Landsby. Christine Millman

Landsby - Christine Millman


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      Die Soldaten an der Tür starren an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Ein Faden, der aus dem Saum meines Shirts ragt, dient meinen Fingern als Beschäftigung. Ich drehe und rollte ihn, ziehe ihn immer weiter heraus. Wenn ich so weitermache, kann ich das T-Shirt wegschmeißen.

      »Jule?« Oberst Weiß Stimme schreckt mich auf.

      Ich zucke hoch. »Ja?«

      »Du kannst jetzt kommen.«

      Ich schieße vom Stuhl und stürme ihm nach. Nur einen winzigen genetischen Defekt, mehr brauche ich nicht. Hauptsache genug, um mich für das Reproduktionsprogramm zu disqualifizieren.

      »Bitte setz dich.« Er deutet auf einen Klappstuhl neben dem Tisch mit dem Monitor. Darauf ist in mehreren Aufnahmen ein plastischer Mensch zu sehen in Schwarz-Weiß. Eine Aufnahme zeigt die Organe, eine andere die Adern und das Dritte die Knochen. Dann gibt es noch ein Bild vom Schädel samt Gehirn.

      »Bin ich das?«, frage ich.

      Er nickt. So wie er strahlt, scheint alles in Ordnung zu sein. Egal, ich will es endlich wissen. »Und? Wie sieht’s aus?«

      »Du bist kerngesund. Keine Anzeichen für das Vorhandensein des MM-Virus und auch keine anderen Erkrankungen. Deinem Einsatz für die Kolonie steht nichts mehr im Weg.«

      Wie er das sagt. Als würde er etwas Tolles verkünden. Mir fällt nichts ein, was ich erwidern könnte. Nicht mal ein falsches Lächeln bekomme ich hin. Er ignoriert meine mangelnde Begeisterung, kramt ein paar Zettel aus einer Schublade unter dem Tisch und reicht sie mir. »Normalerweise geben wir den Vertrag erst bei der Aufnahme heraus, doch ich denke, es kann nicht schaden, wenn du ihn vorab sorgfältig durchliest.«

      Sprachlos nehme ich die Zettel entgegen, wie betäubt von seinen Worten. Das Reproduktionsprogramm. Niemals hätte ich gedacht, dass ich daran teilnehmen werde. Ich gehöre nicht zu den Aufopfernden, den Mutigen, den Helden und für Kinder fühle ich mich sowieso viel zu jung. Plötzlich will ich nur noch raus hier. »Kann ich jetzt gehen?«

      »Ja. Für heute sind wir fertig. Wir sehen uns in einer Woche.«

      Eine Woche. Meine Galgenfrist. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf mein transparentes Selbst auf dem Monitor und verlasse den Raum. Theo hält beim Kippeln inne, schaut kurz auf und hält grinsend den Daumen hoch.

      »Wir sehn uns«, sagt er.

      Die Soldaten stehen noch da, doch wie zuvor beachten sie mich nicht. Beim Vorbeigehen fällt mir auf, wie riesig sie sind, bestimmt anderthalb Köpfe größer als ich. Unheimlich.

      Vor dem Haupteingang des medizinischen Zentrums halte ich einen Moment inne. Die Sonne steht hoch am Himmel, heißer Wind bläst mir ins Gesicht. Der Vertrag klebt an meinen schweißfeuchten Fingern. Am liebsten würde ich ihn wegwerfen. Ich blicke zur Mauer und überlege, wie es wäre, diesen Ort zu verlassen. Einfach fortzugehen und eine bessere Welt zu suchen. Kann es das überhaupt geben? Eine bessere Welt? Oder ist die Kolonie das Beste, zu was die letzten Menschen fähig sind? Gibt es dort draußen wirklich nichts als Mutanten und Verbannte, die ihr armseliges und kurzes Leben fristen, dazu verdammt, zu hungern und zu dursten, bis Krankheit oder ein gewaltsamer Tod ihr Dasein beenden?

      Träge setze ich mich in Bewegung, verlasse das Gelände und laufe zum Marktplatz, der heute glücklicherweise geschlossen ist. Einen Menschenauflauf kann ich nicht gebrauchen. Eigentlich will ich mich mit Manja treffen, doch der Wunsch, alleine zu sein um meine Gedanken zu ordnen führt mich in die entgegengesetzte Richtung zum Fluss. Auf der alten Schnellstraße spaziert nur selten jemand herum, weil der Asphalt an vielen Stellen aufgeworfen und mit trockenen Wüstengrasbüscheln bewachsen ist, und so habe ich das Ufer dahinter ganz für mich alleine. Ziellos arbeite ich mich durch Sand, Steine und Gestrüpp. Am alten Bootssteg halte ich inne. Vorsichtig balanciere ich über die morschen Bretter, setze mich an den Rand und ziehe die Sandalen aus. Das kühle Wasser umschmeichelt meine Füße. Die Mittagssonne brennt auf meinen Nacken und treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Ich stoße einen Seufzer aus, nehme den Vertrag hoch und beginne zu lesen.

