Ohne aufzusehen, deutete sie auf einen einfachen Holzstuhl, der schräg vor ihrem Arbeitstisch stand. Ihre Stimme klang ruhig und wies keinen Hauch von Verärgerung auf. Dantra wusste nicht, ob ihn das beruhigen sollte oder es eher ein Anlass zur Sorge war. Nachdem er sich gesetzt hatte und noch einige Augenblicke quälender Stille vergangen waren, sah sie endlich zu ihm auf. „So, Junge, und nun sag, was hast du getan?“ Ihre Stimme war immer noch ausgeglichen und emotionslos.
Dantras Gedanken jedoch überschlugen sich fast bei dem Versuch, die richtige Antwort zu finden. „Wie meint sie das?“, dachte er. „Jeder weiß doch, dass meine Kammer einem Trümmerhaufen gleicht und jeder meint auch zu wissen, dass ich dafür verantwortlich bin. Und da ist sie wohl keine Ausnahme, sonst hätte ich die Nacht nicht im Keller verbracht. Also, was will sie von mir hören?“ Mit leicht zittriger Stimme erwiderte er schließlich: „Meine Stube ist etwas ramponiert.“
„Ich weiß, was mit deiner Stube ist.“ Dantra hatte das Gefühl, dass sie nun doch etwas missmutig klang. „Ich will, dass du mir sagst, was du getan hast.“
Wieder rasten seine Gedanken. „Was ich getan habe ... was ich getan habe ... Ich weiß doch selbst nicht, was passiert ist.“ Er merkte, wie ihr Blick ihn durchbohrte, als wollte sie sich die passende Antwort selbst in seinem Kopf suchen. Seine Hände wurden schwitzig und sein Pulsschlag beschleunigte sich kontinuierlich. Ihr zu sagen, dass er nicht wüsste, was passiert sei, war sinnlos, dessen war er sich sicher. Zugeben, dass er selbst seine Möbel und die Tür zertrümmert hatte, konnte und wollte er aber auch nicht. „Da saß ein Rabe an meinem Fenster und ...“
„Wag es nicht, mich zum Narren zu halten!“ Die Schwester Oberin war mit einem Satz aufgesprungen, wobei sie sich mit beiden Händen von ihrem Tisch abstieß und dabei ein Tintenfass umwarf. Es diente wohl als Gewicht für eine Pergamentrolle und war daher auch verschlossen, allerdings rollte es über die Tischkante und verlor sich im freien Fall, noch bevor sie reagieren konnte. Dantra konnte nicht sehen, ob es beim Aufprall zerbrach. Jedoch ließ das deutlich zu hörende Klirren darauf schließen. Und nachdem Schwester Burgos mit ihrem Blick der Flugbahn des Aushilfsgewichts gefolgt war, verfinsterte sich ihre ohnehin schon düstere Miene noch einmal merklich. Sie hielt ihren Kopf weiterhin gesenkt, ihre Augen fixierten jedoch schon wieder Dantra.
Nachdem sie ihn beim Aufspringen angeschrien hatte, sprach sie nun zwar wieder leiser, jedoch mit einem extrem gereizten Unterton. „Ich will nicht dein Wort anzweifeln, dass ein Rabe zugegen war, jedoch ist es inakzeptabel, dass du die Schuld für dieses Dilemma auf einen Vogel abschiebst. Ich frage dich also nun zum letzten Mal: Was hast du getan?“
Schwester Burgos war eine groß gewachsene Frau mit einem langen aschgrauen Gesicht, das mit sehr feinen Falten überzogen war. Und obwohl sie ein Kreuz um den Hals trug, das nun, da sie sich so weit über den Tisch lehnte, in der Luft hin und her schaukelte, kam es Dantra vor, als würde ein Dämon von oben herab auf ihn niederschauen, kurz bevor er ihm die Seele aus dem Leib riss.
