Landsby. Christine Millman

Landsby - Christine Millman


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Stelle, nimmt eine Nadel und führt sie in meine Vene ein. Es klappt auf Anhieb. Fasziniert beobachte ich, wie mein Blut in das Röhrchen rinnt. Dunkles, dickflüssiges Blut, das mich verrät und zu einem Leben als Gebärmaschine verbannt.

      Als Oberste Weiß genug beisammenhat, immerhin drei Röhrchen voll, bittet er mich, ihm zu folgen. Ich gehorche, obwohl alles in mir abhauen will. Wir betreten einen kleinen, düsteren Raum, in dem eine Liege aus einer zweimanngroßen Röhre ragt. In der Wand neben der Tür ist ein Fenster eingelassen, hinter dem ich einen Monitor und eine Schalttafel erkennen kann.

      Ich deute auf das runde Ungetüm vor mir. »Was ist das?«

      »Ein Magnetresonanztomograph oder kurz MRT. Der Einzige in den fünf Kolonien.«

      Na toll. Soll mich das etwa beeindrucken? »Was tut er?«

      Oberst Weiß lächelt stolz. »Damit können wir sehen, ob sich dein Gehirn oder andere Organe in deinem Körper verändern, und prüfen, ob du die restriktive Form des Virus in dir trägst. Das Gerät zeigt zudem die Stabilität deiner Körpertemperatur, die Blutflussgeschwindigkeit und die Gewebeelastizität.«

      Mir wird schlecht. Unwillkürlich frage ich mich, wie viele Menschen wohl schon darin gelegen und anschließend erfahren haben, dass sie die chronische, langsam fortschreitende Form des MM-Virus tragen, dessen erste Symptome sich für gewöhnlich frühstens ab dem zwanzigsten Lebensjahr zeigen. In der Schule kursieren die wildesten Gerüchte darüber, wie man vor dem Test feststellen kann, ob man den MM-Virus trägt. Haarausfall, Müdigkeit, häufig auftretender Durchfall oder Sehschwäche würden auf MM hindeuten. Alles quatsch hat mein Vater gesagt. Vor dem Ausbruch der Krankheit kann man eine Infektion nur durch bildgebende Verfahren und eine Blutuntersuchung feststellen. Das Gute an dieser Form des Virus ist, dass er nicht mehr ansteckend ist, doch da die Mediziner befürchten, dass er jederzeit wieder in seine aktive, hochansteckende Form mutieren könnte, empfehlen sie die Verbannung Infizierter bereits vor Ausbruch der Krankheit.

      Kurz vor Mutters Tod habe ich meinen Vater gefragt, warum es kein Heilmittel gibt, wo doch die Wissenschaftler seit einer halben Ewigkeit daran forschen. Er erklärte mir, dass es erste Erfolge gegeben habe, was einen Impfstoff betrifft, es aber zu Fehlschlägen gekommen sei. Dabei hat er ganz komisch gekuckt, irgendwie bedrückt, als würde ihn etwas quälen. Damals habe ich es darauf geschoben, dass meine Mutter und mein Bruder im Sterben lagen, doch nun bin ich mir gar nicht mehr so sicher. Wer kann sagen, was wirklich in ihm vorging oder was er angestellt hat?

      Oberst Weiß unterbricht meine Grübeleien. »Verhalte dich ruhig und konzentrier dich auf einen Punkt.« Er drückt mir einen roten Schalter in die Hand. »Solltest du Panik bekommen, drück’ den Knopf, doch versuche bitte, keine zu bekommen, sonst dauert es umso länger.«

      Ich nicke stumm.

      »Setz die Kopfhörer auf, das dämpft die Lautstärke«, fügt er hinzu.

      Ich nehme die Hörer und stülpe sie über meine Ohren. Langsam fährt die Liege in das Innere der Trommel. Oberst Weiß löscht das Licht und verlässt den Raum. Es ist eng und unheimlich in dem Ding, wie in einem runden Sarg. Ich atme tief durch und kneife die Augen zu, um wenigstens gedanklich der Enge zu entfliehen.

      Während ich dem lauten Tocktocktock lausche, denke ich darüber nach, wie viele Menschen schon verbannt worden sind, und frage mich, ob sie noch leben. Die Verbannung geschieht üblicherweise in aller Stille. Die Machthaber wollen Aufsehen oder Menschenaufläufe vermeiden. Schwer bewaffnete Soldaten und zwei oder drei Angehörige sind die Einzigen, die den Verbannten zum Tor begleiten. Alle anderen verschließen die Augen, wollen nicht sehen, was ihnen bevorstehen könnte, sollten sie aus irgendwelchen Gründen eine Belastung für die Kolonie werden.

      Das Klopfen wechselt plötzlich zu einem nervtötenden Rattern. Erschrocken hebe ich den Kopf und versuche, zu lokalisieren, woher der Laut kommt.

      »Bitte nicht bewegen, sonst muss ich die Sequenz wiederholen«, dringt Oberst Weiß’ Stimme in mein Ohr.

