Der Nil. Terje Tvedt
warfen eine Lehmstatue, die »Verlobte« genannt, in den Kanal. Die Franzosen interpretierten das als Relikt der pharaonischen Praxis, eine Jungfrau in den Nil zu werfen und auf diese Weise zu opfern. Für Bonaparte bot die ganze Veranstaltung eine gute Gelegenheit, sich genügend religiöses und symbolisches Charisma anzueignen, um als der Große Sultan anerkannt zu werden.
Allerdings zeigte sich, dass es nicht ausreichte, sich mittels ritueller Zeremonien als Wächter und Garant des Nils zu inszenieren. Bereits drei Monate nach dem französischen Einmarsch gab es Aufruhr und Krawalle. Aufständische töteten mehrere französische Soldaten und wurden daraufhin geköpft. Ihre Häupter steckte man in Säcke und warf sie danach auf einen der zentralen Plätze in Kairo. Im Juni 1800 wurde dann Jean-Baptiste Kléber, dem Napoleon im August 1799 das Kommando überlassen hatte, in seinem Hauptquartier von einem jungen Religionsstudenten ermordet. Die Franzosen beschlossen, den Mörder nach orientalischer Sitte zu pfählen. Zuvor musste er zusehen, wie drei angebliche Anstifter geköpft wurden, dann wurde die Hand, mit der er Kléber getötet hatte, bis zum Ellbogen verbrannt, bevor er schließlich mehrere Stunden auf dem Pfahl litt. Der Kampf für die Verbreitung der Ideale der Revolution, so sahen es die Franzosen, verlangte drastische Mittel, gleichwohl waren ihre Tage als Besatzungsmacht bereits gezählt.
Nach der Ermordung Klébers wurde das französische Expeditionskorps von General Abdullah Jacques-François Menou angeführt, einem Franzosen, der zum Islam konvertiert war. Die Besatzung wurde schließlich von einer anglo-osmanischen Invasionstruppe beendet; die französischen Truppen in Kairo ergaben sich am 18. Juni 1801, und Menou kapitulierte am 3. September in Alexandria. Nach rund drei Jahren mussten sich die Franzosen aus Ägypten und dem Nildelta zurückziehen. Mehr noch als am Widerstand der Ägypter selbst, waren sie an der Allianz des Osmanischen Reichs mit Großbritannien gescheitert; nicht zuletzt hatte die Blockade durch die britische Flotte das Eintreffen von Verstärkungen aus Paris sowie überhaupt den regelmäßigen Kontakt des französischen Expeditionskorps mit der Hauptstadt verhindert.
Ungeachtet dessen hatte Napoleons Feldzug langfristige Auswirkungen. Erstens blieben Frankreich und französische Experten eng mit Ägypten verbunden, was in den folgenden Jahrzehnten dazu führte, eine neue Kanalverbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean sowie Dammbauten im Nildelta zu planen. Und zweitens sollte die Forschung, die von Napoleon angestoßen wurde, das Bild des Orients im Westen und die Vorstellungen des Orients von Europa bis heute prägen.
Als Fürsprecher von wissenschaftlichem Optimismus und Rationalität, als der er sich selbst betrachtete, hatte Napoleon eine Gruppe aus 167 Wissenschaftlern und technischen Experten mit nach Ägypten genommen, die Commission des sciences et des arts (Kommission der Wissenschaft und Künste). Von Beginn an legte er also großes Gewicht auf die wissenschaftliche Zielsetzung der Expedition.28 Er verbrachte viele Tage und Nächte mit Wissenschaftlern, um über ihre Arbeit in Ägypten zu sprechen. Nach Beendigung des Feldzugs und Frankreichs Niederlage auf dem Schlachtfeld publizierten die Franzosen eine monumentale Beschreibung der Altertümer Ägyptens in 30 Bänden und mit mehr als 3000 Illustrationen. Pharaonische Stätten, die völlig vergessen waren, wurden wieder ausgegraben. Vor dem Einmarsch der Franzosen war die große Sphinx von Gizeh bis zum Hals im Sand verborgen gewesen. Vivant Denon, der Direktor des Pariser Louvre, war Leiter der wissenschaftlichen Expedition und der Erste, der die Tempel von Karnak und Luxor zeichnete. Denon verfasste seine eigenen Reisebeschreibungen, die 1802 unter dem Titel Voyages dans la Basse et la Haute Égypte erschienen (»Reisen durch Ober- und Unterägypten«) und fast unmittelbar ins Deutsche und Englische übersetzt wurden; das Buch war eine Sensation. Die Kulturschätze des Nils wurden der Welt wieder zugänglich gemacht.
