Tiloumio. Maari Skog

Tiloumio - Maari Skog


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wird. Es bereitet mir Sorge, dass sie ihre neue Nummer, die sie mir geschickt hat, versteckt halten muss. Es muss etwas passiert sein, und dieses Etwas steht mit Sicherheit in Verbindung mit meinem verfluchten Verfolger.

      Mein Weinkrampf steigert sich, und die Bilder der Verfolgungsjagd kommen wieder hoch. Es kommt mir vor, als ob ich wieder mitten im Geschehen stecke, in der Grube im Wald sitze und Stevens Schritte dicht an mir vorbeiziehen. Ich schluchze lautlos und ringe nach Luft. Die Hände schützend um den Kopf gelegt sitze ich da. Ich weiß nicht wie lange. Irgendwann vernehme ich aus der Ferne wieder den rauschenden Regen und starre mit leerem Blick auf die Bäume. Es dämmert bereits, und die Gegend verschwimmt immer mehr im vom Regen unterstützten dunkler werdenden Grau.

      Ich reagiere nicht, als ich höre, wie sich die Haustür neben mir leise öffnet. Erst als mir eine Flasche Bier gereicht wird, nehme ich diese entgegen, ohne aufzusehen. Pascal gesellt sich zu mir und lässt sich an der Wand hinuntergleiten. Er sitzt jetzt so dicht neben mir, dass ich seine Schulter an meiner spüre.

      »Speechless terror«, beginnt er das Schweigen zu brechen, »stummes Entsetzen, das einen daran hindert, ein Ereignis zu beschreiben, das einem schwer zu schaffen macht. Darunter leiden viele, die ein schweres Trauma erlitten haben.«

      Ich antworte nicht und versuche ruhig zu atmen, doch ich bringe nur ein abgehacktes Schnauben zustande und kratze beschämt an dem Etikett der Flasche herum.

      »Ich gebe zu, nicht viel von dir zu wissen. Aber ich hatte immer eine Ahnung davon, dass du mir etwas verschweigst. Ich habe dich nur nie darauf angesprochen, weil ich das Gefühl hatte, dass du mir in gewisser Hinsicht vertraust. Wenn ich dich mit Fragen gelöchert hätte, dann hättest du dich zurückgezogen, soviel war mir klar. Meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, mir wenigstens jetzt die Wahrheit zu sagen? Zum Beispiel, wie dein richtiger Name ist?«

      Ich fühle Pascals Blick wie eine Berührung auf mir ruhen. Obwohl ich nicht zur Seite sehe, weiß ich, dass es ein warmer, freundschaftlicher Blick ist, ohne Vorwurf oder Wut darüber, dass ich ihn angelogen habe. Ich frage mich, warum er so selbstlos ist und eine so schwer wiegende Lüge hinnimmt, ohne sich dabei in verletzte Gefühle zu verstricken. Ich selbst wäre wütend und enttäuscht gewesen, wenn mir jemand eine falsche Identität vorgegaukelt hätte. Ich wäre so misstrauisch geworden, dass ich den Lügner für immer aus meinem Leben verbannt hätte.

      Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich nicht glauben kann, dass Pascal mich ernst nimmt.

      Selbstzweifel und die Tatsache, dass ich mich selber verabscheue, knebeln meinen Mund, sodass ich weiterhin schweige und Pascal nur einen kurzen, schuldbewussten Blick zuwerfe.

      Er lehnt den Kopf zurück und nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, um sich mir dann wieder zuzuwenden.

      »Ich weiß, dass das was ich jetzt sage, ziemlich sentimental und blöde klingt, aber du bist mir in den letzten Wochen ans Herz gewachsen. Wie ein kleiner Bruder, den ich nie hatte und gerne gehabt hätte. Stattdessen ist es bei zwei älteren Schwestern geblieben, die mich tagtäglich versuchten, in die Hölle zu schicken.«

      »Und haben sie es geschafft?«, frage ich, froh darüber, dass Pascal das Thema auf sich gelenkt hat.

      »Was geschafft?«

      »Na, dich in die Hölle zu schicken.«

      »Als Kind habe ich das geglaubt. Mittlerweile weiß ich aber, dass es schlimmere Orte als die Hölle gibt.«

      »Und wo sollen diese Orte bitte sein?«

      »In uns selbst zum Beispiel.«

      Pascal streckt ein Bein aus und holt etwas aus seiner Hosentasche. Ich sehe mit Entsetzen, dass es ein Revolver ist, den er mir mit einem Lächeln präsentiert und mir damit die Gewissheit schenkt, tatsächlich dieses verdammte Teil eingesteckt zu haben.

      Ich wende den Blick ab und starre in den Regen. Alles in mir bebt vor Erregung. Denn jetzt ist klar, dass Pascal von Anfang an wusste, dass ich ein falsches Spiel gespielt habe.

