Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch
Rabe, der nun, da Dantra ihn gesehen hatte, mit seinem Schnabel gegen die Scheibe klopfte. Natürlich war es für Dantra unmöglich zu sagen, ob es derselbe Rabe war, den er kurz vor dem für ihn immer noch unerklärlichen Gewaltakt auf seine Einrichtung gesehen hatte. Doch die Wut, die er seinerzeit empfunden hatte, kehrte umgehend zurück. Denn es war gleich, ob es derselbe oder ein anderer war - Rabe blieb Rabe. Damit saß innerhalb kürzester Zeit wieder ein Vorbote des Todes auf seinem Fensterbrett. Und dies gerade an dem Tag, an dem Tami das Klosterwaisenhaus, in dem sie beide lebten, seit Dantra denken konnte, verlassen musste. Gerade in dem Moment, als seine Stimmung den absoluten Tiefpunkt erreicht hatte, war dieses Vorzeichen zum wiederholten Male erschienen und sah ihm erneut direkt in die Augen.
Die abstruse Möglichkeit, dass ein gewöhnlicher Rabe etwas mit seiner zerstörten Stube zu tun hatte, und die Befürchtung, dass er zurückgekehrt war, um nun ihm Schaden zuzufügen, verwarf Dantra schnell. Bebend vor Zorn sprang er auf und eilte zum Fenster. Dabei schimpfte er lauthals los und fuchtelte zusätzlich mit seinen Armen, als kämpfte er bereits mit dem Tier. Der Rabe jedoch zeigte sich von seinem Wutausbruch unbeeindruckt. Er tickte mit seinem Schnabel unbekümmert weiter gegen die Scheibe, als säße Dantra noch immer schweigend auf seiner Pritsche. Irritiert von diesem für einen Vogel ungewöhnlichen Verhalten, hielt er vor ihm inne und sah ihn zweifelnd an. Obwohl sein Puls raste, blieb sein Verstand klar. Und so bemerkte er schnell, dass der Rabe mit beiden Krallen ein zusammengerolltes Stück Pergament hielt, das durch den festen Druck beinahe zerquetscht wurde.
Zögerlich hob Dantra seine Hand und entriegelte das Fenster. Als er es einen Spalt geöffnet hatte, hüpfte der Rabe von der Pergamentrolle herunter. Bevor das Tier sich wegdrehte, hatte es den Anschein, als neige es sein schwarz gefiedertes Haupt, dann flog es zielstrebig davon. Dantra sah dem Raben nach, bis dieser hinter den benachbarten Häusern verschwunden war. Nun fiel sein Blick wieder auf die Pergamentrolle. Er nahm sie vorsichtig zwischen zwei Fingern hoch. Sie war mit einem Symbol versiegelt, das Dantra nicht kannte. Es schien, als wäre ein E mit einem C zusammengedreht worden. Ganz langsam knickte er das Siegel, bis es brach, und entrollte das Schriftstück. Im Nachhinein war er sich nicht mehr ganz sicher, was er erwartet hatte, denn er öffnete das Pergament mit weit über die Brüstung hinausgestreckten Armen. Fakt war aber, dass nur einige Zeilen darauf geschrieben standen. Also verriegelte er das Fenster und setzte sich wieder auf die Pritschenkante. Er rollte die Botschaft erneut aus und las die mit schwarzer Tinte geschriebenen Sätze.
Ich kenne deine Sorgen und kann sie gut verstehen. Ich kann dir zwar nicht schreiben, wer ich bin, hoffe aber, dass du meine guten Absichten erkennst und richtig handelst. Sag deiner Schwester, sie soll sofort und ohne Umwege zum Waldrand kommen, wo der Wieselbach aufs freie Gelände fließt. Vernichte dieses Schreiben und rede, Tami ausgenommen, mit niemandem darüber!!!
Als Abschluss hatte der anonyme Schreiber erneut ein großes E mit einem verschnörkelten C darunter geschrieben. Die Nachricht war in einer weißen, dickflüssigen Farbe und in breiter Schrift verfasst. Dantra starrte hoffnungslos verwirrt auf das Stück Pergament. Er wurde das beklemmende Gefühl nicht los, er schliefe noch und wäre dabei in einen tiefen Traum gefallen, der ihm so realistisch vorkam, dass es ihn schauderte. Er legte das Schriftstück zur Seite, stand auf und ging nochmals zum Fenster. Nachdem er es geöffnet hatte, beugte er sich weit hinaus und nahm einen tiefen Atemzug frischer Luft. Dann drehte er seinen Kopf und sah in die morgendlichen Sonnenstrahlen, die die kleine Gasse, an der sein Fenster lag, mit Licht fluteten und die ihn so stark blendeten, dass er seine Augen zukneifen musste. Nun schaute er zurück zu der geheimnisvollen Botschaft auf seiner Pritsche. „Sie ist noch da. Also ist es kein Traum?“ Diese Feststellung beruhigte ihn zwar nicht gerade, aber ein Funken Hoffnung, was die Zukunft seiner Schwester betraf, keimte in ihm auf.