      Ich atme tief durch und versuche, mich zu entspannen. Eine halbe Ewigkeit liege ich in der Trommel, lausche den wechselnden Lauten und stellte mir vor, welche Abartigkeiten Oberst Weiß auf seinem Monitor erkennen mag. Der Gedanke schenkt mir Hoffnung, denn sollte er eine Anomalie entdecken, bliebe mir wenigstens das Reproduktionsprogramm erspart.

      Schweiß bricht mir aus allen Poren. Wann ist diese elende Prozedur endlich vorüber? Ich unterdrücke den Impuls, mir die Kopfhörer herunterzureißen, den Notknopf zu drücken und zu brüllen, sie sollen mich doch lieber verbannen, als mich mit ihren gruseligen Geräten zu quälen.

      Wie auf Kommando verstummt das Rattern abrupt. Ein leises Summen erklingt und die Liege fährt nach draußen. Theo erwartet mich. Er nickt Richtung Tür. »Oberst Weiß wertet die Ergebnisse aus und gibt dir dann bescheid. Du sollst im Flur warten.«

      Ich versuche, etwas aus seinem Gesicht zu lesen. Wirkt er nervös? Betroffen? Mitleidig? Doch seine Miene bleibt undurchdringlich. Bestimmt hat er das geübt, damit die Leute nicht schon vor der Diagnose in Panik verfallen.

      »Wie sieht es aus? Weißt du schon was?«, frage ich hoffnungsvoll.

      Er schüttelt den Kopf. »Nein, tut mir leid.«

      Im Flur erwartet mich eine Frau in einem weißen Kittel. »Bist du Jule?«

      Ich nicke. Sie mustert mich streng, während sie mir zu meiner Entscheidung gratuliert und sich als Dr. Schneider vorstellt. Dann führt sie mich in einen Raum, in dem ein gynäkologischer Untersuchungsstuhl steht. Ich stocke.

      »Keine Angst, wir machen nur einen Ultraschall und nehmen einen Abstrich. Zur Sicherheit.«

      Ihre Worte beruhigen mich nicht. Im Gegenteil. Ihre emotionslose Stimme und die Tatsache, dass sie mich beim Sprechen nicht ansieht, verunsichert mich. Sie nimmt auf einem Rollhocker platz und deutet auf den Stuhl. Widerwillig schiebe ich mich auf die Sitzfläche, bleibe aber am Rand, damit ich abspringen kann, sollte die Sache unangenehm werden.

      »Leg dich bitte zurück. Mach die Hose auf und schieb dein Shirt hoch«, bittet sie mich. »Keine Sorge. Das tut nicht weh.«

      Ich gehorche und hasse sie dafür. Die Ultraschalluntersuchung ist nicht schlimm, das weiß ich, aber ich fühle mich dabei wie eine Laborratte. Insgeheim hoffe ich, dass sie etwas entdeckt. Einen fetten Tumor oder verkümmerte Eileiter. Irgendwas, das dafür sorgt, dass ich keine Kinder bekommen kann. Könnten die Blutergebnisse vor fünf Jahren nicht ein Irrtum gewesen sein?

      »Sieht alles sehr gut aus«, sagt Dr. Schneider. Ein Hauch Euphorie schwingt in ihrer Stimme mit. »Jetzt mach dich unten frei. Für den Abstrich,« fügt sie hinzu, als sie mein Zögern bemerkt. Ich bekomme kein Wort heraus. Nichts ist mehr übrig von der aufsässigen Jule.

      »Bist du sexuell aktiv?«, fragt sie, während ich die Hose abstreife. Ich spüre, wie ich erröte, und schüttle den Kopf. Sie notiert etwas auf ihrem Klemmbrett.

      »Hattest du bereits Geschlechtsverkehr?«

      Ich nicke. Ab und zu mit Paul, im Lauf unserer Zauberpilz umnebelten Nächte. Aber das erzähle ich Dr. Schneider natürlich nicht. Selbst Paul und ich sprechen nie darüber, weil wir unsere Freundschaft nicht gefährden wollen, denn wer Sex hat, ist meistens auch verliebt, oder? Ich warte auf Dr. Schneiders vorwurfsvollen Blick, auf die Bestätigung, dass sie lieber ein jungfräuliches Versuchsobjekt hätte. Doch ihre Miene bleibt undurchdringlich.

      Als die Untersuchung zu Ende ist, hocke ich mich auf einen grünen Plastikklappstuhl in den Flur und warte. Und warte. Die Minuten tröpfeln dahin. Ab und zu läuft ein weiß gekleideter Mitarbeiter vorbei und nickt mir freundlich lächelnd zu. Meine letzte Hoffnung ruht auf dem MRT. Lieber möchte ich mit einem entarteten Organ leben als eine Gebärmaschine werden. Ist es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass es so lange dauert? Langsam kehrt im Gebäude Ruhe ein. Bis auf Theo, der offensichtlich gelangweilt mit seinem Stuhl kippelt, und zwei Soldaten, die sich neben der Eingangstür postiert haben, ist niemand mehr zu sehen. Die Soldaten sind bei meinem Eintreffen noch nicht da gewesen und in mir wächst der Verdacht, dass sie wegen mir gerufen worden sind. Damit ich nicht abhaue.


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