Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch
kommt sie auf keinen Fall zurecht. Und wenn derjenige mich kennt, so wie es ja den Anschein macht, dann weiß er, dass er ihr lieber nichts antun sollte.“
Der Versuch, sich selbst Mut zu machen und diese schwierige Entscheidung zu treffen, hatte nur kurzzeitig Erfolg. Gerade einmal so lange, bis er sich von Tami verabschiedet und ihr den genauen Ort erklärt hatte, wo sie sich unverzüglich einfinden sollte. Denn schon kurz nachdem die Hofpforte hinter ihr geschlossen wurde, kamen ihm erste Zweifel. Der Tod unter den wüsten Beschimpfungen der Dorfbewohner auf dem brennenden Scheiterhaufen konnte human sein, verglichen mit dem, was der mysteriöse Fremde mit ihr machen konnte. Und egal, wie groß Dantras Zorn gegenüber dem Peiniger seiner Schwester wäre, und auch wenn diese unbändige Wut nicht gekannte Kräfte in ihm wecken würde, war er ihm vielleicht dennoch hoffnungslos unterlegen. Dann könnte er zwar um seiner Ehre willen durch den übermächtigen Feind in den Tod gehen, Tami jedoch würde es auch nichts mehr nützen.
Die folgenden Tage und Wochen kamen Dantra vor, als würden sie sich im Kreis drehen und niemals ein Ende finden. Er lief wie in Trance durch sein Alltagsleben. Im Unterricht glänzte er durch Unaufmerksamkeit, sodass er nicht selten von Schwester Melk zurechtgewiesen wurde. In den Pausen bemerkte er nicht einmal die hämischen Bemerkungen von Biff. Und in seiner Freizeit verharrte er schweigend und in Gedanken vertieft auf seiner Stube. Mehrmals täglich sah er auf sein Fensterbrett. Aber weder ein Rabe noch eine abgelegte Papyrusrolle war dort zu sehen. Nichts, was darauf hindeutete, dass es Tami gut ging. In einem leichtsinnigen Moment hatte er den Entschluss gefasst, sich unerlaubt vom Klostergelände zu entfernen, um nach ihr zu suchen. Er verwarf jedoch den Gedanken, noch bevor er sich von seiner Pritsche erhoben hatte. Würden sie ihn erwischen, so wäre die Schwester Oberin gezwungen, ihn nach seinem offiziellen Übergang in das selbstständige Leben an den Dorfdullpin zu überstellen. Dabei würde er nur noch weitere wertvolle Zeit verlieren. Denn die Vorschriften des Klosterheimes waren auf die Gesetze der Drachen abgestimmt. Bei gewissen Verfehlungen war es daher auch der lange Arm des Drachengesetzes, der die dafür festgelegte Bestrafung einforderte. Somit blieb ihm nur eines, was er tun konnte: warten.
Nach dem geltenden Drachenkalender war ein Jahr in vier Viertel eingeteilt. Ein jedes hatte einundneunzig Tage. Wenn die ersten Blätter fielen und die Kürbisernte anstand, begann das Imberviertel. Gefolgt, zusammen mit dem ersten Schnee, vom Frigusviertel. Dem schloss sich das Viertel Floridus an, das Umbrarus die Farbenpracht wieder zurückgab. Der momentan herrschende Jahresabschnitt hieß Calor. Es war die wärmste Zeit und für viele auch die schönste.
Der 57. Tag dieses Viertels war angebrochen, und es war Dantras siebzehnter Geburtstag. Der Tag, dem er so sehnlich entgegengefiebert hatte. Der Tag, an dem er endlich diese erdrückenden Mauern, die zumeist engstirnigen Schwestern und vor allem Mitschüler wie Biff für immer hinter sich lassen würde. Aber vor allem war es der Tag, an dem er die Gewissheit darüber erlangte, wie es Tami ging. Ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sie zu dem unbekannten Verfasser der mysteriösen Botschaft zu schicken. Denn seine schlimmsten Befürchtungen wurden noch dadurch bestärkt, dass er selbst an seinem Entlassungstag keine Pergamentrolle bekommen hatte, auf der ihm beschrieben wurde, wo er sich einzufinden hatte oder wo er seine Schwester finden konnte.
Nervös und ungeduldig, wie er an diesen Morgen war, lief er die steinerne Wendeltreppe viel zu schnell hinunter, sodass er die letzten zwei Stufen ungewollt mit einem Schritt nahm, sein Gleichgewicht verlor und unsanft auf dem harten Boden aufschlug. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen, allerdings bemerkte er, dass ihm sofort die Schamröte ins Gesicht stieg. Denn man konnte vom Essenssaal den Treppenansatz sehr gut einsehen. Allerdings blieb das schadenfrohe Gelächter seiner Mitschüler wider Erwarten aus. Während er sich aufraffte, bemerkte er, dass noch niemand von den anderen da war. Seitdem er im Eberbachkloster lebte, hatte er es noch nie geschafft, der Erste beim Frühstück zu sein. Nur Schwester Casale, vom Geräusch des Aufpralls angelockt, schob ihr rundes Gesicht hinterm Rahmen der Küchentür hervor. Ihr verwunderter Ausdruck, weil sie ihn um diese Zeit schon hier unten sah, wich ziemlich schnell einem, der so viel bedeutete wie „Typisch Dantra“. Denn gerade in letzter Zeit waren ihm Missgeschicke wie dieses öfter passiert.
