Der Nil. Terje Tvedt

Der Nil - Terje Tvedt


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Ägypten, nicht zuletzt übte er Kritik an Napoleons wissenschaftlicher Expedition und der Lesart, die diese legitimierte.

      Said beschrieb die französische Militärinvasion und das französische wissenschaftliche Projekt als zwei Seiten derselben Medaille und als Paradebeispiel für das europäische Streben, eine totale Kenntnis über »den Anderen« zu erlangen, als archetypischen Ausdruck für den Wunsch nach Kontrolle. Für ihn begingen Napoleon und dessen Kommission nichts Geringeres als die Ursünde der Zusammenführung von abendländischem Machtmissbrauch und Wissensanhäufung, deren historische Aufgabe darin bestand, den Orient zu unterdrücken. Der europäische Forscher oder »Orientalist« beschrieb den Orient von oben herab, mit dem Ziel, sich einen Überblick über das gesamte sich vor ihm entfaltende Panorama zu verschaffen – Kultur, Religion, Denkweise und Geschichte. Um das zu erreichen, musste er jedes Detail nach vereinfachten, schematischen Kategorien betrachten. Said beschäftigte sich mit den Rahmenbedingungen, unter denen in einer Gesellschaft Wissen produziert wird und welche die Ungleichheit nicht nur widerspiegeln, sondern verursachen. Aus diesem Grund wies Said die 30 von Napoleons Wissenschaftsexpedition erstellten Bände und alles, was in deren Folge veröffentlicht wurde, als Ausdruck des Machtmissbrauchs gegenüber dessen, was von der Forschung beschrieben worden war, zurück. Diese Forschung galt ihm per definitionem als unwissenschaftlich.

      Said zeigt einen wichtigen und allgemeingültigen Charakterzug von Forschung auf, die ein unartikuliertes, unkritisches Verhältnis zu den Machtinstitutionen ihrer Zeit hat, und er beschreibt, wie dadurch beeinflusst wird, worüber gesprochen wird und wie darüber gesprochen wird. Diese Art der Forschung ist sich nicht darüber im Klaren, wie Machtverhältnisse beeinflussen, welche Fragen gestellt und welche Begriffe verwendet werden, welche Schlussfolgerungen akzeptabel und deshalb für den Forscher vorteilhaft sind. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass viele Forscher, die sich mit Afrika, Asien und Lateinamerika beschäftigt haben, sich kaum für ihr Verhältnis zu und ihren Umgang mit der Macht interessierten, die ihre Forschung beeinflusste, und dass sie auch nur wenig darüber nachgedacht haben – ob sie nun als Konfliktlöser für die Kolonialverwaltung arbeiteten, als Entwicklungshelfer oder im Krieg für Kommandanten und Generäle.

      Said trifft hier einen offenkundigen wunden Punkt in der westlichen Wissenschaftsgeschichte. Aber er geht zu weit, denn er präsentiert eine Karikatur der abendländischen Orientkenntnisse. Bei seinem Überblick über die entsprechende Literatur zieht er willkürlich nur jene Beispiele heran, die seine These untermauern. Das Problematischste an seiner Analyse ist jedoch, dass er im Grunde die Möglichkeit verneint, westliche Forscher könnten überhaupt Kenntnisse über den Orient oder Ägypten erlangen, da deren Arbeiten per definitionem mit Vorurteilen belastet seien. Der Orientalismus ist wirksam, ob manifest oder latent, um Saids Worte zu benutzen, und deshalb lässt sich die Welt nicht beschreiben. Westliche Forschung über den Orient erstelle ihre Berichte oder Darstellungen nicht aufgrund von Tatsachen, sondern sei weiterhin geprägt vom institutionalisierten Machtstreben.

      Saids Kritik der abendländischen Forschung des 19. Jahrhunderts über den Nahen Osten zeigt und entlarvt, wie etliche Autoren ein Ägypten beschrieben, das gar nicht existierte, es sei denn als Bühne, auf die Europäer ihre kulturellen Vorurteile und bisweilen ihre sexuellen Fantasien projizieren konnten. Aber Saids Analyse ist zu einseitig und willkürlich, um als belastbare empirische Analyse von europäischen Deutungen »des Orients« durchgehen zu können. Sie weist ein komplettes Wissenssystem zurück, und ihre totalisierenden Ambitionen entlarven den Kritiker ebenso sehr wie den Gegenstand seiner Kritik. Saids Buch ist ein doppelter Spiegel: Es zeigt nicht nur sprachliche Fallstricke in der Deutung des Nahen Ostens auf, sondern auch die Konsequenzen von Saids Projekt. Statt offen vorzuschlagen, diese Darstellungen zusammen mit dem Dargestellten aus der Geschichte zu tilgen, erreicht Said mit einem subtileren Handgriff die gleiche Wirkung: Er suggeriert, dass die orientalistischen Analysen eine »Sünde« beinhalten, da sie an sich bereits eine Unterdrückung »des Anderen« darstellten.