      »Es ist manchmal nicht leicht, sich an Gesetze zu halten, wenn man Angst hat. Was veranlasst dich also dazu, eine Knarre mit dir rumzuschleppen?«

      Ich antworte nicht sofort und suche verzweifelt nach einer plausiblen Erklärung, ohne dass ich von Steven erzählen muss. Ich sollte von vorne anfangen.

      »Ein Vater, der dich achtzehn Jahre belogen hat, eine Mutter, die nie deine richtige Mutter war und sich zudem lieber mit Whisky- und Sektflaschen unterhalten hat, ein prügelnder Stiefvater und eine jüngere Halbschwester, die du über alles liebst, aber im Stich gelassen hast ... das ist die Hölle in mir«, presse ich verbittert hervor.

      Pascal hält während des Trinkens inne, setzt nach einem kurzen Moment die Flasche ab und schweigt betroffen. Er scheint nach Worten zu suchen.

      Ich ziehe währenddessen meine Brieftasche aus der Hosentasche, hole meinen Ausweis heraus und reiche ihn Pascal.

      »Und das ... das ist meine wahre Identität«, flüstere ich. Die aufsteigenden Tränen schnüren mir die Kehle zu, und als mir Pascal tröstend die Hand auf die Schulter legt, breche ich hemmungslos in Tränen aus.

      »Hast du deshalb eine Waffe bei dir? Hast du Angst vor deinem Stiefvater? Ist es das?«

      Ich nicke kurz, wische mir den Rotz mit den Ärmeln ab und reibe mir die Augen, wie es ein Kind tun würde.

      »Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn du Angst um dein Leben haben musst? Sogar dort, wo man eigentlich sicher sein sollte?«, sprudelt es aus mir heraus. »Ich habe nie ein richtiges Zuhause gehabt. Mein Vater hat sich von meiner Stiefmutter getrennt, als meine Schwester noch ein Baby war. Ich war damals gerade zur Schule gekommen und musste bei meiner Stiefmutter bleiben. Damals haben sie mich in dem Glauben gelassen, dass sie meine leibliche Mutter sei. Aber sie hat mich und meine Schwester spüren lassen, dass wir ihr nur im Weg waren. König Alkohol war ihr immer wichtiger gewesen. Sogar als sie ihren neuen Stecher kennenlernte und wir in das beschissene Angeberhaus gezogen sind. Turia ... sie hat Turia ...«, Bei der Erinnerung daran, was ich damals mit ansehen musste, breche ich ab.

      »Turia? Ist das deine Schwester?« Pascal sitzt immer noch neben mir. Er hat meine Schulter losgelassen und hört mir mit einer Ernsthaftigkeit und Ruhe zu, die mich dazu veranlassen, weiterzureden.

      »Ja«, flüstere ich, »sie und ich. Wir hatten nur einander, und nichts und niemand hat es geschafft, einen Keil zwischen uns zu treiben. Ich habe sie vor den Attacken ihrer Mutter geschützt, während sie mich davor bewahrte, dass unser Stiefvater mich verprügelte. Und jetzt ... jetzt bin ich einfach abgehauen. Weil ich endlich meinen Frieden haben wollte. Ich wollte nicht mehr unter Menschen sein. Deshalb bin ich bis nach Abisko gefahren und von dort aus in die Wildnis gelaufen. Und dann ...«, ich bin nicht in der Lage, noch mehr zu erzählen und gebe Pascal die Zeit auf das Gesagte zu reagieren. Er starrt an mir vorbei in den Regen, steht dann auf und versucht anscheinend mein Schicksal zu rekonstruieren, damit er Ordnung in mein schockierendes Geständnis bringen kann.

      »Das, was dir und deiner Schwester passiert ist, ist ein Verbrechen an Wehrlosen«, sagt er schließlich leise, schüttelt ungläubig den Kopf und sieht mich an.

      »Und was ist mit deiner richtigen Mutter passiert? Oder dein Vater? Hat der nicht gewusst, wie es euch ergeht? Und überhaupt ... wie, wie kommt es, dass du so gut norwegisch sprichst? Ich komme da nicht mit.«

      Bei dem Gedanken an meine Kindheit beginne ich zu frösteln. Schon immer habe ich geglaubt, dass ich ein Todgeweihter bin. Ein Verlierer, der nicht alt wird und der jedem scheißegal ist. Abgesehen von Turia natürlich. Daher wundert es mich, dass Pascal so viel Interesse und Beistand für mein Schicksal zeigt. So wie er mich jetzt ansieht, schnürt es mir die Kehle zu. Sein Gesichtsausdruck strotzt vor Mitleid und Entsetzen, aber ich kann auch unbändige Wut darin erkennen.

      »Ich bin eigentlich Norweger. Turias und mein Vater, also unser gemeinsamer Vater, ist Deutscher. Er ist vor fünfundzwanzig Jahren nach Norwegen ausgewandert. Dieses Arschloch. Er hat mir nie erzählt, wer meine richtige Mutter ist, oder was aus ihr geworden ist. Viel lieber ist er zur See gefahren, als sich


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