Der Nil. Terje Tvedt
Pückler-Muskau hatte Mensen Ernst 1842 gefragt, ob er den Versuch unternehmen wolle, die Quellen des Nils zu finden. Pückler-Muskau erklärte sich bereit, alle Kosten der Expedition zu übernehmen und den Norweger bei Erfolg zusätzlich reich zu belohnen. Noch im selben Jahr startete Mensen Ernst den Lauf seines Lebens. In 30 Tagen legte er die Strecke von Schloss Muskau an der Neiße durch das Osmanische Reich nach Jerusalem zurück. Von dort rannte er weiter bis Kairo, um von dort dem Nil bis zu seiner Quelle zu folgen. Dieser arme Mann aus einem armen Winkel eines zu jener Zeit armen Randgebiets Europas war angetreten, das größte aller geografischen Rätsel zu lösen – jenes, das schon Alexander den Großen, Cäsar, Napoleon und Generationen von Ägyptern beschäftigt hatte. Sollte es Mensen Ernst nun gelingen herauszufinden, woran es lag, dass das Wasser jeden Herbst unter wolkenfreiem Himmel und bei allerwärmstem Klima unverständlicherweise die Äcker überschwemmte? Sollte diesem einsamen Läufer etwas gelingen, das den Legionen des Römischen Reichs nicht gelungen war? Sollte der arme Mann vom inneren Sognefjord das Rätsel lösen, auf dessen Untersuchung schon Herodot so viel Zeit verwendet hatte?
Der Januar war so weit nördlich ein recht kühler Monat, und so dürfte Mensen Ernst optimistisch gestimmt gewesen sein, als er Kairo im Laufschritt hinter sich ließ. Er passierte Luxor mit dem Karnak-Tempel am östlichen Ufer, kam dann jedoch nicht weiter als bis Assuan. Dort starb er. Als mögliche Todesursache wurden Hitze und Durst angeführt, aber das ist zu dieser Jahreszeit unwahrscheinlich. Höchstwahrscheinlich war es irgendeine Form von Ruhr, die ihn an jenem Januartag 1843 für immer aus dem Rennen warf. Mensen Ernst wurde einige Tage später von europäischen Touristen tot im Sand aufgefunden. Nun liegt sein Grab vermutlich irgendwo in den Fluten des Assuanstausees, für immer unter jenem Wasser verborgen, dessen Quelle zu finden er ausgezogen war.
Mensen Ernsts Lauf muss als sowohl grandioses als auch klägliches Beispiel für Hybris oder Fahrlässigkeit gelten. Er scheiterte, bevor die echten Schwierigkeiten überhaupt begannen. Man stelle sich vor: ein Mann, der allein durch die Nubische Wüste läuft, durch die Sümpfe im Südsudan voller Malaria und Krokodile, über die Savanne mit Löwen und Schlangen und Bewohnern, die Fremden inzwischen mit Skepsis begegneten. Mensen Ernsts Expedition war die vermutlich am schlechtesten geplante aller Zeiten. Ein Seemann vom Sognefjord auf dem Weg ins Innere Afrikas, mit etwas Gebäck und Marmelade als Proviant – und ohne Gewehr.
Mensen Ernst oder Mons Monsen Øyri vom Sognefjord – der große internationale Langstreckenläufer des 19. Jahrhunderts – wollte so lange den Fluss entlanglaufen, bis er auf die Quellen stieß. Lithografie von Wilhelm Sander, 1816/1836.
Seinem deutschen Biografen zufolge war Mensen Ernsts Motto: »Bewegung ist Leben, Stillstand der Tod.« Ein vielsagender Kommentar zu einem Leben, das während des Laufs an den Ufern des Nils auf dem Weg ins Unbekannte endete.
Der Kanal zwischen den Meeren
Ich stehe ein Stück südlich des Hafens von Ismailia im Schatten von Palmen, die dank des Nilwassers gedeihen, das über lange Distanzen hergeleitet wird. Supertanker gleiten der Reihe nach langsam durch den engen Suezkanal; mit der braunen Wüste im Hintergrund ergibt das einen besonders majestätischen Eindruck. Der Anblick ist surreal, doch zugleich kann er als Sinnbild für die Veränderungskraft globaler Handelsregime in der modernen Welt gedeutet werden.
Hier liegt auch das Haus von Ferdinand de Lesseps, dem französischen Konsul in Ägypten und Vater des Kanals. Das Haus ist jetzt für die Öffentlichkeit geschlossen, aber ich wurde von meinen ägyptischen Gastgebern herumgeführt, als ich Anfang der 1990er Jahre an einer Konferenz über den Nil teilnahm: Das Schlafzimmer sah aus, als wäre es eben erst verlassen worden, alte Bilder hingen an den Wänden, auf dem Schreibtisch und neben dem Bett lagen aufgeschlagene Bücher, und auch Lesseps Privatkutsche gab es noch, in untadeligem Zustand. Der mehr als 160 Kilometer lange Kanal, bei dessen Planung Lesseps federführend war, wurde am 17. November 1869 eröffnet. Eine künstliche Wasserstraße, die das Mittelmeer mit dem Indischen Ozean beziehungsweise Europa mit Asien verbindet, war geschaffen worden. Sie änderte nicht nur den Lauf der Weltgeschichte, sondern auch die geopolitische Rolle Ägyptens – und damit des Nils.
