Der Nil. Terje Tvedt

Der Nil - Terje Tvedt


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fehlte, waren seine Ambitionen und sein Wille zur Macht genauso grenzenlos.

      Wo traditionelle Kriegsherren sich oft auf Ränkespiele im Palast oder die Durchführung von Strafexpeditionen beschränkten, hatte Muhammad Ali Visionen. Er war sich bewusst, wie sehr der Nahe Osten inzwischen technologisch und militärisch hinter Europa hinterherhinkte, und begriff, dass Ägypten Impulse und Technologie aus Europa importieren musste. In der ägyptischen Geschichte sollte er eine äußerst wichtige Rolle spielen, nicht zuletzt, weil er der Erste war, der Entwicklung als einen Prozess betrachtete, der sich auf vielen Ebenen abspielte. Muhammad Ali heuerte ausländische Experten und Techniker an, um das Heer, die Landwirtschaft und das Bildungssystem zu modernisieren. Wichtiger noch: Was die Nutzung der größten Ressource des Landes betraf, hatte er weitaus ambitioniertere Pläne als seine Vorgänger. Und so begann unter diesem Mann und seiner autokratischen Herrschaft die moderne Geschichte des Nils.

      Dass gerade er die moderne Entwicklung des Niltals so nachhaltig prägen sollte, ist ein Bespiel für die Bedeutung von Zufällen im Spiel der Geschichte; Zufälle, die in einer von der Permanenz des Nils erschaffenen Umgebung umso deutlicher hervortreten. 1801 gehörte das von Muhammad Ali angeführte kleine Kontingent von 300 Mann aus Kavala zu dem osmanischen Heer, das Ägypten nach Napoleons kurzem Intermezzo als »Herrscher der Pyramiden« zurückerobern sollte. In der strategisch wichtig bei der Nilmündung gelegenen Bucht von Abukir gingen die Soldaten an Land und wurden sofort in Kämpfe verwickelt. Muhammad Ali fiel während der Schlacht ins Meer, konnte aber nicht schwimmen; laut späteren Erzählungen wurde er von der Besatzung eines britischen Schiffs vor dem Ertrinken gerettet. Ausgerechnet dieser Soldat sollte in den folgenden Jahren schrittweise die Macht in Ägypten an sich nehmen. Nach Vertreibung der Franzosen und dem Abzug des Großteils der osmanischen Interventionstruppen blieb nur Muhammad Alis Korps zur Absicherung der zurückgewonnenen Herrschaft Konstantinopels über Ägypten zurück. Infolge mehrerer Meutereien aufgrund ausbleibender Soldzahlungen riss Muhammad Ali schließlich die Herrschaft über das Land an sich, ohne dass der Sultan Selim III. dies verhindern konnte. 1805 rief er sich selbst zum Anführer Ägyptens aus und wurde einige Wochen später von der Zentralregierung in Konstantinopel auch offiziell als Wali (Gouverneur) anerkannt. 1841 war seine Stellung schließlich so gefestigt, dass er sein Amt als Wali von Ägypten an seine Nachkommen vererben konnte. Wie sich zeigen sollte, entwickelte sich die von ihm gegründete Dynastie zu einer derjenigen in der Geschichte Ägyptens, die das Land am stärksten modernisierten.

      Zuvor kämpfte er gegen Einmischung vonseiten der Briten. Der Historiker Wallis Budge schreibt, dass am 17. März 1807 etwa 5000 britische Soldaten in Ägypten landeten, um Muhammad Ali Pascha zu einer verstärkten Zusammenarbeit zu bewegen. Sie marschierten auf Rashid zu und nahmen die Stadt zunächst ohne Gegenwehr ein. Innerhalb der Stadt kam es dann jedoch zu einem gewaltigen Gegenangriff. Nachdem 185 ihrer Soldaten getötet und 262 verletzt worden waren, zogen sich die Briten unter großen Schwierigkeiten wieder zurück. Die Köpfe der getöteten Soldaten wurden nach Kairo gebracht. Dort wurden sie beiderseits einer Straße auf Pfähle gesteckt, ungefähr dort, wo Napoleon zehn Jahre zuvor das Gleiche mit dem Mameluken getan hatte und sich heute die Azbakiyya-Gärten befinden. Die Briten unternahmen einen halbherzigen zweiten Versuch, Rashid zu erobern, doch auch diese Aktion endete in einer Katastrophe. Die britischen Gefangenen wurden nach Kairo eskortiert und zwischen den Pfählen mit den verwesenden Köpfen ihrer toten Kameraden zur Schau gestellt.

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      Muhammad Ali, der Soldat, der Anfang des 19. Jahrhunderts die Macht in Ägypten übernahm. Er brachte es nicht nur fertig, 95 Kinder zu zeugen, sondern zeichnete auch verantwortlich für die Modernisierung des Landes. Von Auguste Couder (1790–1873).

      Vier Jahre später, 1811, schrieb Muhammad Ali sich in die Weltgeschichte der Brutalität ein. Nach außen hin hatte er seine Position gesichert. Nun galt es, seine Stellung auch im Inneren zu festigen. Dazu lud er alle verbliebenen Mameluken zu einem großen Fest in die Kairoer Zitadelle ein. Das Bankett wurde zu Ehren eines seiner Söhne abgehalten, der eine Militärexpedition leiten sollte, um die Wahabiten zu vernichten, die Vorreiter jener religiösen Bewegung, die später in Saudi-Arabien an die Macht kommen und in den folgenden Jahren so viele radikale sunnitische Islamisten inspirieren sollte.

