Landsby. Christine Millman

Landsby - Christine Millman


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mich fest. »Nun lauf doch nicht weg.«

      Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Den ganzen Nachmittag habe ich darauf gewartet und jetzt, wo ich die Heulerei gar nicht gebrauchen kann, fängt es an. Verdammt.

      Energisch reiße ich mich los. »Bestimmt bekommst du einen Bonus für jede erfolgreiche Schwangerschaft oder eine Beförderung.« Meine Worte sollen sarkastisch klingen, doch der weinerliche Unterton ist deutlich herauszuhören. Das ärgert mich.

      »Jule, bitte. Hör auf damit!«

      Ich fahre herum und blitze ihn zornig an. Eine Träne stiehlt sich aus meinem Auge, vielleicht auch zwei. »Womit denn?«

      »Mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich tue, was getan werden muss. Für uns. Für die Kolonie. Warum siehst du nicht, welche Ehre es ist, dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen?«

      Ich habe keine Lust, über das verdammte Wohl der Kolonie zu diskutieren, das ist mir nämlich völlig egal. Ich will ihm auch nicht erklären, wie sehr es schmerzt, dass er mich verhökert wie einen Sack Kartoffeln. Zum Wohle der Kolonie, das ich nicht lache. Ihm geht es doch nur um seine Karriere. Wenn seine Tochter eine Handvoll gesunder, kräftiger Säuglinge zur Welt bringt, kommt das bei der Führungsspitze bestimmt gut an.

      »Ich will keine Scheiß Gebärmaschine sein«, brülle ich, »und die Kolonie ist mir schon lange scheißegal.«

      Ich schüttle seine Hand ab, stürme in mein Zimmer und knalle die Tür zu. Schluchzend werfe ich mich aufs Bett und schluchze ich in mein Kissen, bis es überall nasse Flecken hat.

      Eine Stunde später, ich habe noch immer nicht aufgehört zu weinen, klopft es an der Tür. »Jule?«

      Manja. Ich ziehe die Nase hoch und trockne meine Wangen mit dem Handrücken. Meine Augen fühlen sich geschwollen an und brennen. Bestimmt sehe ich total verheult aus. »Was willst du hier?«

      Sie öffnet die Tür und mustert mich kurz, verliert aber kein Wort über meinen Zustand. »Komm. Wir gehen zum Wasserturm.«

      Paul hat Schmalzbrote mitgebracht und Manja eine Handvoll Zauberpilze. Wir sitzen auf dem Wasserturm und lassen die nackten Füße baumeln.

      »Scheiße Jule«, sagt Manja zum gefühlt hundertsten Mal. Sie kann es nicht fassen, dass ich am Programm teilnehmen werde. Mehr als scheiße fällt ihr allerdings nicht dazu ein.

      Paul ergreift meine Hand. »Sieh es als Pflicht und als Ehre. Du wirst eine Heldin sein.«

      Ich schnaube. »Du klingst wie mein Vater.«

      Paul seufzt. »Tut mir leid, aber was hast du für eine Wahl? Die Entscheidung ist getroffen.«

      »Sie hat eine Wahl«, faucht Manja.

      »Hör auf, sie aufzustacheln«, entgegnet Paul. »Was sind denn schon zehn Jahre? Die vergehen wie im Flug und dann hast du ausgesorgt und bist frei und hast zudem noch etwas Gutes getan.«

      »Sie machen sie zu einer Gebärmaschine, du Idiot«, schimpft Manja. »Und verkaufen es als große Ehre. Die anderen mögen darauf reinfallen, doch mir können die nichts vormachen. Das Programm ist Sklaverei.«

      Nach meiner Meinung fragt keiner. Glücklicherweise beginnen die Pilze, zu wirken und die Welt wird leichter. Manja steht auf und verschwindet in der Dunkelheit. Sie wirkt unglaublich wütend. Viel wütender als ich. Mir bleibt keine Zeit, ihren Gemütszustand zu ergründen, denn plötzlich zieht Paul mich an sich und presst seine Lippen auf meine. Zuerst erschrecke ich und versteife mich, doch dann lasse ich es zu, weil es sich gut anfühlt. Weil es mich vergessen lässt, was mich erwartet. Seine Zunge stiehlt sich in meinen Mund und ich schlinge die Arme um seinen Hals und presse mich an ihn. Die Pilze enthemmen mich. Erst als er unter mein T-Shirt tastet, schiebe ich ihn zurück.

      »Nicht vor Manja«, wispere ich und nicke in die Dunkelheit hinter mir.

