Landsby. Christine Millman

Landsby - Christine Millman


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Ich bin perplex. Mein Vater rät mir, nicht zu gehen. Mein Vater! Das ist ein regelrechter Schock.

      Angespannt balle ich die Hände zu Fäusten. »Ist das dein ernst?«

      Er zögert. Ich erkenne seinen inneren Kampf.

      »Riskierst du damit nicht deinen Posten?«, fahre ich fort. »Alles, wofür du so hart gearbeitet hast?«

      Daran hätte ich ihn lieber nicht erinnern sollen. Seine Arbeit bedeutet ihm alles. Mehr als seine Frau und auch mehr als ich. Eine halbe Minute verstreicht, während der ich beobachten kann, wie sein Wagemut versiegt und die Vernunft die Oberhand gewinnt. Er strafft sich, seine Miene wird hart. Resigniert wende ich mich wieder meiner Tasche zu, stopfe zwei Jeanshosen und fünf Paar Socken hinein und ziehe den Reißverschluss zu. »Fertig.«

      Mein Vater greift nach der Tasche, doch ich bin schneller und schnappe sie ihm weg.

      »Ich bringe dich hin«, sagt er.

      »Nicht nötig«, stoße ich unnötig giftig hervor. »Das schaffe ich allein. Schließlich bin ich eine Heldin

      Das medizinische Zentrum besteht aus einem riesigen, mit einem Maschendrahtzaun gesicherten Bereich aus drei u-förmig angeordneten Betonbauten mit Flachdach. Um hineinzugelangen, muss man durch das Laborgebäude zu einer verschlossenen Hintertür hinaus. Ich komme mir vor wie eine Verbrecherin, als mich Oberst Weiß in Empfang nimmt und mich über das Gelände zu einem Tor führt, das sich auf ein Signal hin öffnet. Es gibt nicht viel Grün in der Kolonie, doch hier ist es wie in der Wellblechsiedlung. Trocken und trostlos. Die Sonne knallt auf die Flachdächer hinab, bringt die Luft zum Flimmern. Zwischen den Gebäuden zu meiner Rechten entdecke ich einen Spielplatz. Eine Rutsche, eine Wippe und zwei Schaukeln aus Metallgestänge, von dem die Farbe abblättert. Rost blitzt an einigen Stellen hervor. Er wirkt nicht weniger trostlos als das Gelände.

      Vor dem Eingang des Gebäudes Nummer drei, welches sich an der Stirnseite befindet, haben sich zwei Soldaten der Neuen Armee postiert, eine Frau und ein Mann. Beide sind blutjung, ungewöhnlich groß und muskulös. Ihre Gesichter ähneln einander, als wären sie Geschwister.

      Sie salutieren, grüßen aber nicht. Langsam erwache ich aus meiner Lethargie und spüre, wie die Aufregung durch meine Eingeweide kriecht und sich in meinem Magen zu einem Klumpen verdichtet.

      »Keine Sorge«, sagt Oberst Weiß mit einem Blick auf mein Gesicht. »Die Soldaten dienen unserem Schutz. Innerhalb der Häuser und auf dem Gelände dürfen sich die Probanden frei bewegen.«

      Die Probanden. Dazu gehöre ich. Ich frage mich, vor was die Soldaten uns beschützen sollen. Das Gelände ist komplett umzäunt. Und warum sollte jemand den Wunsch verspüren, gerade hier einzudringen?

      Oberst Weiß lotst mich durch die Tür und führt mich zu einem Empfangstresen, hinter dem ebenfalls eine jugendliche Soldatin sitzt. Sie ist definitiv jünger als ich und ich wundere mich, warum ich sie nie in der Schule gesehen habe. Sie salutiert und reicht Oberst Weiß ein Formular und einen Stift. Dafür, dass Papierknappheit herrscht, gibt es im medizinischen Zentrum ausgesprochen viele Formulare, finde ich.

      Während er schreibt, sehe ich mich um. Der Eingangsbereich wirkt verhältnismäßig freundlich. Mehrere mannshohe Kakteen und Drachenbäume entlang der Wände und ein halbes Dutzend gut erhaltener Sessel in der Ecke verleihen dem Raum einen Hauch Gemütlichkeit. Wieder stelle ich mir vor, wie viele Menschen aus der Wellblechsiedlung hier bequem Platz fänden.

      Nachdem Oberst Weiß alles ausgefüllt hat, führt er mich durch einen Gang mit fensterlosen Räumen zu beiden Seiten. Die Türen stehen offen, doch die Räume liegen im Dunkeln. Blaue und weiße Lichter blinken, erhellen für den Bruchteil einer Sekunde unheimliche Apparaturen.

