Landsby. Christine Millman

Landsby - Christine Millman


Скачать книгу
mit Zauberpilzen aus der Hosentasche und hält sie mir hin.

      Ich fische ein Stück heraus und drehe es in meinen Fingern. Es ist schrumplig und braun und sieht nicht besonders appetitlich aus, aber es verschafft mir ein paar unbeschwerte Stunden. »Woher hast du die?«

      »Woher schon? Von meinem Bruder natürlich«, sagt sie grinsend.

      Manjas Bruder Lenno arbeitet in den Ställen bei den Viehherden. Nicht gerade ein Traum, aber auf der Weide, in dunkler, vom Urin der Rinder getränkter Erde, wachsen die Pilze. Ich stecke mir das Stück in den Mund und zerkaue es langsam. Es schmeckt ein wenig bitter und modrig, als hätte es in einem feuchten Keller gelegen. »Wollte er nicht wechseln?«, frage ich.

      Manja zuckt mit den Schultern. »Er hat sich‘s anders überlegt. Die Pilze sind eine gute Nebeneinnahme.« Sie sagt das leichthin, als wäre es nichts Besonderes, aber wir beide wissen, dass es das sehr wohl ist. Ihr Bruder schöpft sein Potenzial nicht aus, weil er das Geld braucht, das er für die Pilze bekommt. Damit bringt er die gesamte Familie durch.

      »Hat er keine Angst, erwischt zu werden?«, fragt Paul.

      Ich rolle mit den Augen. Paul ist der Gesetzestreue von uns, derjenige, der sich immer an die Regeln hält. Okay, fast immer. Zauberpilze zu essen ist definitiv verboten und er tut es trotzdem - dank unseres schlechten Einflusses. Aber im Gegensatz zum Handel mit Pilzen wird der Genuss nicht mit Verbannung bestraft.

      Manja lehnt sich zurück und schließt die Augen. Die Pilze beginnen, zu wirken. »Na wenn schon?«, seufzt sie versonnen. »Vielleicht ist die Außenwelt gar nicht so übel. Man ist frei, ohne diese Idioten von der Neuen Armee.«

      »Aber auch ohne Schutz und medizinische Versorgung, ohne Essen und Trinken und Kleidung. Da draußen kämpfst du ums Überleben«, entgegnet Paul.

      Ein Gedanke schält sich aus den Tiefen meines Unterbewusstseins. »Ich weiß nicht. So viele Menschen sind verbannt worden, vielleicht haben sie eine neue Zivilisation gegründet und wir wissen es nicht, weil wir hinter dieser Mauer hocken und uns nicht rausgetrauen. Irgendjemand da draußen tut sich jedenfalls zusammen, sonst könnten sie nicht unsere Vorratsspeicher überfallen.«

      Paul zuckt mit den Schultern. »Das sind hauptsächlich Mutanten. Mein Vater sagt, die Verbannten überleben keine zwei Jahre. Entweder macht die Außenwelt sie fertig oder die Mutanten. Die sind wie wilde Tiere.«

      »Wilde Tiere kann man zähmen«, sage ich.

      »Oder töten«, fügt Manja hinzu.

      Paul schnaubt. »Die sind aber schlauer und das macht sie gefährlich.«

      Das Thema Mutanten nervt mich. Außerdem ist mir schwindlig. Ich lehne mich gegen das kühle Metall des Wasserbehälters und schaue zu den Sternen hinauf. Sie flimmern, dehnen sich aus, strahlen auf mich hinab wie winzige Sonnen. Das Leuchten überschwemmt meine Sinne, bis ich an nichts anderes mehr denken kann, als die unendliche Weite über mir. »Wir sollten expandieren«, sage ich.

      »Hä?«, macht Manja.

      Ich strecke die Arme Richtung Nachthimmel und greife nach dem Leuchten, beobachte, wie sich das Sternenlicht an meinen Fingerspitzen sammelt und über meine Hände fließt. »Wenn wir alle Kinder bekommen, dehnen wir uns aus, werden größer und größer wie ein Ballon. Ein Ballon aus menschlichen Leibern.«

      »Bis wir platzen«, sagt Paul.

      Manja lacht und ich falle in ihr Lachen mit ein.

      Der Himmel wirkt verzerrt und wölbt sich über mir wie eine riesige Kuppel, deren Anfang und Ende ich nicht ermessen kann. »Ich muss mich vermehren«, flüstere ich. Meine Zunge ist seltsam schwer. »Bis ich allein die ganze Erde bevölkert habe.«

      Paul legt sich auf den Rücken und bettet den Kopf in meinen Schoß. »Soll ich dir dabei helfen?«

      Grinsend streichle ich über sein blondes Haar. Es schimmert golden im Licht des Mondes. Sein Gesicht leuchtet wie die Sterne, die blauen Augen verschwimmen zu einem dunklen Fleck auf seiner Stirn.

