Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch


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sehen. Vorsichtig und mit einem aufgesetzten Hundebabyunschuldsblick fragte er: „Wieso, wie spät ist es denn?“

      „Zu spät fürs Frühstück und zu früh fürs Mittagessen“, schimpfte sie, winkte dann aber resignierend ab. „Nach sechzehn Jahren Knechtschaft bei den Farblosen will ich mal nicht so sein. Aber morgen wird rechtzeitig aufgestanden, wir haben viel zu tun. Und jetzt lasst uns endlich essen.“ Sie drehte sich um und ließ sich mit einem Stöhnen auf einem alten Holzstuhl nieder, der unter ihrem eigentlich gar nicht so großen Gewicht nicht minder stöhnte.

      Dantra wusste, dass der Augenblick nicht unbedingt günstig war, aber die Neugierde auf die Antworten seiner zahllosen Fragen loderte in ihm wie ein Flächenbrand. „Warum mussten wir uns gestern so beeilen? Und warum müssen wir vor Anbruch der Dunkelheit in den Keller? Tami hat mir zu verstehen gegeben, dass es mit den Fledermäusen zusammenhängt. Aber ich verstehe nicht, wieso.“ Ihre Gastgeberin sah zu ihm auf. Ihre Augen erinnerten ihn an die von Schwester Burgos. Es war unmöglich, in ihnen zu erkennen, ob sie vor Wut kochte oder einfach nur über eine angebrachte Reaktion nachdachte.

      „Die Fledermäuse sind den Drachen hörig“, sagte sie schließlich und ihre Stimme hörte sich dabei immer noch leicht gereizt an. „Sie berichten ihnen und ihren Schergen, was sie des Nachts wahrnehmen. Ich weiß zwar nicht, ob es irgendjemanden interessiert, dass ihr hier seid, jedoch möchte ich es auch nicht in Form eines Drachenangriffs erfahren. Und nun setz dich und zügle deine Neugier. Wenn ich der Meinung bin, dass du etwas wissen musst, sag ich es dir, auch ohne dass du danach fragst.“ Wenn Dantra etwas bei den Nonnen gelernt hatte, dann, dass es Momente gab, in denen man schweigen sollte. Er tat also wie ihm aufgetragen und setzte sich.

      Der Tisch war bereits gedeckt und Tami stellte eine Pfanne dazu, in der goldgelbe Rühreier zischten. Doch im Gegensatz zum Rührei im Kloster war dieses mit saftigen, unverschämt lecker riechenden Speckstreifen durchzogen. Dantra fiel auf, dass überhaupt ungewöhnlich viel Wurst und Fleisch auf dem Tisch standen. Eigentlich war dies ein Zeichen dafür, dass der Gastgeber vermögend war. Wenn er sich so umschaute, war das aber der einzige Hinweis auf viel Geld. Die Wände hingen voll mit kleinen Regalen, auf denen Karaffen und Fläschchen aus Glas und Ton standen. Einige waren gefüllt, andere auf den Kopf gestellt, damit kein Staub hineinfiel. An den unzähligen Haken, die überall dort angebracht waren, wo die Wand noch den Platz dafür hergab, hingen kleine Ledersäckchen, zum Strauß gebundene Trockenblumen und Holzschlaufen in den verschiedensten Größen. Über einer Leine, die von einer Seite der Küche zur anderen verlief, hingen Jutetücher in den unterschiedlichsten Maßen, unterbrochen von größeren Trockenpflanzen, die kopfüber in den Raum ragten. Zu beiden Seiten des Herdes standen auf einer Bordüre kleine Kupferkessel und Mörser aus Stein, Holz sowie Marmor. Auch hier waren Haken in die Wand geschlagen, an denen Kochlöffel, lange Gabeln und Messer von beängstigender Größe hingen. Es waren allerdings auch Geräte und Werkzeuge zu sehen, von denen Dantra noch nie gehört hatte. Und von denen er sich auch nicht erklären konnte, wofür man sie benutzen sollte. Seine Überlegungen verliefen aber im Sande, als das erste krosse braune Speckstück zwischen seine Zähne geriet und beim Zerbeißen einen Geschmack entfaltete, dass er das Gefühl hatte, sein Gaumen würde ein riesengroßes Fest feiern, zu dem alle für das Schmecken zuständigen Sinnesorgane eingeladen waren. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so viel gegessen zu haben, was zur Folge hatte, dass er sich ebenfalls nicht erinnerte, es jemals bereut zu haben. Denn nachdem er seine Gabel abgelegt hatte, wurde er sofort von der Hexe hochgescheucht. Es dauerte nicht lange und er fand sich mit einem Eimer, der bis zum Rand mit Wasser gefüllt war, auf dem von Wurzeln durchzogenen Rückweg zur Hütte wieder.

