Alter Adel - neues Land?. Ines Langelüddecke

Alter Adel - neues Land? - Ines Langelüddecke


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Geschichte in der DDR und in der Bundesrepublik

      Nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages 1972 stellte sich in der DDR und in der Bundesrepublik die Frage nach der jeweiligen staatlichen Eigenständigkeit neu, nachdem nun eine Wiedervereinigung immer unwahrscheinlicher geworden war.[66] In der DDR veränderte sich in dieser Zeit der Blick auf die historischen Epochen, die zeitlich vor der Gründung des sozialistischen Staates 1949 lagen. Im Rahmen der sogenannten »Tradition- und Erbe-Konzeption« beschäftigten sich staatsnahe Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mit der preußischen Geschichte und boten ideologische Erklärungen an, um diese in die offizielle Geschichtserzählung des sozialistischen Staates einzubetten.[67] In der Bundesrepublik wurde parallel dazu mit der Preußenausstellung von 1981 in West-Berlin an den 1947 aufgelösten Teilstaat erinnert.[68] In Ost-Berlin durfte seit 1981 das Reiterstandbild von Friedrich dem Großen, das dreißig Jahre zuvor abgebaut worden war, wieder im Zentrum der Stadt, gegenüber der Humboldt-Universität, aufgestellt werden.[69] Während die deutsche Einheit durch den Grundlagenvertrag in eine immer fernere Zukunft rückte, bekam in Ost und West die preußische Geschichte einen neuen Stellenwert, der jedoch ambivalent blieb und zwischen Abgrenzung und Zustimmung zu dieser umstrittenen Epoche der Vergangenheit changierte. In ihrer Wirkung können die Preußen-Renaissance der 1980er Jahre in Ost und West ebenso wie die innerdeutschen Reiserleichterungen ab 1972 damit als Ausdruck einer fortdauernden Verbundenheit der beiden deutschen Teilstaaten angesehen werden, auch wenn das natürlich nicht unbedingt beabsichtigt war.[70]

       Die Wiederbegegnung von Adligen und Dorfbevölkerung nach 1990

      Nach dem 3. Oktober 1990 änderte sich der Charakter der Begegnung zwischen zurückkehrenden Adligen und den Menschen in den Dörfern: Sie trafen nicht mehr nur als Besucher aus zwei deutschen Teilstaaten aufeinander. Jetzt begegneten sie sich in einer Gegenwart, in der die Geschichte vor 1945 und die Nachkriegsjahre unter der sowjetischen Besatzungsherrschaft wieder zu einem konkreten Bezugspunkt für aktuelle Auseinandersetzungen wurden und nicht mehr nur – wie in den 1970er und 1980er Jahren – eine historische Reminiszenz waren. Im Einigungsprozess des Jahres 1990 verhandelten die gewählten Vertreter von DDR und Bundesrepublik dann darüber, ob die enteigneten Gutsbesitzer ihren früheren Besitz zurückerhalten sollten. Der gesamtdeutsche Beschluss gegen die Restitution war auch eine Entscheidung dafür, dass die Herrschaft des Adels heute als eine historische Epoche betrachtet werden kann, die endgültig der Vergangenheit angehört.

      1.4. Drei ehemalige Gutsdörfer nach 1990:

      Siebeneichen, Bandenow und Kuritz

      Das neu gegründete Bundesland Brandenburg war nach dem Ende der DDR eine ländlich geprägte Region mit ungefähr 2,5 Millionen Einwohnern, in der nur in Cottbus und Potsdam mehr als 100.000 Menschen lebten. Den drei früheren Gutsdörfern, die als Fallbeispiele in diesem Buch vorkommen, ist gemeinsam, dass sie jeweils 280 bis 480 Einwohner haben und alle drei bis 1945 Sitz einer Adelsfamilie waren. Damit gehören sie zu den ungefähr 30 bis 40 Dörfern in ganz Brandenburg, in die die früheren Adelsfamilien zurückgekehrt sind.[71] In diesem Buch steht die Rückkehr der Adelsfamilien in drei brandenburgische Dörfer in der Transformationszeit nach 1990 im Zentrum. Wer sind die Menschen, die mit mir über ihr Leben und über die Rückkehr der adligen Familie in ihr Dorf, ihre Heimat gesprochen haben? Wie sieht es in den Dörfern aus, in denen diese Menschen leben?

       Siebeneichen

      Siebeneichen ist ein kleines Dorf im östlichen Brandenburg mit etwa 280 Einwohnern. Derjenige Teil des Dorfes, in dem sich bis 1945 das Gut der Familie von Sierstedt befand, ist übersichtlich entlang der Straße angeordnet: eine mehrgeschossige Scheune, einige Häuser, die Kirche, daneben der Friedhof mit den adligen Gräbern, zwei Kriegerdenkmäler und die Wiese hinter dem Teich, wo sich bis Ende der 1940er Jahre das Schloss befand, mit einem Park dahinter. Die bis heute sichtbaren Baulücken im Zentrum des Dorfes stammen aus der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs, als das Dorf stark zerstört wurde – und aus den Nachkriegsjahren. Ende der 1940er Jahre wurden die Ruinen des Schlosses und der meisten Gutsgebäude abgerissen. Auf dem ehemaligen Gutsgelände baute Jasper von Sierstedt nach seiner Rückkehr 1990 zwei ehemalige Nebengebäude des Schlosses zu Wohnhäusern um. In dem kleinen Dorf Siebeneichen gibt es, abgesehen von einem Restaurant in der ehemaligen Gutsscheune, keine Infrastruktur. Es existieren vor Ort keine Einkaufsmöglichkeiten, keine Schule und kein Kindergarten.