      »Du bist so schön«, stelle ich fest, während ich mir eine Strähne seines Haares um den Finger wickle. Mit den Fingerspitzen ertastet er mein Gesicht. Es kitzelt, als würden Ameisen über meine Haut krabbeln.

      Manja neben mir erhebt sich und beugt sich über das Geländer. »Ich steh auf Frauen«, schreit sie. Ich kichere, während Pauls Ameisenfinger noch immer meine Wange streicheln.

      Manja dreht sich zu mir um. »Ich liebe dich Jule.«

      Irgendwo in den Tiefen meines Gehirns weiß ich, dass sie mir gerade etwas Bedeutsames gesagt hat, doch mein Zauberpilz umnebelter Geist fügt es nahtlos in die leuchtenden Gedanken und Bilder in meinem Kopf.

      »Ich liebe euch alle beide«, sage ich und meine es auch so. Paul, Manja und ich sind wie die göttliche Dreieinigkeit. Inkarnationen des Lichts.

      Manja breitet die Arme aus und lehnt sich rückwärts, den Kopf so weit es geht in den Nacken gelegt. Es sieht aus, als würde sie jeden Moment nach hinten kippen. Ich schiebe Paul von meinem Schoß, stehe auf und stelle mich neben sie.

      »Fühlst du es?«, fragt sie.

      Ich nicke, breite ebenfalls die Arme aus und lege den Kopf in den Nacken. Die Höhe macht mir nicht mehr das Geringste aus. Das Geländer drückt gegen meinen Rücken, warmer Wind streichelt mein Gesicht und wirbelt meine Haare auf. Paul schiebt sich zwischen uns. Er lacht und mir fällt auf, wie ebenmäßig seine Zähne sind. Und weiß. Mit was er wohl die Zähne putzt? Zahnpaste ist ein seltenes Gut in der Kolonie.

      »Ich gehe nicht ins Zuchtprogramm«, sage ich. Die Worte strömen einfach so aus mir heraus.

      Manja und Paul sehen mich verwirrt an.

      »Was?«, sagt Manja.

      Ich richte mich auf, stoße mich vom Geländer ab und lasse mich zu Boden sinken. »Ach nichts.«

      Meine Freunde folgen mir, gemeinsam bilden wir ein Knäuel aus Gliedmaßen. Manjas Gesicht ist direkt neben meinem. Es leuchtet wie ein Stern. Sie presst ihre Lippen auf meinen Mund. Sie sind warm und weich. Pauls Hände streicheln meinen Körper. Ich schließe die Augen und schwebe davon.

      Ein Sonnenstrahl kitzelt mich wach. Ich öffne die Lider und blinzle in die Morgensonne. Mein Rücken schmerzt, die Zunge klebt am Gaumen und mein Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt. Die üblichen Nachwirkungen der Pilze.

      Stöhnend reibe ich über meine pochende Stirn. »Scheiße, die Dinger waren heftig.«

      Paul rappelt sich ächzend auf. Sein Haar ist zerzaust. »Wie viel Uhr ist es?«

      Ich beschatte meine Augen und blicke zum Himmel hinauf. Eigentlich müsste ich die Uhrzeit am Stand der Sonne ablesen können, doch bei dem Thema habe ich im Unterricht nicht besonders gut aufgepasst. »Keine Ahnung. Acht vielleicht.«

      Manja liegt zu meinen Füßen mit dem Kopf auf meinen Schienenbeinen. Bestimmt wird ihr Genick schmerzen, wenn sie aufwacht. Ihr Mund steht offen, ein getrockneter Speichelfaden klebt an ihrem Kinn. Grinsend beuge ich mich vor und zupfe an ihrem Haar. Im Schlaf wirkt ihr Gesicht viel weicher, fast schon mädchenhaft.

      Paul reicht mir eine Flasche Wasser. »Ihr habt den Morgenappell verpasst.«

      Dankbar nehme ich die Flasche entgegen und leere sie bis zur Hälfte. Den Rest hebe ich für Manja auf. »Egal. Es ist sowieso die letzte Schulwoche.«

      Schlagartig kehrt die Erinnerung an das Gespräch mit meinem Vater zurück. An die Pläne, der er für mich hat. Ich soll ins Reproduktionsprogramm, weil ich jung und zeugungsfähig bin. Ich soll eine Gebärmaschine werden.

      Scheiße.

      Mein Magen krampft sich zusammen. Bloß nicht darüber nachdenken, sonst muss ich kotzen.

      Mit den Fingern kämme ich mein zerzaustes Haar und pule die Schlafpopel aus meinen Augen. Es ist der verzweifelte Versuch, normal und unbekümmert zu wirken, als wäre alles wie immer. Derweil weckt Paul die total verkaterte Manja.


Скачать книгу