Der Nil. Terje Tvedt
dass in Ägypten auch christliche Frauen einen Schleier trugen, und das sogar im Haus, sobald sich ein Mann näherte. Der Schleier war so verbreitet, dass er eingesetzt wurde, um Klassenunterschiede zu markieren; weiße Schleier wurden von jungen oder armen Frauen benutzt, schwarze hingegen von eher wohlhabenden.23
Die Erklärung für die technologische Stagnation lautet eher, dass sich die Technologie, die den Zyklus für Getreideanbau sowie die Organisation der Arbeit bestimmte, nicht ändern ließ, solange sich nicht auch die natürlichen Grundlagen änderten, auf denen die Landwirtschaft beruhte. Es war schlichtweg unmöglich, eine andere Anbauweise einzuführen, da man den Ackerbau nicht von der Macht und dem saisonalen Rhythmus des Nils abkoppeln konnte. Die topologischen und hydrologischen Verhältnisse jener Zeit verhinderten es, den Wasserlauf des Nils auf derart neue und radikale Weise zu kontrollieren, dass es vernünftig gewesen wäre, die in der Landwirtschaft angewandte Technologie zu ändern.
In den Jahren vor Napoleons Einmarsch war das Regime aufgrund von schlechten Ernten zusätzlich geschwächt. Im August 1791 hatte sich die Flut zu schnell zurückgezogen: »Das Volk war aufgewühlt; Erträge wurden [vom Markt] zurückgehalten, und die Preise stiegen.«24 Die allgemeine Situation verschlechterte sich im Laufe des Sommers 1792 weiter. In Jahren, in denen die Nilschwemme länger als gewöhnlich andauerte oder weniger Wasser als erforderlich mit sich führte, sanken die Einkünfte der Bauern und infolgedessen auch die Steuereinnahmen. Um den Verlust auszugleichen, versuchten die Staatsführer, sich auf andere Art an den Bauern schadlos zu halten, oftmals in Form schlichter, mit Waffengewalt durchgeführter Diebstähle. Das verstärkte wiederum den Gegensatz zwischen den Herrschenden und den Beherrschten und schwächte die Position der Mameluken.
Napoleons Feldzug durch das Nildelta ist aus verschiedenen Gründen äußerst interessant. Die Idee, dass Frankreich sich Ägypten aneignen sollte, war bereits 1672 von Johann Gottfried Leibniz entwickelt worden. Der damals 26-jährige Gelehrte hatte gehofft, das ägyptische Abenteuer würde den Sonnenkönig Ludwig XIV. davon abhalten, sein Reich in östlicher Richtung zum Rhein auszudehnen. Ende des 18. Jahrhunderts war das geopolitische Spiel ein anderes. Die Pariser Strategen wollten Ägypten kontrollieren, um Englands Verbindung mit Indien zu schwächen und somit dessen Rolle als Weltmacht zu unterminieren. Die Invasion wurde darüber hinaus mit dem Wunsch begründet, die Ideale der Französischen Revolution nicht nur wo immer möglich, sondern besonders am Geburtsort der Zivilisation zu verbreiten.
Paradoxerweise wollte Napoleon den Widerstand gegen den Einmarsch der französischen Truppen mit politischen Initiativen schwächen, die dem erklärten Ziel zuwiderliefen, die Ideen der Französischen Revolution zu exportieren. Der Erbe der Französischen Revolution erließ an den Ufern des Nils ein Dekret, in dem er den Koran als den einzigen Weg zum menschlichen Glück beschrieb, und versprach, ein auf den Prinzipien des Koran beruhendes Regime zu errichten. Im August 1798 erklärte er öffentlich: »Ich hoffe, … dass es mir gelingen möge, alle klugen, weisen und gebildeten Männer des Landes zu versammeln und ein Regime zu etablieren, das auf den Prinzipien des Koran beruht, welche einzig und allein die Wahrheit verkörpern und den einzigen Weg zum menschlichem Glück darstellen.« Er bestand auch darauf, dass die muslimischen Führer das Volk anhalten sollten, »mehr als zwanzig Verse des Koran, des Heiligen Buches, zu lesen«, schließlich habe dieses seinen Einzug in Kairo vorhergesehen und beschrieben! Auch versuchte er, sich als Muslim darzustellen, und nahm an muslimischen Gebeten und Riten teil. Viele seiner Offiziere und engsten Berater reagierten besorgt auf diese Taktik. Auf kurze Sicht könne man damit vielleicht den Widerstand abmildern, meinten sie, langfristig aber nur umso mehr Probleme verursachen.
Wie alle anderen großen militärischen Expeditionen und Eroberungsversuche war auch Napoleons Feldzug von Gegensätzen, Paradoxien und Widersprüchen geprägt. Um die Vorzüge der europäischen Zivilisation gegenüber der islamischen Welt hervorzuheben – welche die Druckkunst noch immer nicht anerkannt hatte –, wurden mythische Erzählungen über einen Napoleon kreiert, der an der Spitze seines Heeres das Delta hinaufritt und dabei ein gedrucktes Buch las. Jede Seite, die er gelesen hatte, riss er heraus und warf sie weg; die Seiten wurden hinter ihm vom Boden aufgelesen, denn seine Soldaten nahmen die Gelehrsamkeit und die Früchte der Zivilisation in sich auf, während sie den Orient eroberten. Solche Erzählungen spiegeln die idealisierten Bilder der Franzosen über einen Feldherrn wider, der sich selbst als Repräsentant der Neuen Zeit und als Vorkämpfer von Rationalität und Wissen im zurückgebliebenen Orient inszenierte.
