Landsby. Christine Millman

Landsby - Christine Millman


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halben Jahr arbeitet er in der Biogasanlage. Diese Woche hat er Spätschicht. Manja und ich traben direkt ins Schulhaus, ungewaschen und hungrig, wie wir sind. Wir nehmen die Abkürzung über den Marktplatz, wo sich um diese Zeit haufenweise Menschen tummeln, um ihre Essensmarken einzulösen, und klettern dann über den Holzzaun ins Maisfeld. Dabei müssen wir achtgeben, nicht gesehen zu werden, damit die Aufpasser nicht denken, wir würden Essen klauen. Das ist so ziemlich das schlimmste Vergehen in der Kolonie, das in vielen Fällen mit Verbannung bestraft wird.

      Das Unterrichtshaus liegt etwas außerhalb in Nähe des Steinwalls. Seit zwei Jahren geht es fast nur noch um den Erhalt der Kolonie, um Genetik und die Gefährlichkeit von Mutationen, um Fortpflanzung und Ethik. Dazu werden verschiedene Tests durchgeführt, um unsere Begabungen herauszufinden. Manja hat, welch Überraschung, technisches Geschick und bekommt wahrscheinlich einen Ausbildungsplatz in der Geotherme. Ich kann eigentlich nichts besonders gut und würde wohl nur mithilfe meines Vaters einen anständigen Ausbildungsplatz bekommen. Wenn ich ins Zuchtprogramm muss, ist das allerdings hinfällig. Vielleicht ist das ja mein Talent: Kinder gebären.

      Der Unterricht hat bereits begonnen. Einundzwanzig siebzehn bis Achtzehnjährige sitzen auf Plastikstühlen und hören gelangweilt zu, wie eine verhärmte Mittvierzigerin über die Klimaerwärmung schwadroniert. Sie lässt Manja und mich gar nicht erst Platz nehmen sondern schickt uns direkt zum Schulleiter, einem dickleibigen Oberst der Neuen Armee.

      Er kommt sofort zur Sache. »Sie beide haben den Morgenappell verpasst. Darf ich den Grund dafür erfahren?«

      Die Fragerei nervt mich, weil mein Kopf schmerzt und mein Magen knurrt und ich ununterbrochen an das Gespräch mit meinem Vater denken muss. Ich schnaube und sage dem Schulleiter, was er mich mal kann. Entrüstet brummt er mir zwei Tage Strafdienst in den Ställen auf. Manja sieht mich stirnrunzelnd an. Mir ist klar, dass sie sich über mein Verhalten wundert. Normalerweise begehre ich nie lautstark auf. Wie sähe das aus, wenn die Tochter des Kommandanten gegen die Obrigkeit rebelliert? Aber als angehende Heldin darf ich auch mal aufmüpfig sein, finde ich. Dummerweise habe ich keine Vorteile, solange niemand von meinem aufopfernden Heldentum weiß, und muss den Strafdienst deshalb hinnehmen.

      Schlecht gelaunt lasse ich den Unterricht über mich ergehen. Da wir großen Hunger haben, schnorrt Manja Maisbrot von einer pummeligen Dreizehnjährigen namens Melinda. Ihre Eltern arbeiten als Wissenschaftler im medizinischen Zentrum. Die Arbeit wird gut bezahlt und sorgt dafür, dass sie immer ausreichend Essen dabei hat. Sie kann uns nicht leiden, hat aber Angst vor Manja, deshalb gibt sie ihr das Brot. Richtig satt macht es nicht, aber wenigstens schlottern mir nicht mehr die Knie vor Hunger und ich kann mich wieder auf mein Elend konzentrieren.

      Nach dem Mittagessen gehe ich direkt zu den Viehweiden, um meinen Strafdienst anzutreten. Bei dem Gestank, der mir am Eingang des langen Flachgebäudes entgegenwallt, bereue ich meinen Ausbruch vom Morgen. Berge von Scheiße und Pisse, gebunden in einem nach Schwefel riechenden Spezialgranulat verursachen ein betäubendes Aroma. Pilze hin oder her - ich verstehe nicht, wie Manjas Bruder hier arbeiten kann. Es ist einfach nur ekelhaft.

      Der wortkarge Vorarbeiter drückt mir Gummistiefel und eine Schaufel in die Hand und deutet auf eine kreisrunde Öffnung im Boden. »Kipp das Zeug da hinten in das Loch.«

      Missmutig streife ich die Stiefel über und lege los. Wenn ich mich beeile, kann ich vielleicht noch eine Stunde mit Manja zum Fluss. Sobald ich das Granulat aufwühle, wird der Gestank unerträglich. Brechreiz schnürt mir die Kehle zu und ich versuche, nur durch den Mund zu atmen. Zudem ist das Zeug verdammt schwer, so voll gesogen mit Pisse und Scheiße. Meine Arme zittern, als ich die gefüllte Schaufel anhebe. Keuchend schleppe ich sie zu dem Loch im Boden, von wo aus das Granulat in einen unterirdischen Container fällt. Aus dem Zeug wird Biodiesel hergestellt, hat Manjas Bruder uns erklärt.