Napoleons kurzes Abenteuer als Herrscher über das Nildelta endete als militärische Katastrophe, lebte aber als kultureller und intellektueller Erfolg weiter – so wurde der Feldzug überwiegend gedeutet. Im Westen wurde unter Intellektuellen eine neue Form der Reise populär; das Ziel war nun die Enthüllung der Geheimnisse der bis dahin unbekannten altägyptischen und der als überwiegend verschlossen wahrgenommenen arabisch-muslimischen Welt. Die Geschichten über Napoleons Heer in Ägypten heizten die Fantasie vieler Abenteurer an und ließen die Herzen zukünftiger Entdeckungsreisender höher schlagen. Letztlich trug dies auch dazu bei, die Grundlage für den Orientalismus als kulturelle Bewegung in Europa zu schaffen, in dessen Kielwasser sogar eine Art »Ägyptomanie« zutage trat. Wie Victor Hugo einige Jahrzehnte später im Vorwort zu seiner 1829 publizierten Gedichtsammlung Les Orientales zusammenfasste: »Zu Zeiten Ludwigs XIV. waren alle Hellenisten. Heute sind alle Orientalisten.«
Ägypten wurde in der Welt bekannt, und die Ägypter wurden mit der Welt bekannt. In einer anderen und immer zentraler werdenden Perspektive ist der Feldzug indes als Katastrophe aufgefasst worden, gerade aufgrund des damit verbundenen kulturellen Einflusses. In der muslimischen und postkolonialen Interpretation wurden Napoleon und sein wissenschaftlicher Säkularismus als Übergriff auf die ägyptische Kultur und als teuflischer Angriff auf den Islam wahrgenommen.
Kritik des Orientalismus
Ich fahre über die modernen Straßen durch das Delta, vorbei an Orten, die ich im Morgendunst, der alle Konturen in der flachen Landschaft verwischt, nur ahnen kann. Die Nacht war heiß und unbehaglich; die Klimaanlage hat nicht funktioniert, und der Ventilator ließ mich nicht schlafen, weil er sich anhörte wie ein heulender Hund. Ich lag wach und dachte an einen Roman, der fünf Jahre vor Napoleons Landung im Delta veröffentlicht wurde: Xavier de Maistres Expédition nocturne autour de ma chambre (Nächtliche Expedition um mein Zimmer).29
Der Roman fängt damit an, dass de Maistre die Tür schließt. Er hat beschlossen, eine Reise zu machen – nicht hinaus in die Welt, sondern in seinem Schlafzimmer. Das Ziel ist, sich vom Stumpfsinn der Gewohnheit zu befreien. Er macht sich für die Reise bereit, indem er seinen rosablauen Schlafanzug anzieht. Da er kein Gepäck benötigt, begibt er sich gleich auf seine Tour, zunächst zum Sofa, dem größten Möbelstück im Raum. Indem er das Zimmer bewusst mit dem frischen Blick des Reisenden betrachtet, kann er den Stumpfsinn – oder präziser: die Blindheit – der Gewohnheit abschütteln. Er sieht das Zimmer auf neue Weise, genauer gesagt, das Zimmer erscheint ihm neu, weil er es mit neuem Blick betrachtet. Er entdeckt einige Qualitäten des Sofas zum zweiten Mal – etwa dessen schöne Beine. Und befreit vom Blickwinkel der Routine, weiß er das Möbelstück auf neue Weise zu schätzen, denkt daran, wozu es benutzt worden ist und wozu es alles benutzt werden kann.
Der Roman lässt sich lesen wie ein Beitrag zu einer Diskussion über Reisen zu Bildungszwecken. Er weist die Vorstellung vom Bildungsvorteil der großen Reise zurück und betont, dass es nicht darauf ankommt, viele Orte aufzusuchen, sondern darauf, wie man mit den eigenen Erfahrungen umgeht, und vor allem, ob man seine Umgebung befreit von dem Stumpfsinn sehen kann, den Gewohnheit und Routine immer wieder erschaffen und reproduzieren. In der Weltliteratur verhält es sich mit dem Nil ähnlich wie mit de Maistres Schlafzimmer: Vieles ist bekannt, vieles ist beschrieben, denn kaum ein anderes Phänomen wurde über längere Zeit und mit größerer Systematik erörtert als die Geschichte des Nils und die zivilisationsbildende Rolle dieses Flusses. Da das Nilgebiet über so lange Zeit und in so vielen Bereichen die Grundlage für herrschende Auffassungen über die Entwicklung der Geschichte und für Stereotypen von »uns« und »den Anderen« gewesen ist. Und weil sich Deutungen leicht durch die Routine dieser Beschreibungstraditionen formen lassen, müssen wir immer wieder über unseren eigenen Standort nachdenken, um dem Stumpfsinn der Routine entgehen zu können. Als ich an diesem Morgen durch das ägyptische Delta reise, tue ich das nicht, weil ich die Reise an sich für bildend halte; de Maistres Buch erinnert mich daran, dass das Beobachten und Schreiben sowohl schwierig, anspruchsvoll als auch nur potenziell lohnend ist.
Nur wenige haben die Diskussion darüber, wie der Nahe Osten beschrieben werden kann und sollte, stärker geprägt als Edward Said, der Palästinenser, der mit seiner Familie als Kind nach Ägypten flüchtete, zum Experten für europäische Literatur des 19. Jahrhunderts wurde und gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu den einflussreichsten Intellektuellen der Welt gehörte. Said widmete sein Leben dem Studium den in der europäischen oder abendländischen intellektuellen Tradition verorteten Beschreibungen vor allem des Nahen Ostens