„Ich ... ich hatte für einen Moment die Kontrolle über mich verloren“, stammelte er. „Ich ... ich weiß nicht genau, alles wurde schwarz, und als ich wieder zu mir kam, war alles verwüstet.“ Er fuchtelte beim Reden wild mit den Armen, um so seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Ich befürchte, ich war für einen kurzen Moment nicht Herr meiner Sinne und habe dabei unbewusst und natürlich auch unbeabsichtigt meine Stubenmöbel zerstört.“
Er glaubte selbst nicht an das, was er da sagte. War er doch nicht einmal annähernd stark genug, um einen, wenn auch schon recht alten Waschtisch so zu zerkleinern, dass man ihn als solchen nicht mehr erkennen konnte, geschweige denn die aus Massivholz gefertigte Tür in zwei Teile zu zerlegen. Gefasst auf einen erneuten Wutausbruch, nahm er den Blick von der Schwester Oberin und senkte demütig den Kopf. Ein leises Knarren ließ ihn jedoch erneut aufschauen. Zu seiner Erleichterung hatte sie sich wieder in ihrem Stuhl niedergelassen. In ihrem starren Blick, der an ihm vorbei in den leeren Raum fiel, meinte Dantra zu erkennen, dass sie sich seine Antwort noch einmal durch den Kopf gehen ließ. „Wahrscheinlich sucht sie nach der härtesten Bestrafung, die die strengen Regeln der Schülerleitfibel für solche Fälle vorsehen“, dachte er.
Ihre Augen wanderten zurück zu Dantra und nach einer weiteren kurzen Phase des Schweigens sagte sie schließlich mit besorgter Miene: „Es sind noch 58 Tage, bis du dieses Haus auf ewig verlassen darfst. Du wirst bis dahin weder zur Feldarbeit gehen, noch in deiner Freizeit das Gebäude verlassen.“
„Aber Tami, sie verlässt uns schon übermorgen und ich ...“ Mit einer energischen Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen.
„Ich weiß, was du sagen willst, aber glaube mir, es ist das Beste für dich. Im Übrigen hast du genug damit zu tun, dir beziehungsweise deinem Nachfolger neue Möbel anzufertigen und die Tür zu reparieren. Ich habe bereits den Zimmermann verständigen lassen. Er wird heute Nachmittag kommen und dir Material sowie Werkzeug bringen. Und nun geh.“ Dantra war sich im Klaren darüber, dass jeder weitere Versuch, gegen ihre Entscheidung zu protestieren, vergebens wäre. Im Nachhinein wunderte er sich sowieso, dass sie so verhalten reagiert hatte, als er ihr ins Wort gefallen war. „Und Dantra“, fügte Schwester Burgos noch hinzu, als er sich bereits in Richtung Tür bewegte, „rede so wenig wie möglich über diesen Vorfall.“ Geknickt und mit den Nerven am Ende verließ er die Leitungsstube und schleppte sich zum Klassenzimmer, wo der Unterricht bereits begonnen hatte.
Die nächsten beiden Tage zogen an ihm vorüber, als steckte er nicht in seinem Körper. Seine Gedanken drehten sich nur noch um die eine Frage: Wie sollte er sie beschützen, wenn er nicht einmal das Haus verlassen durfte?
Als er am Tag von Tamis 19. Geburtstag aufwachte, hatte er die Antwort darauf noch immer nicht gefunden. Am liebsten wäre er für immer auf seiner frisch reparierten Pritsche liegen geblieben. Sein Magen rebellierte vor Nervosität und seine Augen brannten vor Müdigkeit, da noch nicht viel Zeit vergangen war, seit der Schlaf seinem Grübeln ein Ende bereitet hatte. Er verspürte das erste Mal seit vielen Jahren das Bedürfnis zu weinen. Vom Gedanken des Abschieds niedergeschlagen, warf er widerwillig seine Nachtdecke zurück, die er sich bis über beide Ohren gezogen hatte, und blinzelte nun in das helle durchs Fenster scheinende Morgenlicht. Um sich an dieses zu gewöhnen, brauchte er meistens etwas länger. Jedoch nicht an diesem Tag. Denn schon nach dem zweiten Blinzeln bemerkte er, dass irgendetwas Großes, Schwarzes vor seinem Fenster saß. Blitzartig richtete er sich auf.
„Das