Tiloumio. Maari Skog
Haare hinter die Ohren, während sie die Postkarten auf dem Tresen betrachtet.
»Was kostet das pro Nacht?«, fragt sie, ohne auf meine Frage einzugehen.
»Dreihundertfünfzig Kronen. Wenn ihr länger bleiben wollt, ist das kein Problem. Mein Freund und der Chef bieten auch Trekkingtouren an. Grillabende gibt es auch, wenn ihr wollt«, sage ich jetzt freundlicher.
Den Schlüssel für die Hütte habe ich mittlerweile in einer Schublade unter dem Tresen gefunden. Ich schiebe ihn samt dem Anmeldeformular über den Tresen und bemerke einen Schatten im Türrahmen. Ich sehe auf. Pascal steht in der Tür und mustert mich mit einem erstaunten, wie auch entsetzten Ausdruck. Es durchfährt mich siedendheiß, weil mir erst jetzt bewusst wird, dass ich die ganze Zeit norwegisch gesprochen habe und Pascal es offensichtlich gehört hat.
Ich lasse bestürzt die Hände sinken, und ehe ich mich versehe, dreht sich Pascal um und verlässt die Rezeption. Seine Schritte hallen in meinen Ohren nach.
»Wer war das denn?«, fragt der Junge.
Ich habe in den letzten Sekunden fast vergessen, dass ich nicht alleine bin, und wende mich geistesgegenwärtig den Ankömmlingen zu.
»Das ...? Das ist Pascal. Er arbeitet auch hier. Eigentlich ist er für alles zuständig. Zumindest was die Gäste betrifft. Er wird euch helfen, wenn ihr Fragen habt.«
Ich sehe auf das Anmeldeformular, das mir das Mädchen ausgefüllt zugeschoben hat, während meine Gedanken das Tempo meines rasenden Herzens angenommen haben. Ich muss sämtliche Kräfte aufbringen, um mir nichts von meinem privaten Dilemma anmerken zu lassen.
»Dann herzlich willkommen. Wenn ihr länger bleiben wollt, dann sagt morgen einfach Bescheid«, sage ich mit belegter Stimme.
»Und wo ist die Hütte?«
»Ach ja. Ähm .. ich zeig´s euch.« Ich gehe mit den beiden hinaus und zeige den Hang hinauf zum Waldrand. »Wenn ihr den Schotterweg hinauffahrt, seht ihr die Hütte sofort. Davor könnt ihr auch parken.«
»Danke. Dann bis morgen«, lächelt das Mädchen, das laut Formular Janne heißt, und nimmt ihren Freund wieder an die Hand, als sie zum Auto gehen.
Ich sehe zu, wie sie einsteigen und den unbefestigten Weg hinauffahren, bis sie aus meinem Blick verschwinden. Nun bin ich wieder alleine mit meinem Lügengebäude, das nur noch einem Haufen Schutt gleicht.
Pascals Reaktion hat mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, und es würde mich nicht wundern, wenn er mich jetzt zum Teufel jagt.
Ich schließe die Rezeption ab und gehe ziellos über das Gelände. Im Wäldchen setze ich mich auf einen Baumstumpf und rauche eine Zigarette. Alles in mir sträubt sich dagegen, zu Pascal zu gehen. Nicht nur weil ich Angst vor seiner Reaktion auf meine Lügen habe, sondern auch, weil ich nicht weiß, was ich ihm sagen soll. Eine neue Geschichte zu erfinden, ist unmöglich. Ich bin kein geborener Lügner, und es ist an sich schon ein Wunder, dass ich es bisher geschafft habe, Pascal und Michi etwas vorzumachen.
Ich versuche zwischen den Bäumen einen Blick zur Hütte zu erhaschen, aber einer der Wohnwagen versperrt mir die Sicht. In Zeitlupentempo stehe ich auf und schleiche hinüber, das mulmige Gefühl in der Magengegend niederkämpfend. Es wird das Beste für mich sein, einfach zu verschwinden. Dann muss ich nicht erzählen, was passiert ist, und niemand erfährt, dass ich in Wahrheit ein Mörder bin. Ich weiß nicht einmal, ob Pascal mich nicht der Polizei ausliefern würde, und rede mir ein, dass ich ihm keine Rechenschaft schuldig bin. In Gedanken sehe ich mich schon eingesperrt in einem Betonklotz, die Finger eines Staatsanwaltes anklagend auf mich gerichtet. Nichts wäre schlimmer als das. Ich will nicht eingesperrt sein und mich mit anderen Kriminellen messen müssen. Da kann ich mir gleich den Strick geben. Im Knast würde ich mir mit Sicherheit schnell wünschen, dass ich mich nicht aus den Klauen Stevens hätte befreien können. Wäre ich doch gleich erschossen worden. Ich höre wieder das metallische Klicken des Revolvers neben meinem Kopf und die zischelnde Stimme, die mir widerwärtige Drohungen ins Ohr flüstert.