      Die Hexe hatte ihm aufgetragen, Wasser aus dem Bach zu holen, der sich in einiger Entfernung durch einen Fichtenwaldabschnitt schlängelte. Als er an der Hütte ankam, stand sie schon wartend und mit grimmigem Blick neben einem zweiten Eimer. „Ich kann in meinem Alter nicht mehr so gut sehen, also verbessere mich ruhig, wenn ich mich irre. Aber hast du nicht zwei Hände?“

      Dantra, schon mit einem Eimer völlig überlastet, hätte ihr am liebsten die einzige Antwort gegeben, die seiner Meinung nach alle Unklarheiten beseitigt hätte. „Noch so eine überflüssige Frage und Ihr werdet bemerken, dass ich neben zwei Armen und einem linken Fuß auch einen rechten habe. Und um das festzustellen, braucht Ihr nicht einmal gut sehen zu können. Es reicht, wenn Ihr Euch einfach kurz umdreht.“ Er besann sich jedoch seiner guten Manieren und dachte daran, dass es Tami bei der Hexe in den letzten zwei Monaten anscheinend recht gut ergangen war. Also antwortete er nur knapp und bemüht höflich: „Ja, ich habe zwei Hände.“

      „Na, dann kannst du ja auch zwei Eimer tragen, oder?“ Sie gab ihm den leeren Kübel und entleerte den vollen über einem kleinen Teil des Beetes, das einmal rings ums Haus herum angelegt war und das man einzig an der lockeren Erde erkannte. Denn es war noch nicht ein einziger Trieb zu sehen.

      „Soll das heißen, ich trage das ganze Wasser hierher, nur damit Ihr Euer Blumenbeet damit gießen könnt?“ Dantras Stimme klang nun doch etwas unbeherrscht.

      „Du trägst das Wasser hierher, damit du das Essen, das du heute Abend bekommst, auch wirklich verdient hast. Im Leben gibt es nichts umsonst, es wird Zeit, dass du das lernst. Und nun geh schon, wenn du hier fertig bist, gibt es noch mehr für dich zu tun.“ Mit einer gut sichtbar pulsierenden Halsschlagader nahm er ihr den entleerten Eimer aus der Hand und machte sich erneut auf den Weg zum Bach. Egal, was sie ihm an Arbeit auftrug, es handelte sich dabei immer um körperlich anstrengende Aufgaben, die ihn viel Kraft kosteten. Er hatte das Gefühl, er könne jeden seiner Knochen im Leib spüren, als er sich erschöpft an dem reich gedeckten Abendbrottisch niederließ. Jedes Mal, wenn er die Gabel zum Mund führte, hatte er Schmerzen, als würde ihm jemand mit einem Knüppel auf den Arm schlagen, um ihn so am Essen zu hindern.

      Dantra zweifelte daran, dass die Arbeit, die er heute geschafft hatte, wirklich immer sinnvoll war. Er hatte eher den Eindruck, sie diente nur dazu, ihn seiner Kräfte zu berauben. Doch auf Diskussionen mit der Hexe wollte er sich nicht mehr einlassen, dafür war er viel zu müde. Als er bereits auf dem Treppenabsatz stand, fiel ihm aber noch eine Frage ein, die er schon den ganzen Tag hatte stellen wollen. „Wie heißt Ihr eigentlich?“

      Die Hexe, noch am Tisch sitzend, sah auf. „Frag deine Schwester, sie kennt meinen Namen“, erwiderte sie.

      Dantra blickte sie ratlos an. „Tami kann weder reden noch schreiben, also wie soll sie es mir mitteilen?“

      „Indem ihr die Zeit dort unten sinnvoll nutzt und du ihr das Lesen und Schreiben beibringst.“ Dantra war sich nicht sicher, ob sie es ernst meinte oder ihn mit dieser Antwort nur wieder ärgern wollte. Doch sie war aufgestanden und schien etwas auf einem mit Fläschchen und Tonkrügen völlig überfüllten Regal zu suchen. „Hätte sie mich wirklich reizen wollen, so würde sie nicht den Blick von mir nehmen“, überlegte Dantra. „Sie würde mich stattdessen herausfordernd ansehen und meine Reaktion abwarten.“ Und so gingen seine Gedanken in eine andere Richtung. „Wenn Tami schreiben könnte“, überlegte er sich beim weiteren Hinabsteigen in den Keller, „hätten wir die Möglichkeit, uns richtig zu unterhalten. Und sie könnte mir sagen, wenn sie was bedrückt oder wenn es ihr einmal nicht gut geht und sie womöglich Schmerzen hat. Wir könnten uns auch einfach mal darüber austauschen, wie der Tag war. Und sie könnte … sie könnte mir sagen, ob sie sich noch an unsere Eltern erinnert.“ Dieser Gedanke weckte die letzten Kraftreserven in ihm, sodass er seine Schmerzen vergaß und sie sich sofort an die Arbeit machten. Er hatte ihr schon den ersten Buchstaben aufs Blatt geschrieben, als die Hexe die Luke noch einmal öffnete und Dantra ein kleines Fläschchen entgegenstreckte.

      „Hier, nimm das und reib dir die Arme, Beine und deinen Nacken damit ein. Wir können es uns zeitlich nicht leisten, dass du wegen Muskelschmerzen bei der Arbeit nur begrenzt einsatzfähig bist.“ Er nahm ihr das grünliche Glasgefäß, das mit einem Korken verschlossen war, aus der Hand und ging zurück zum Tisch.

      „Was die immer mit ihrer Zeit hat“, murmelte er, „hier treibt uns doch nichts.“ Er setzte sich wieder zu Tami und fuhr mit seinem Unterricht fort.

      Die restliche Woche verlief für Dantra, wie sie begonnen hatte. Tagein, tagaus musste er die verschiedensten


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