      »Das ist die medizinische Station. Hier werden die Untersuchungen und Eingriffe durchgeführt«, erklärt Oberst Weiß. »Deine Untersuchungen beginnen übermorgen. Bis dahin hast du Zeit, die Räumlichkeiten und die anderen Probanden kennenzulernen.«

      Im zweiten Stock führt er mich zu einem jungen Mann, der vor der Tür auf uns wartet. Er ist ganz in Weiß gekleidet, und obwohl er kein Mitglied der Neuen Armee zu sein scheint, ist sein blondes Haar millimeterkurz geschoren.

      »Samuel«, sagt Oberst Weiß. »Das ist Jule, unser Neuzugang.«

      Samuel mustert mich aus schmalen, graugrünen Augen. Sein gelangweilter Blick und sein Schmollmund erinnern mich an die Empfangsdame, bei der ich mich eine Woche zuvor angemeldet habe.

      »Samuel wird dich herumführen«, erklärt Oberst Weiß, als dieser keine Anstalten macht, mich zu begrüßen. Dann verabschiedet er sich und lässt mich mit dem missmutigen Kerl allein.

      »Folge mir«, sagt Samuel. Seine Stimme klingt angenehm weich aber der Tonfall zeugt von völligem Desinteresse gegenüber meiner Person. Gelangweilt führt er mich durch die Flure zu meinem Zimmer. Der Ärger über seine unhöfliche Schweigsamkeit vertreibt fast meine Aufregung. Sind ein paar freundliche Worte angesichts meines Opfers etwa zuviel verlangt?

      Das Zimmer ist größer als mein Zimmer zuhause und verfügt über ein eigenes Bad. Für mich ist das nichts Besonderes, aber ich kann mir gut vorstellen, wie das auf jemanden aus der Wellblechsiedlung wirken muss. Samuel nickt mir zum Abschied zu und schließt die Tür. Weder hat er mir verraten, wie es weitergeht, noch was heute passieren wird. Soll ich für den Rest des Tages in meinem Zimmer bleiben? Was ist mit Essen? Ermattet sinke ich auf das Bett, schlinge die Arme um meine Knie und starre auf das Stillleben an der Wand. Sonnenblumen in einer Vase. Ob irgendwo auf der Welt überhaupt noch Sonnenblumen wachsen? In der Kolonie ist es jedenfalls zu trocken dafür.

      Ich vermisse meine Freiheit.

      Und Manja und Paul. Sogar meinen Vater vermisse ich, obwohl der Gedanke an ihn zugleich verbunden ist mit Wut. Außerdem habe ich Angst vor dem was mich erwartet. Mut zählt nicht gerade zu meinen Stärken. Wenn dem so wäre, befände ich mich nicht an diesem Ort, sondern mit Manja in der Außenwelt. Im Augenblick erscheint mir ein Leben als Gebärmaschine erstrebenswerter als ein Leben in ständiger Angst vor Mutanten, wilden Tieren, Hunger und Durst, doch wer weiß, ob das so bleibt. Vielleicht halte ich es eines Tages nicht mehr aus und ziehe die Ungewissheit vor, wie einst Fabios Tochter.

      Die düsteren Gedanken machen mich traurig und müde, sodass mir selbst der Gang zur Toilette schwerfällt. Am liebsten würde ich die nächsten zehn Jahre verschlafen. Ein energisches Klopfen reißt mich aus meinen Grübeleien. Mit pochendem Herzen blicke ich zur Tür. Ich habe den Verschlussknopf des Türknaufs betätigt, damit sie sich nicht von außen öffnen lässt, doch wirklichen Schutz bietet das nicht. »Ja?«

      »Hier ist Samuel. Ich soll dich zum Essen abholen.«

      Er klingt freundlicher als am Morgen. Immerhin. Appetit verspüre ich allerdings keinen und auch kein Verlangen nach Gesellschaft. Ich will in Ruhe gelassen werden und mich meinem Elend hingeben. »Ich hab keinen Hunger.«

      »Komm schon. Du musst etwas essen«, drängt er.

      Ich verharre in trotzigem Schweigen. Meine Freiheit haben sie mir genommen, doch wann und ob ich etwas esse, entscheide immer noch ich.

      Er seufzt extra laut, damit ich es auch nicht überhöre. »Es ist hart, ich weiß. Du vermisst dein Zuhause und deine Familie, aber du kannst nicht ewig in deinem Zimmer hocken. Irgendwann holen sie dich raus, notfalls mit Gewalt. Je eher du dich mit deiner Situation abfindest und aufhörst, dich wie ein trotziges Kind zu benehmen, umso schneller wirst du erkennen, dass alles halb so wild ist.«

      Ich schnaube. Im einem hat er recht. Mein Verhalten ist kindisch, doch das alles halb so wild ist, das kann er mir nicht erzählen. »Warum bist du plötzlich so freundlich?«, stoße ich hervor.

      »Tut mir leid. Vorhin war ich müde.«

      Das halte ich für eine Lüge. Bestimmt hat ihm jemand ins Gewissen geredet.

      »Hier sind alle sehr nett«, fährt er fort, »ehrlich.


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