      Zärtlich streicht er über meine Wange und schiebt eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Er sieht traurig aus. »Wir hätten es miteinander versuchen sollen.«

      Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Jetzt bloß nicht sentimental werden, sonst fange ich trotz der Pilze an zu heulen. »Dafür ist es zu spät.« Ich wende mich ab und lasse meinen Blick über das Land schweifen. Jede Einzelheit nehme ich in mir auf. Das Glitzern des Flusses in der Ferne, den staubigen Boden, die farblosen Häuser. Vor wenigen Tagen erschien mir die Kolonie noch wie ein Gefängnis, doch bald werde ich für sehr lange Zeit nur noch die Mauern des medizinischen Zentrums sehen und wirklich eine Gefangene sein. Eine Laborratte in einem Käfig.

      Irgendwann kommt Manja zurück, hockt sich neben mich und starrt in den sternenübersäten Himmel. Sie wirkt hart und entschlossen. »Wenn du in das Programm gehst, dann verlasse ich dieses Drecksloch.«

      »Du spinnst doch«, stoße ich hervor.

      Sie zuckt mit den Schultern. »Die Außenwelt kann kaum beschissener sein als das hier. Ich habe es so satt. Die Unsicherheit, die Angst davor, krank zu werden oder keine Arbeit zu kriegen. Die tausend Regeln.«

      Ich will etwas sagen, irgendetwas, um sie von dieser fixen Idee abzubringen, aber mir fällt nichts ein. Mein Kopf ist gefüllt mit dem Sternenhimmel und Pauls Kuss, der anders war als die Küsse, die wir zuvor ausgetauscht hatten.

      Wir sprechen nicht viel in dieser Nacht. Die Pilze bringen Erleichterung und lassen das Leben weniger düster erscheinen, doch durch die leuchtenden Farben meines drogenumnebelten Gehirns schimmern dunkle Wolken hindurch, die einfach nicht verschwinden wollen.

      4

      Die Woche ist scheiße. Ich kann nichts tun als warten. Zudem wage ich mich tagsüber nicht mehr aus dem Haus, weil mir jeder gratuliert. Scheinbar hat sich meine Teilnahme am Reproduktionsprogramm rasend schnell herumgesprochen. Naja, ich darf den Leuten keinen Vorwurf machen. Sie meinen es gut und ich selbst habe bis vor Kurzem noch den Teilnehmerinnen gratuliert, wenn auch eher aus Pflichtgefühl als aus echter Begeisterung. Mein Vater geht mir aus dem Weg. Entweder plagt ihn das schlechte Gewissen oder er hat keine Lust auf meine miese Laune. Ungeduldig sitze ich in meinem Zimmer und warte auf die Abende, die ich nutze, um ungestört umherzustreifen. Manchmal gehe ich zum Fluss, beobachte die Spiegelungen der untergehenden Sonne im Wasser oder gehe baden, obwohl ich weiß, dass es gefährlich ist. Die Strömungen sind nicht zu unterschätzen. Mein achtzehnter Geburtstag rückt unaufhaltsam näher. Jede Nacht vor dem Schlafengehen krame ich den Vertrag unter der Matratze hervor und lese ihn durch, immer und immer wieder. Mittlerweile kann ich ihn auswendig.

      »Komm mit!«, befiehlt Manja mit ernster Miene, als ich sie am Tag vor meinem Geburtstag in der Wellblechsiedlung treffe. »Das musst du dir ansehen.«

      »Was denn?«, will ich wissen, während ich ihr über die staubigen Wege folge.

      Meine Freundin wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Heute wird jemand verbannt.«

      »Wirklich? Woher weißt du das?« Normalerweise müsste ich diejenige sein, die von so etwas erfährt, schließlich sitzt mein Vater an der Quelle, führt die Verbannungen oft sogar persönlich durch. Er nennt es eine unangenehme Pflicht. Manja nennt es unmenschlich.

      »Mein Bruder hat es mir erzählt. Es ist einer seiner Arbeitskollegen«, erklärt sie.

      Ich runzle fragend die Stirn.

      »Er hat Pilze verkauft«, fügt sie hinzu. Ich kann sehen, dass ihr das Sorgen bereitet. Ihr Bruder könnte an Stelle dieses armen Teufels sein und sie weiß das.

      »So ein Mist«, sage ich nur. Kein Wunder, dass Paul nicht bei uns ist. Sie hat ihm nichts von der Verbannung erzählt, weil er dann wieder eine Moralpredigt halten würde. Scheinheilig plädiert er dafür, sich an die Regeln zu halten und verurteilt den Handel mit den Pilzen, nimmt sie aber trotzdem.


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