Kanalbauten waren in Ägypten nichts Neues. Bereits Tausende Jahre zuvor hatten die Ägypter Kanäle vom Nil zum Roten Meer gegraben. Der Erste, der über diese gesamte Strecke einen Kanal bauen ließ, war Senausert III., fast 1900 Jahre v. Chr. Inschriften aus der Zeit Ramses’ II. (1279–1213 v. Chr.) verkünden, der große Pharao Ramses habe einen Kanal vom Nil zum Roten Meer über Wadi Tumilat und einige Binnenseen fertigstellen oder reparieren lassen. Irgendwann im Lauf der folgenden 600 Jahre muss er verschlammt sein, denn Necho II. (er regierte von 609 bis 594 v. Chr.) ließ ihn erneut ausheben, bevor das ganze Projekt schließlich aufgegeben wurde. Die Perser legten unter Dareios I. (549–486 v. Chr.) einen Kanal an, der wohl gut 200 Jahre lang in Gebrauch war. Dareios errichtete im Wadi Tumilat fünf Denkmäler, auf denen sich folgender Text findet: »König Dareios sagt: Ich bin ein Perser; ich bin von Persien aufgebrochen. Ich habe Ägypten erobert. Ich befahl, diesen Kanal vom Nil, der in Ägypten fließt, bis zum Meer zu graben, das in Persien beginnt. Als dieser Kanal also, wie ich befohlen hatte, gegraben war, fuhren Schiffe von Ägypten durch diesen Kanal nach Persien, wie ich es beabsichtigt hatte.«
In der Regierungszeit Kleopatras wurde der Kanal bereits nicht mehr verwendet, erst die Römer, sowohl unter Trajan als auch unter Hadrian, reparierten ihn. Als Amr ibn al-As und die Araber Ägypten eroberten, war der Kanal wieder verfallen, und Amr ließ ihn wiederherstellen. Vom Nil südlich des Deltas bis zum Roten Meer gab es im 8. Jahrhundert einen Kanal, bekannt unter anderem durch die Reise des Mönchs Fidelis vom Nil zum Roten Meer (er war auf Pilgerfahrt zum Heiligen Land). Es scheint, als wäre dieser Kanal auch zur Verschiffung von Getreide nach Arabien benutzt worden. 767 wurde er von Kalif al-Mansur geschlossen, vermutlich um Aufständische in Medina auszuhungern.36
Während seiner kurzen Herrschaft über Ägypten fand Napoleon unter anderem die Zeit, französische Ingenieure damit zu beauftragen, die Möglichkeiten für den Bau eines Kanals zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean zu eruieren. Vor dem Hintergrund des damaligen Stands der Technik kamen sie zu dem Schluss, das Vorhaben sei unmöglich, doch später zeigte sich, dass sie einen vermeintlichen Höhenunterschied von zehn Metern zwischen den beiden Meeren falsch berechnet hatten. Niemand weiß, wie sich die Geschichte des Nils und damit auch die Weltgeschichte ohne diesen kleinen Fehler entwickelt hätten; wir wissen nur, dass sie ganz anders verlaufen wären. Der Fehler wurde erst mehr als 40 Jahre später entdeckt, und ein anderer Franzose, Louis M. A. Linant de Bellefonds, entwarf die Pläne für den Suezkanal. Der Diplomat und Ingenieur Ferdinand de Lesseps präsentierte dem neuen ägyptischen Herrscher, Said Pascha, den Plan. Said veranlasste den Beginn der Arbeiten am Mittelmeer und benannte den Ort, an dem der Kanal beginnt, also das heutige Port Said, nach sich selbst.
Die Briten waren gegen diesen neuen Kanal, weil sie zu Recht befürchteten, dass er ihre Handelsdominanz schwächen würde. Daher unterstützte die Regierung in London unter anderem einen Aufstand unter den Kanalarbeitern. Diese hatten als Zwangsrekrutierte, die unter elendigen und lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen litten, auch guten Grund aufzubegehren. Die Unterstützung eines Arbeiteraufstands in Ägypten für bessere Arbeitsbedingungen durch das Empire passt kaum mit allgemeinen Auffassungen über den Imperialismus zusammen, aber für London war das Hauptanliegen zu diesem Zeitpunkt die Schwächung von Frankreichs Position in der Region. Die Unterstützung durch Napoleon III. versetzte die ägyptische Regierung jedoch in die Lage, das Projekt erfolgreich abzuschließen.
1869 war der Kanal schließlich fertig. Er wurde mit Glanz und Gloria eröffnet, ganz wie es sich für das ägyptische Königshaus geziemte. Am Tag der Eröffnung waren Würdenträger und berühmte Persönlichkeiten aus nah und fern am Kanalufer zugegen, unter ihnen der Prince of Wales, der Kaiser Österreich-Ungarns und der norwegische Schriftsteller Henrik Ibsen. Außerdem richtete man einen grandiosen Ball für 6000 Gäste aus und eröffnete aus Anlass der Kanaleinweihung das neue Opernhaus in Kairo. Bei dieser Gelegenheit sollte Verdis Oper Aida uraufgeführt werden, die er als Auftragswerk