      Es gibt, wenn überhaupt, nur wenige Parallelen in den Annalen irgendeines Landes für das, was sich in dieser Nacht des Jahres 1811 nun in der Zitadelle von Kairo ereignete. Für gewöhnlich werden diese Ereignisse als eine staatsmännische Handlung interpretiert, bei der die abstrakten Prinzipien der Moral den politischen Erfordernissen weichen mussten, wobei solcherart moralische Prinzipien in der Vorstellungswelt Muhammad Alis ohnehin nicht existierten. Auch hatte er zu diesem Zeitpunkt die Schriften Machiavellis noch nicht kennengelernt (Teile seiner Werke las er später im Leben, nachdem er lesen gelernt hatte). Die Anführer der Mameluken, so heißt es, seien der Einladung in die Zitadelle ohne einen Funken Argwohn oder Furcht gefolgt und auf überaus zuvorkommende Weise von Muhammad Ali willkommen geheißen worden. Im Laufe des Abends ließ er dann einen nach dem anderen auf brutale Weise umbringen; in den engen Gassen in und um die Zitadelle wurden die Gäste kurzerhand abgeschlachtet.

      Nachdem er jeglichen Widerstand beseitigt hatte, ergriff Muhammad Ali die Initiative zu einer Reihe von radikalen Reformen, die Ägypten zwangsweise in die moderne Welt beförderten; er selbst wurde zu einem der vielen autokratischen Modernisierer der Weltgeschichte. Um feste Einnahmen für den Staat zu sichern, presste er Bauern ihr Land ab. Er setzte die Abgaben für die sogenannten »Steuerbauern« so hoch an, dass diese sie nicht bezahlen konnten, womit Muhammad Ali eine legale Basis geschaffen hatte, um ihren Grundbesitz konfiszieren zu können. Auf diese Weise riss er große Landgebiete an sich und führte ein ihm unterstehendes Handelsmonopol ein. Muhammad Ali bereicherte sich selbst und seine Familie, doch im Gegensatz zu vielen späteren Staatsführern am Nil, die ihre Staatsmacht allein zur persönlichen Bereicherung ausnutzten, war er auch ein Modernisierer. Alle Produzenten mussten ihre Waren an den Staat verkaufen. Der Staat verkaufte sie dann weiter auf Märkten im Inund Ausland. Diese Ordnung der Staatsfinanzen erwies sich insbesondere im Zusammenhang mit Muhammad Alis Konzentration auf Baumwolle als äußerst lohnend. In dem Versuch, mit Großbritannien zu konkurrieren, versuchte er sogar, eine ägyptische Textilindustrie zu etablieren. Der Versuch scheiterte jedoch und war auch von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil es Ägypten an Energiequellen fehlte, die für den Erfolg einer derartigen Industrie unabdingbar waren.

      Muhammad Alis wichtigste historische Rolle war indes die des Modernisierers der ägyptischen Lebensader – des Nils. Er wollte den Fluss auf eine in der ägyptischen Geschichte nie zuvor erprobte Art ausbeuten und ergriff 1818 die Initiative zum Bau des Al-Mahmoudia-Kanals. Durch diese Verbindung vom Nil zu Ägyptens wichtigstem Meerhafen sollte es den Schiffen erspart werden, den gefährlichen Küstenabschnitt zwischen Rashid und Alexandria zu befahren. Die Arbeiten wurden von einem der vielen Europäer, die Muhammad Ali in seine Dienste genommen hatte, dem französischen Ingenieur Pascal Coste, geleitet und bereits 1820 beendet.

      Doch wichtiger: Muhammad Ali setzte die Arbeit an den umfangreichen Dämmen quer über die beiden Flussläufe in Gang, in die sich der Nil nördlich von Kairo teilt. Das Ziel dabei war, den Flusspegel so weit anzuheben, dass das Wasser leichter in die vielen Kanäle im Delta abfließen konnte. Auch hier zeichnete ein französischer Ingenieur, Mougel Bey, für die Arbeiten verantwortlich. Große Teile des alten Flutbewässerungssystems, das seit der Zeit der Pharaonen dominiert hatte, sollten in ein ganzjähriges Bewässerungssystem umgewandelt werden. Die Fundamente der Dämme waren allerdings schlecht gebaut; als das Projekt nach Muhammad Alis Tod fertiggestellt wurde, funktionierte es nicht wie geplant. Ungeachtet dessen wurden über 30 000 Hektar in landwirtschaftliche Fläche umgewandelt, auf der dreimal jährlich geerntet werden konnte. Muhammad Alis Engagement für die Ganzjahresbewässerung unter Inanspruchnahme französischer Hilfe entpuppte sich als eine der unmittelbarsten Folgen der napoleonischen Besatzung Ägyptens. Insofern übersah Edward Saids Kritik an der Eroberung Ägyptens durch das westliche Wissenschaftssystem im 19. Jahrhundert gänzlich die Bedeutung der Beschreibung und Analyse des Nils als Wassersystem durch die Franzosen, die eine Voraussetzung dafür war, dass diese Modernisierung überhaupt möglich wurde.

      Muhammad


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