      In diesem Zusammenhang und dieser Perspektive muss Napoleons Commission des sciences et des arts rehabilitiert werden. Said sagt zweifellos zu Recht, dass deren Werke geprägt sind von den Vorurteilen ihrer Zeit und von französischen Selbstbildern und Weltanschauungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zugleich aber vermittelten diese Werke neues Wissen über eine unbekannte Weltgegend für ein Europa, das aus unterschiedlichen historischen Gründen zu diesem Zeitpunkt eine technologisch überlegene, aufsteigende Weltmacht war. Die Werke vermittelten auch ein Wissen über Ägypten und dessen Geschichte, das die Ägypter selbst nicht besaßen und für dessen Untersuchung ihnen damals eine wissenschaftliche Tradition fehlte.

      Einer der Gründe, aus denen es möglich ist, eine Biografie des Nils zu schreiben, liegt nicht zuletzt in der Existenz einiger der Forschungen, die von Said abgelehnt wurden.

      »Die Schlacht um den Nil«: Paris gegen London

      Während Europas politische Stärke und militärische Schlagkraft wuchs, versuchten führende europäische Staaten, ihre Macht über Handelszentren und -wege in aller Welt zu vergrößern. Eines der ersten Länder, das die Folgen dieses Wettstreits zu spüren bekam, war Ägypten. Es profitierte davon, jedenfalls zu Anfang, denn indem Großbritannien im Bündnis mit dem Osmanischen Reich das französische Expeditionskorps zum Rückzug aus Ägypten zwang, gewann das Land eine größere Unabhängigkeit von Konstantinopel.

      Eine der berühmtesten Schlachten, die in Ägypten geschlagen wurde, ist die sogenannte »Schlacht um den Nil« vom August 1798. Neben all den anderen barocken Aspekten dieser Schlacht ist sie ein frühes Beispiel dafür, dass das Abendland in der Begegnung mit dem Orient eben keinesfalls als einheitliche Kraft zusammenstand und gemeinsam das Ziel verfolgte, die arabische beziehungsweise islamische Welt zu zerschlagen.

      Admiral Nelson, der einäugige und einarmige englische Kriegsheld, der heute in London über den Trafalgar Square blickt, schrieb nach der Schlacht: »Der allmächtige Gott hat die Marine Seiner Majestät mit einem großen Sieg über die feindliche Flotte gesegnet, welche ich bei Sonnenuntergang am 1. August vor der Nilmündung angegriffen habe.«30 Während die Franzosen kurz zuvor die »Schlacht bei den Pyramiden« gewonnen hatten, wurden ihre Schiffe nun von Londons Flotte aufgerieben. London, das Ägypten auf keinen Fall unter Napoleons Herrschaft geraten lassen wollte, ging unter Nelsons Kommando in der Bucht von Abukir zum Angriff auf die vor dem Delta liegende französische Flotte über, derweil Napoleon selbst sich in seinem Lager in Kairo aufhielt. Die Seeschlacht dauerte vom 1. bis zum 3. August 1798.

      Während sich die Schiffe zur Seeschlacht bereit machten, speiste Nelson ein letztes Mal mit seinen Offizieren und verkündete: »Morgen um diese Zeit bin ich entweder adlig oder in der Westminster Abbey.«31 Die Alternativen waren also klar umrissen: Entweder er würde in den Adelsstand erhoben werden, die traditionelle Belohnung für einen Sieger, oder an der traditionellen Grabstätte für militärische Helden sein Grab finden.

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      »Die Schlacht um den Nil«, die vom 1. bis zum 3. August 1798 direkt vor der Flussmündung im Mittelmeer erfolgte blutige Seeschlacht zwischen Frankreich und Großbritannien, war die erste von vielen Rivalitätsäußerungen zwischen westlichen Großmächten um die Macht über Ägypten und den Nil. Unter dem späteren Lord Nelson, auch »Lord of the Nile« genannt, trugen die Briten den Sieg davon. Gemälde von Thomas Whitcombe (1763–1824).

      Die französischen Schiffsführer waren völlig unvorbereitet und saßen zusammen an Bord des Flaggschiffes Orient, als die ersten Kanonenschüsse fielen. Sie mussten in ihre Beiboote springen, während sie ihre Befehle brüllten. Der Kapitän der Orient wurde im allgemeinen Chaos von fliegenden Gegenständen bewusstlos geschlagen, während seinem zehn Jahre alten Sohn, der neben ihm gestanden hatte, von einer Kanonenkugel ein Bein abgerissen wurde. Um neun Uhr abends gerieten die unteren Decks des Flaggschiffs in Brand. Nun richteten die Briten sämtliche Kanonen auf den angeschlagenen Koloss. Aufgrund des ununterbrochenen Geschützfeuers konnten die Franzosen die Brände nicht löschen. Innerhalb weniger Minuten hüllten Flammen das Schiff komplett ein. Es war zu einem lodernden Inferno geworden, und die


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