Der Feldzug durch das Delta, von Alexandria nach Kairo, wurde in mehrfacher Hinsicht zu einer militärischen Katastrophe. Angesichts einer Tagesration von vier Scheiben Zwieback und einer Flasche Wasser verhungerten und verdursteten viele der Soldaten; außerdem trugen sie zu schweres Gepäck und waren mit viel zu dicken und warmen Uniformen bekleidet. Sie waren auch nicht auf die besonderen ökologischen Bedingungen dieses Kriegsschauplatzes vorbereitet,25 und die Beduinen vergifteten alle Brunnen zwischen dem Nil und Alexandria oder füllten sie mit Sand auf.26
Außerhalb von Kairo stießen Napoleons Truppen mit den Mameluken zusammen, die auf beiden Ufern des Nils standen. Mit großem Sinn für die wachsende Popularität und die metaphorische Macht des alten Ägypten in einem Europa, das sich plötzlich und mit großer Neugier für alles Altorientalische interessierte, bezeichnete Napoleon die Begegnung später als die »Schlacht bei den Pyramiden«. Um seine Soldaten anzufeuern, rief er ihnen zu: »Soldaten! Vier Jahrtausende blicken auf euch herab!« Nach zwei Stunden hatten die französischen Truppen die Mameluken vernichtet. 300 Franzosen und 6000 Ägypter wurden getötet. Die Schlacht war der Anfang vom Ende der Mameluken-Herrschaft in Ägypten.27 Sie ergaben sich, indem sie Napoleon symbolisch die Schlüssel Kairos überreichten. Als eine der ersten Maßnahmen ließ Napoleon in Kairo eine Pontonbrücke über den Nil errichten und eine Windmühle bauen. Die wenigen Windmühlen, die sich in diesem Land betreiben ließen, wurden bis weit in das 19. Jahrhundert »Napoleons Mühlen« genannt.
»Die Schlacht um die Pyramiden« nannte Napoleon den französischen Ägyptenfeldzug 1798. Dieser Feldzug sollte mit einer militärischen Niederlage der Franzosen enden, hatte aber tief greifende kulturelle und politische Konsequenzen bis in die heutige Zeit. Gemälde von Jean-Léon Gérôme (1824–1904).
Wie Menes, der mythenumwobene frühe Pharao und Reichseiniger der ersten Dynastie, und Cäsar vor ihm sowie der britische Generalkonsul in Kairo, Lord Cromer, und Präsident Nasser nach ihm, wusste Bonaparte gleichwohl, dass die Legitimität eines jeden Staatsführers in Ägypten davon abhing, genügend Wasser für die Äcker zu sichern und die Dörfer gegen zu große Fluten zu beschützen. Denn dies war die Voraussetzung für die Ökonomie des ägyptischen Reichs und für die Steuereinnahmen. Napoleon war nun Herrscher über eine gewissermaßen hydraulische Gesellschaft, in der der Nil jedes Jahr ab dem 17. Juni täglich beobachtet wurde und der Munadee El Nil, der »Ausrufer des Nils«, den Anrainern jederzeit Bescheid geben konnte, wie es um die Lebensader stand. Aus diesem Grund erklärte sich Napoleon nach seinem Sieg zum Leiter der jährlichen Festivals zu Ehren des Nil.
Fath al-Khalij oder »Das Festival zur Eröffnung des Kanals« war über viele Jahrhunderte hinweg der große ägyptische Fest- und Feiertag. In der Sommersaison war der Khalij-Kanal von einem Erdwall blockiert. Er wurde geöffnet, wenn der Wasserstand im Nil einen bestimmten Pegel erreicht hatte. Dann floss das Wasser aus dem Fluss in den Kanal, und das Leben kehrte nach Monaten der Dürre buchstäblich auf die ausgetrockneten Ackerflächen zurück. Wie unzählige ägyptische Herrscher vor ihm, inspizierte Napoleon nun den Nilometer auf der Insel Roda in Kairo. Der Wasserstand an diesem Messpunkt bestimmte, wann das Fest beginnen sollte.
Am Morgen des Festtages, die Ägypter waren aufgefordert worden zu feiern, als habe sich die Situation im Land bereits völlig normalisiert, gab Napoleon den Befehl, das Flussboot Aqaba zu schmücken. Er ermunterte die Menschen, am Nil entlangzuspazieren, um den Eindruck zu untermauern, dass mit ihm Stabilität, Gesetz und Ordnung eingekehrt seien. In dem Augenblick, als Bonaparte die Öffnung des Damms anordnete, der den Kanal blockierte, warfen die Menschen alle möglichen Opfergaben in den Nil, auf dass Allah die Frauen und die Böden fruchtbar werden