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      In Siebeneichen sprachen der 1961 geborene Jasper von Sierstedt, seine 1964 geborene Frau Franziska und seine 1922 geborene Mutter Clara mit mir über die Rückkehr der Familie ins Dorf. Ihre Erzählungen wurden durch den umfangreichen Nachlass ihres Großvaters und Vaters Botho von Sierstedt (1893-1982) ergänzt. Der Familiennachlass mit Chroniken und Briefen befindet sich im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam und durfte von mir nach vorheriger Genehmigung durch die Familie eingesehen werden. Daneben existiert ein weiterer Teil des Nachlasses, der die Zeit der Gutsherrschaft von Botho von Sierstedt in den Jahren von 1919 bis 1945 umfasst, der wiederum frei zugänglich im Potsdamer Archiv aufbewahrt wird.

      Von den Menschen aus dem Dorf waren die Pfarrerin im Ruhestand Johanna Brogel (*1935), die ehemalige Bäuerin Marianne Schulz (*1934) und der Handwerker Sebastian Menzel (*1973) bereit, mit mir über das ehemalige Gut in der Zeit vor und nach 1990 zu reden.[72]

      Die Erzählungen der Familie von Sierstedt reichen von der Gegenwart aus gesehen über mehr als 120 Jahre Familiengeschichte zurück. In Verbindung mit dem Nachlass von Botho von Sierstedt geht die familiäre Überlieferung also bis ins 19. Jahrhundert zurück. Sie umfasst die Zeit der Gutsherrschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts, die Vertreibung und die Enteignung, die Zeit in der Bundesrepublik und die Rückkehr nach Siebeneichen. Die Erzählungen der befragten Menschen aus dem Dorf umfassen hingegen einen kürzeren Zeitraum von etwa 80 Jahren. Ihre Lebenserzählungen reichen von der Zeit des Zweiten Weltkriegs, der Enteignung und der Aufbaujahre des Sozialismus mit der Kollektivierung der Landwirtschaft über die Spätphase der DDR bis hin zur Transformationszeit nach dem Fall der Mauer 1989. Die drei Interviewten bewegen sich alle in einem kirchennahen Umfeld. Die Pfarrerin war für mich eine Schlüsselperson: Sie gab mir nicht nur über ihr Leben, sondern auch über allgemeinere Angelegenheiten des Dorfes Auskunft. Ihre Erzählungen waren umso wertvoller, als es in Siebeneichen – von wenigen überlieferten Aktenordnern abgesehen – kein Gemeindearchiv gibt. Neben diesen drei Interviewten noch weitere Menschen aus dem Dorf für ein Gespräch zu gewinnen, stellte sich in Siebeneichen als schwierig heraus. Die Tochter einer ehemaligen Gutsangestellten sagte den bereits vereinbarten Interviewtermin wieder ab. Die ehemalige SED-Bürgermeisterin war nach meiner Anfrage nicht zu einem Gespräch bereit. Man könnte also vermuten, dass in einem kleinen Dorf wie Siebeneichen die soziale Kontrolle sehr ausgeprägt ist, so dass lediglich die Pfarrerin aus einer Position der Unabhängigkeit sprechen konnte. Die beiden anderen Zeitzeugen waren und sind mit Jasper von Sierstedt, dem einzigen Arbeitgeber im Ort, nachbarschaftlich eng verbunden. Sebastian Menzel bietet im Wechsel mit Jasper von Sierstedt Führungen in der Kirche an. Marianne Schulz hat die landwirtschaftlichen Flächen ihrer Familie an ihn verpachtet. Ich gehe deswegen davon aus, dass ihre Bereitschaft, auch kritische persönliche Eindrücke vom Transformationsprozess zu berichten, womöglich geringer ausgeprägt war als in den beiden anderen, größeren Dörfern.

       Bandenow

      Bandenow ist ein Dorf mit ungefähr 480 Einwohnern im südlichen Brandenburg. In der Mitte des Dorfes, an einer der Nebenstraßen, befindet sich hinter einem kleinen Teich der frühere Adelssitz. In diesem größten Gebäude des Dorfes, das die Dorfbewohner »Schloss« nennen, wohnt heute Leopold von Hohenstein jr. mit seiner Familie. Er selbst bezeichnet sein Wohnhaus als »Gutshaus«. Hinter ihm erstrecken sich ein Park und einige Wirtschaftsgebäude seines landwirtschaftlichen Betriebes. In der Nähe, an der Dorfstraße, gibt es ein weiteres kleineres Gutshaus, in dem Leopold von


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