      Auf dem Deckblatt ist eine Rede des Ratsvorsitzenden abgedruckt, in der er mir zu meiner Entscheidung gratuliert und betont, wie heldenhaft und wichtig mein Einsatz für den Erhalt der Kolonie ist. Die zweite Seite befasst sich mit den Vorteilen und Privilegien, die eine Teilnahme am Programm mit sich bringen. Lebenslanges Bleiberecht, medizinische Versorgung und extra Essensrationen für die Angehörigen. Beruflicher Aufstieg. Ansehen. Geld. Erst auf der dritten Seite beginnen die Regeln.

       Den Teilnehmern des Reproduktionsprogramms ist der Kontakt zu Familie und Freunden untersagt, bis das Programm beendet ist.

      Das ist allgemein bekannt, es schwarz auf weiß zu lesen versetzt mir dennoch einen Stich. In meinen Augen ist das eine bescheuerte Regel. Was hat es für einen Sinn, die Probanden von ihren Liebsten zu trennen? Verstärkt das nicht das Gefühl der Einsamkeit?

      Ich lese weiter.

       Es ist verboten, über die Untersuchungen und Eingriffe mit Außenstehenden und anderen Probanden zu sprechen. Der Proband darf sich keinen schädigenden Einflüssen aussetzen, das beinhaltet Drogen, Alkohol und den Verzehr von giftigen Substanzen.

      Adieu Zauberpilze.

       Mit erfolgreicher Implantation eines Embryos verpflichtet sich der Proband zu regelmäßigen Kontrolluntersuchungen, inklusive Bluttests und den vom medizinischen Personal für nötig befundenen Eingriffen. Bei Misserfolg verpflichtet sich der Proband zu mindestens vier Implantationen im Jahr über einen Zeitraum von zehn Jahren.

      Ich lasse den Vertrag sinken. Die Regeln überraschen mich nicht, aber sie geben mir auch nicht gerade das Gefühl zu einer Heldin zu werden. Eher zu einer Zuchtstute. Ich habe mir immer vorgestellt, eine gut bezahlte Anstellung und einen Freund zu finden und mit ihm in ein eigenes Zuhause zu ziehen, in eine Wohnung mit fließendem Wasser und einem Ofen. Weg von meinem Vater. Kinder kommen in dieser Planung gar nicht vor.

      Auf der vierten Seite wird der Ablauf erklärt. Mir schwirrt der Kopf von Worten wie Zyklusbestimmung, hormonelle Stimulation der Eierstöcke, Eizellenentnahme, Kryokonservierung und Insemination. Zum Schluss kommt ein kurzer Abschnitt über genetische Aufarbeitung embryonaler Stammzellen, den ich nicht kapiere. Für mich klingt es, als würden sie an den Embryonen herumpfuschen. Sie verändern. Aber warum sollten sie das tun? Wegen des MM-Virus? Um die Gefahr von Mutationen zu verringern? Vergeblich suche ich Informationen über die Risiken.

      Auf der Rückseite des letzten Blattes entdecke ich eine Erklärung, die ich gesondert unterzeichnen soll. Mit meiner Unterschrift trete ich alle Ansprüche auf die Kinder ab, die ich durch die künstliche Befruchtung gebäre. Niemals werde ich ihnen eine Mutter sein, weder erfahre ich, wo sie sind, noch was mit ihnen passiert. Wer zieht sie groß? Wo wohnen sie?

      Ich lasse das Blatt sinken. Meine Hände zittern. Tausend Fragen purzeln in meinem Kopf herum. Allen voran die Frage, ob ich nicht lieber abhauen soll. Kann ich zehn Jahre oder länger in einem Gefängnis leben? Abgeschottet von der Welt? Andauernd auf irgendeinem Untersuchungstisch liegend, wo Mediziner versuchen, mir einen lebensfähigen Embryo einzupflanzen? Wie kann mein Vater das nur von mir verlangen? Gibt es nicht genug Freiwillige, die nach Ruhm und Ehre und materiellen Gütern lechzen?

      Den gesamten Nachmittag sitze ich da und starre auf das Wasser, beobachte, wie die Wellen über das Ufer schwappen. Das leise Platschen beruhigt mich und macht mich zugleich traurig. Den Fluss werde ich ebenso wenig zu Gesicht bekommen wie meine Freunde. Ich sollte stolz sein und mich freuen über den Beitrag, den ich leisten kann, doch viel lieber würde ich heulen und mich irgendwo verkriechen.

      Als ich in der Ferne ein Boot erblicke, das aus einer der anderen Kolonien kommt, erhebe ich mich und gehe nach Hause. Vater wartet bereits auf mich. Sobald ich die Tür öffne, springt er auf und eilt mir entgegen.

      »Jule, endlich. Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Wie ist es gelaufen?«

      »Gut«, lautet meine einsilbige Antwort. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schiebe ich mich an ihm vorbei. Ich glaube ihm nicht, dass er nicht weiß, wie es


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