Der Revolver. Der weiße Fleck, der mein Gedächtnis beeinträchtigt, bekommt plötzlich Risse. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das geträumt habe, aber mir kommt es vor, als ob ich den Revolver bei mir hatte. Irgendwann hatte ich dieses verdammte Ding in meine Tasche gesteckt, oder?
Wut und Angst lassen mich unkontrolliert und zornig schnauben. Ich stehe mitten auf der Campingwiese und spähe ein weiteres Mal unsicher zur Hütte hinüber. Doch ich kann nicht erkennen, ob sich Pascal in ihr aufhält. Ich will ungestört dabei sein, wenn ich ein paar Sachen einpacke und mich aus dem Staub mache. Aber mir ist klar, dass ich damit rechnen muss, dass Pascal mich davon abzuhalten versucht. Ich blicke mich unsicher um, nehme all meinen Mut zusammen und gehe mit entschlossenen Schritten zur Hütte. Mit rasendem Herzen reiße ich die Tür auf und stelle erleichtert fest, dass ich alleine bin. Schnell mache ich mich daran, den Kleiderschrank im Schlafzimmer nach etwas Brauchbarem zu durchsuchen, womit ich die Kälte in den Nächten vertreiben kann. Doch ich finde keine Klamotten, die einem richtigen Kälteeinbruch standhalten würden. Hektisch blicke ich mich ein weiteres Mal um und stelle mir die Frage, was für ein Tod mir lieber wäre. Kältetod oder Knasttod? Ich entscheide mich für Ersteres. Auf die paar Tage mehr oder weniger in diesem verdammten Leben kommt es jetzt nicht mehr an.
Ich bin gerade im Begriff, die Schranktür zu schließen, als ein Schatten von der Zimmertür hereinfällt.
»Was hast du vor?« Pascal steht im Türrahmen und hat die Arme verschränkt.
»Ich werde gehen«, sage ich leise mit unterdrückter Wut.
»Wirst du nicht«, antwortet Pascal mit samtener, beruhigender Stimme.
»Doch!«, begehre ich auf, »jetzt sofort. Und du wirst mich nicht daran hindern können.« Ich stehe, am ganzen Körper bebend, vor Pascal, der die Hände sinken lässt und sich scheinbar darauf gefasst macht, mich zurückhalten zu müssen.
»Es hat angefangen zu regnen. Du wirst dir den Tod holen, wenn du ohne Ausrüstung gehst.«
»Tod. Tod! Tot bin ich sowieso schon. Es ist egal, was ich tue. Mich hat der Tod schon längst geholt!«, schreie ich mit zitternder Stimme.
Ich bin den Tränen nahe. Pascals ruhiger, verständnisvoller Tonfall macht mir schwer zu schaffen. Es wäre leichter, wenn er mich rausschmeißen würde, als Strafe für meine Lügen. Es wäre nur gerecht. Stattdessen macht er einen Schritt ins Zimmer und sieht mich mitleidig an.
»Du wirst nicht gehen«, meint er überzeugt.
»Ich weiß nicht, was dich da so sicher macht«, knurre ich und gehe an Pascal vorbei in die Küche, wo ich mein Handy aus der Schublade im Küchenschrank nehme.
Ich werfe einen Blick auf das Display und stutze. Vier Anrufe in Abwesenheit. Eine SMS. Für einen Augenblick vergesse ich, dass Pascal hinter mir steht, und öffne die Message. Heiße Freude mischt sich in meine Angst, doch sie erstirbt, als ich Turias Botschaft lese. Ich drücke die Rückruftaste, bekomme aber zum wiederholten Male nur die Nachricht, dass der angerufene Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar ist.
»Scheiße«, fluche ich. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Verzweifelt drehe ich mich zu Pascal um, der immer noch im Schlafzimmer steht und den Mund aufmacht, um etwas zu sagen. Doch bevor er dazu kommt, stürze ich hinaus und knalle die Haustür hinter mir zu. Rastlos gehe ich auf der Veranda hin und her, setze mich schließlich auf den Boden und lehne mich an die Hauswand. Vor mir rauscht ein ergiebiger Regen auf die Erde nieder. In der Regentonne neben der Veranda versucht das plätschernde Wasser aus der Regenrinne, das Rauschen zu übertönen. In der einen Hand halte ich das Handy, während ich mir mit der anderen unentwegt die Tränen aus dem Gesicht wische. Ich kann nicht mehr. Es geht einfach nicht mehr weiter, und die einzige Möglichkeit, die ich habe, ist aufzugeben. Ich hasse meine lächerlichen Lügen, die kein Ausweg waren, wie mir heute klargeworden ist. Sie haben mich in die Enge getrieben. Und die Nachricht, die mir Turia zukommen ließ, schürt meine Schuldgefühle noch zusätzlich. Ich hätte ihr so gerne gesagt, wie leid es mir tut, dass ich sie im Stich gelassen habe. Nun war es dafür zu spät. Das Einzige, was ich noch tun kann,