      Eine halbe Stunde später bin ich schweißgebadet. Weitere zehn Minuten später lehne ich mich erschöpft auf die Schaufel. Meine Knie zittern. Ich bin am Ende. Der Vorarbeiter sieht zu mir herüber und schüttelt den Kopf. »Beeil dich. Du musst fertig werden, bevor die Kühe von der Weide kommen.«

      Ich schlucke die Beschimpfung, die auf meinen Lippen liegt, und arbeite weiter. Wenigstens lenkt mich die Plackerei von meinen Sorgen ab, weil ich zu beschäftigt damit bin, nicht umzukippen oder zu kotzen. Als ich endlich Feierabend habe, kann ich kaum noch gehen. Jeder Muskel in meinem Körper schmerzt und bestimmt habe ich fünf Liter Wasser ausgeschwitzt. Ich schleppe mich nachhause, dusche mich, obwohl die Geotherme wieder mal nicht ausreicht, um das Wasser auf mehr als fünfzehn Grad zu erwärmen, schlinge den kalten Eintopf vom Vortag hinunter und falle ins Bett.

      3

      Heute werde ich untersucht.

      Das dafür zuständige Labor liegt im Westsektor nahe der Mauer, auf dem Gelände des medizinischen Zentrums, das meiner Schätzung nach ein Zehntel der gesamten Koloniefläche einnimmt. Der graue Betonklotz wirkt düster und bedrohlich auf mich, was meine Anspannung noch verstärkt. In der Eingangshalle hätten bestimmt fünf Wellblechhütten Platz. Bis auf ein paar grasgrüne Sessel und eine Empfangstheke aus hellem Holz ist sie jedoch leer. Welch Verschwendung von Lebensraum.

      Eine kleine, blasse Frau mit unglaublich dunklen Augenringen sitzt hinter der Theke und addiert Zahlen auf einem Block.

      »Hallo«, sage ich und schiebe ihr meine Vorladung hin. »Mein Name ist Jule Hoffmann. Ich habe einen Termin.«

      Sie blickt auf und strahlt mich an. »Du bist eine Freiwillige. Gratuliere.« Sie zieht das Schreiben zu sich heran und studiert es eingehend. Ich frage mich, ob sie dergleichen nicht bereits hundertfach zu Gesicht bekommen hat oder ob sich meine Vorladung in irgendeiner Weise von den anderen unterscheidet.

      Schließlich erhebt sie sich. »Folge mir.«

      Aufgeregt wuselt sie vor mir her, grinst mich dabei immer wieder über die Schulter hinweg an. Meine Reaktion ist ein halbherziges Zucken meiner Mundwinkel, was sie mit viel Wohlwollen als Lächeln deuten darf. Im zweiten Stock öffnet sie eine Schwingtür und tritt auf einen pickligen, jungen Mann zu, der hinter einem Tisch sitzt und gelangweilt mit seinem Stuhl kippelt. Ich kenne ihn. Ein Jahr zuvor ist er noch ein Schüler gewesen. Ich glaube er heißt Theo.

      Die Empfangsdame legt ihm mein Schreiben hin. »Jule Hoffmann. Sie wird getestet. Fürs Programm.«

      Theo wirft einen Blick auf das Papier und hebt dann überrascht die Augenbrauen. »Du hast dich freiwillig gemeldet? Ich dachte dein Vater ist Kommandant?«

      Seine Worte jagen mir einen Schreck durch den Bauch. Ja, eigentlich müsste mir ein Dasein als Gebärmaschine erspart bleiben, aber er kennt meinen Vater nicht. Für das Wohl der Kolonie und seine Karriere geht er über Leichen. Ich versuche, cool zu bleiben. »Was tut man nicht alles fürs Gemeinwohl.« Hoffentlich wirkt mein Lächeln nicht allzu gekünstelt. Er soll nicht merken, wie sehr ich es hasse, hier zu sein.

      Theo betätigt einen Schalter an der Sprechanlage und meldet mich an, woraufhin ein Soldat aus einer der Türen tritt und mich herbei winkt. Die Empfangsdame schenkt mir ein letztes, aufmunterndes Lächeln.

      »Hallo. Ich bin Oberst Weiß«, stellt sich der Soldat vor. Jetzt erst sehe ich das Abzeichen auf seiner Brust. Er ist tatsächlich ein Offizier. Ich wusste gar nicht, dass die auch im medizinischen Zentrum arbeiten.

      »Jule Hoffmann«, murmle ich und folge ihm in den ersten Raum. Wände und Boden sind gefliest. Überall stehen Chromregale, die mit allerlei Gerätschaften bestückt sind. Skalpelle, Pinzetten, Spritzen, Phiolen, Nierenschalen, ein Blutdruckmessgerät und vieles, was ich nicht kenne.

      Oberst Weiß deutet auf eine schmale Liege. »Setz dich dahin. Ich nehme dir erstmal Blut ab.«

      Ich schlucke. Meine Kehle ist staubtrocken. »Wofür?«

      »Für den Gentest. Keine Angst, ich habe Übung darin.«

      Zögerlich nehme ich Platz und halte ihm meinen Arm hin. Geschickt wickelt er eine Art Gürtel um meinen Oberarm und zieht ihn fest.

      »Mach bitte eine Faust«, sagt er.

      Mit


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