Nach dem Frühstück, das er mehr verschlungen als gegessen hatte, stand er, wie er es schon so oft bei älteren Schülern gesehen hatte, mit seinen paar Habseligkeiten in ein Jutetuch gewickelt vor der Leitungsstube der Schwester Oberin. Eingestellt auf die obligatorische Pause zwischen seinem Klopfen und dem auffordernden „Herein!“, zuckte er erschrocken zusammen, als sich der Knauf, den er bereits in der Hand hielt, drehte und die Tür mit Schwung aufgezogen wurde. Schwester Burgos stand ihm zunächst wortlos gegenüber und sah ihn ohne jegliche Regung an.
„Guten Morgen, Dantra. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und Gottes Segen“, sagte sie schließlich trocken. „Wie kann ich dir helfen?“
„Äh ... ich ... äh ...“ Verblüfft und fragend starrte er sie an. „Sie hat nicht vergessen, dass ich Geburtstag habe“, dachte er, „sonst hätte sie mir ja nicht gratuliert. Also muss sie doch genau wissen, was ich von ihr will.“ Völlig irritiert startete er einen zweiten Versuch, sein Anliegen vorzubringen. „Also, ich habe doch Geburtstag und ich ... äh ... also heute ...“
„Ja, ja“, unterbrach sie ihn grinsend, „ist schon gut. War doch nur ein Scherz. Natürlich weiß ich, was du willst.“
Dantra konnte es nicht glauben. Er kannte diese Frau bereits sein Leben lang, und sie war der einzige Mensch, mit Ausnahme von Schwester Arundel, den er noch nie hatte lachen sehen, geschweige denn einen Scherz machen. Und gerade heute, an seinem letzten Tag, gerade da hielt sie ihn zum Narren. Seine Fassungslosigkeit wuchs noch weiter, als Schwester Burgos fortfuhr. „Du kannst uns noch nicht verlassen. Zumindest nicht heute Morgen. Pater William, der natürlich an deiner Verabschiedung teilnehmen möchte, ist zu einem Sterbenden gerufen worden, um ihm die letzte Beichte abzunehmen. Also bring deine Sachen zurück in deine Kammer und begib dich in den Unterrichtsraum.“
Sie drehte sich um und war bereits im Begriff zu gehen, als Dantra den Mund öffnete und ein entrüstetes „Aber ...“ hervorbrachte. Sie wirbelte herum und musterte ihn gleichermaßen empört wie erstaunt. Für gewöhnlich war eine Unterhaltung beendet, wenn sie sich abwandte. Daher war sie es nicht gewohnt, wenn ihr jemand das Fortführen eines Gespräches aufzwang, welches sie als abgeschlossen betrachtete.
Von ihrem nun habichtähnlich aussehenden Gesichtsausdruck eingeschüchtert, beruhigte sich Dantras Stimme umgehend. „Die Beichte?“, fragte er vorsichtig. „Die dauert doch sicher nicht lang, oder?“ Sie zog ihren Mund spitz nach vorn und sah ihn überlegend an. Dantra war sich schnell sicher, dass er anstatt einer Antwort nur eine lautstarke Rüge erhalten würde und die Aufforderung, sich in Geduld zu üben. Doch ihr Gesicht entkrampfte sich wieder.
„Ich kenne nicht den Umfang dessen, was die betreffende Person zu beichten hat, aber ich gehe davon aus, dass es nicht lange dauert“, erklärte sie ihm schließlich. „Jedoch nimmt es zu viel Zeit in Anspruch, um währenddessen tatenlos im Gang herumzustehen. Also glaube mir, wenn ich dir sage, dass wir dich nicht länger warten lassen als unbedingt nötig, und nun tu, was ich dir aufgetragen habe.“ Bevor sie sich erneut von ihm abwandte, sah sie ihm nochmals tief in die Augen. Dantra war natürlich sofort klar, was ihm das sagen sollte. Sie würde auf keinen Fall einen weiteren Versuch, Antworten von ihr zu bekommen, dulden. Geknickt brachte er wie angeordnet seine Sachen zurück in seine Kammer und ging in den bereits begonnenen Unterricht. Die anderen musterten ihn fragend. Schwester Melk jedoch ließ nicht zu, dass irgendeine Art von Unruhe aufkam, was Dantra nur recht war. Denn wenn er in diesem niederschmetternden Moment zu etwas keine Lust hatte, dann war es, Erklärungen abzugeben.
Der Tag zog sich schleichend dahin. Er musste zwar nach der Schule keinerlei Arbeit mehr verrichten, das Warten jedoch wurde so nur noch unerträglicher. Es war bereits später Nachmittag, als es plötzlich an seiner wiederhergestellten Kammertür klopfte und sich im selben Moment der Türknauf drehte. Schwester Arundel sah kurz herein und murmelte etwas, das Dantra als „Komm runter!“ deutete. Er schnappte sich seine Sachen und eilte ihr nach.
Im Speisesaal standen die Schwestern wie an einer Schnur aufgezogen nebeneinander. Doch Pater William war nicht zu entdecken. Nach einem kurzen,