Er nahm das Pergament wieder in die Hände und las es sich erneut durch. „Wer weiß von meinem Problem? Wer weiß, dass ich Angst um Tami habe? Eigentlich doch nur die Schwester Oberin. Aber ... nein!“ Der Gedanke war viel zu abwegig. Sie lebte streng nach den Regeln des Klosters und vor allem nach denen der Drachen. Diese besagten ganz klar, dass das Dressieren von Tieren jeder Art für Normalsterbliche streng verboten war. Nur mit einer schriftlichen Erlaubnis des führenden Dullpins des Ortes war man berechtigt, einen Wachhund abzurichten. Aber alles, was darüber hinausging, zog eine harte Bestrafung nach sich. Außerdem konnte sich Dantra nicht vorstellen, dass Schwester Burgos, die für ihre Ungeduld allseits bekannt war, so gute Nerven besaß, dass sie einen so langen Lernprozess, wie er zweifelsohne erforderlich war, wenn man einen Raben zähmen wollte, durchhalten würde.
Es konnte niemand aus dem Kloster sein, so viel war sicher. Aber wer dann? In den Geschichten von Schwester Cesena hatte er oft gehört, dass es Hexen seien, die mit Vorliebe Raben als Boten in die Außenwelt schickten. Doch die Vorurteile gegenüber Frauen, die man aus unterschiedlichsten Gründen als Hexen bezeichnete, waren Dantra zuwider. Und das nicht ohne Grund. Er selbst hatte noch nie eine Frau gesehen, der man eindeutig nachweisen konnte, eine Hexe zu sein. Und er kannte auch niemanden, der etwas anderes zu erzählen vermochte. Daher hatte er große Zweifel, ob diese überhaupt existierten. Aber vor allem war es die eine bestimmte Sorge, die ihn schon sein halbes Leben beschäftigte und die ihn nur bei dem Gedanken an Hexen bereits verzweifeln ließ. Denn die Angst betraf seine Schwester. Die Gefahr, dass sie der Hexerei beschuldigt werden würde, war immens. Und das nur, weil sie außergewöhnlich schön war. Aus dem Unterricht über gottlose Kreaturen wusste Dantra, was mit Menschen geschehen konnte, wenn sie außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen, wozu leider auch besagte übermäßige Schönheit zählte. Und die Tatsache, dass Tami stumm war, machte die Lage für sie nicht besser. Ganz im Gegenteil. Jegliche Anormalität wurde einem als belastender Hinweis auf Hexerei ausgelegt. Käme es also tatsächlich zu einer Verurteilung, würde ihr junges Leben ein qualvolles Ende auf dem Scheiterhaufen finden. Die Furcht vor dem, was Tami an Leid erfahren konnte, wenn sie das Kloster verließ, war nicht übertrieben. Die Ordensschwestern selbst hatten diese Angst vor einigen Jahren geschürt und durch ihr Handeln noch untermauert.
Es war ihr Schicksalsgeburtstag, an dem sich das Verhalten der Schwestern gegenüber Tami grundlegend verändert hatte. Denn sie hatte die Frage verneint, und so waren sich die Schwestern einig gewesen, dass sie sie zukünftig nur mit einer ausnahmslosen Abschirmung von der Außenwelt bis zu ihrem Übergang in das selbstständige Leben beschützen konnten. Aus diesem Grund untersagten sie ihr jegliches Verlassen des Klostergeländes. Der betitelte Geburtstag war der vierzehnte gewesen, an dem jedes Mädchen, das im Klosterheim wohnte, eine Entscheidung fürs Leben treffen musste. Wenn sie sich entschlossen, dem Orden beizutreten, wurde ihnen eine Nonnentracht übergezogen und sie durften von dem Tage an am Unterricht teilnehmen, den die Jungs bereits mit sieben Jahren erhielten. Zog es sie aber eher zu einem bürgerlichen Leben, so bekamen sie die Ausbildung, die die meisten Mädchen erhielten, die bei ihren Familien lebten. Putzen, Wäsche waschen, kochen und die, wie man ihnen sagte, hohe Kunst, ein Feld richtig zu bestellen.
Die Fähigkeit des Schreibens, Lesens und des Rechnens war dem männlichen Geschlecht vorbehalten. Sie waren es, die die Geschäfte tätigten, Handel betrieben und die Bedürfnisse des Ortes und der Gemeinde gegenüber dem zuständigen Dullpin, dem Ordnungshüter der Drachen, vertraten. Es war vorherbestimmt, dass die Jungs bereits mit siebzehn das Kloster verließen, die Mädchen hingegen erst mit neunzehn. Die geltende Begründung war der Schutz vor den sündigen Verführungen, die überall lauerten und denen Frauen in jungen Jahren eher verfielen. Dantra hatte jedoch bereits früh erkannt, dass die Mädchen nur so lange wie möglich ans Kloster gebunden werden sollten, weil sie überaus günstige Arbeitskräfte waren, auf die man in diesen schweren Zeiten nicht verzichten wollte und konnte.
„Also“, Dantra hielt das Pergament immer noch in der Hand und ging nun unruhig in seiner Kammer auf und ab, „dass mir gerade eine Hexe schreibt und mir helfen will, ist doch sehr weit hergeholt. Wer auch immer der Absender dieser Botschaft ist, die Gewissheit, dass ich ihm vertrauen kann, habe ich nur, wenn ich ihn vorher persönlich treffe. Aber wie? Ich darf das Gebäude ja nicht verlassen.“
Er raufte sich vor Ratlosigkeit die Haare. Was sollte er tun? Sollte er seine Schwester zu einem völlig Fremden schicken. Zu jemandem, den er noch nie gesehen hatte? Dessen Charakter er nicht kannte und dessen Absichten ihm völlig rätselhaft waren? Obgleich ihre Überlebenschancen