Der Nil. Terje Tvedt
hat). Das war direkt bevor Ismail, der neue Khedive (Vizekönig) und Said Paschas Neffe, seine militärischen Ambitionen einer Unterwerfung der Küste des Roten Meeres und Äthiopiens verwirklichen sollte. Verdis Oper, in der es ja auch um Ägyptens Beziehung zu Äthiopien geht, wurde schließlich erst am Heiligabend 1871, zwei Jahre nach Eröffnung des Kanals, in Kairo uraufgeführt.
Die Oper ist auch interessant als ideenhistorischer Ausdruck für die Blindheit der Europäer in Bezug auf historische Vielfalt und ihr mangelndes Verständnis der Welt, die sie sich nun untertan machten. Die Oper spielt im alten Ägypten, und Verdi hatte für das Libretto den Rat des französischen Ägyptologen Auguste Mariette erhalten. Das zentrale Dilemma der Oper besteht in dem Hin- und Hergerissensein des siegreichen ägyptischen Generals Radamès zwischen zwei Frauen, der Tochter des ägyptischen Pharao und Aida, einer äthiopischen Sklavin und Tochter des Königs von Äthiopien, mit dem Ägypten sich im Krieg befindet. Der ägyptische General verrät schließlich sein Land und muss dafür mit dem Leben bezahlen. Für Verdi und andere Europäer seiner Zeit wurde dieses Dreiecksdrama als ein wirkliches Dilemma empfunden, aber in Ägypten wäre dieser Konflikt völlig bedeutungslos gewesen. Die Lösung für den Mann war ganz einfach: Er hätte notfalls beide Frauen zu seinen Ehefrauen gemacht.37
Schon bald nachdem der Kanal eröffnet worden war, Aidas Sklavenchor seine Premiere in Kairos neuer Oper gehabt und das erste Schiff die Abkürzung zwischen Asien und Europa genommen hatte, wurde klar, dass Ägypten bankrott war. Ismail und seine Vorgänger hatten zu viel und zu schnell in allzu viele Projekte investiert. Die ägyptische Regierung beschloss, Said Paschas Aktien an der Kanalgesellschaft für 400 000 Pfund zu verkaufen. Nun witterten die Briten ihre Chance. Auch wenn Frankreich weiter eine Aktienmehrheit hielt, würden die Karten im Spiel um den Kanal und um Ägypten jetzt neu gemischt werden können. Dem britischen Premierminister Benjamin Disraeli kam zu Gehör, dass die Franzosen bereits um den Kauf der Aktien verhandelten. Nun galt es schnell zu sein. Disraeli beschloss auf der Stelle, die Wertpapiere zu kaufen; er hatte keine Zeit, das Ganze erst vom Parlament absegnen zu lassen. Das eigenmächtige Handeln des Premierministers trug mit dazu bei, die strategische Balance zwischen Frankreich und England zu verändern, mit Konsequenzen bis weit in die Zukunft hinein. Er sandte seinen Sekretär Montagu Corry zum steinreichen Lord Rothschild, dessen Bankhaus der Regierung kurzfristig vier Millionen Pfund Kredit gewährte.38
Die Kanalverbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean änderte Machtverhältnisse und Handelswege. Als Folge der Entdeckung des Seewegs um die Südspitze Afrikas durch die Portugiesen hatte Ägyptens Rolle als Transitroute für den Asienhandel ab Ende des 15. Jahrhunderts gelitten; jetzt lag auf seinem Territorium plötzlich eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt. Ägyptens geopolitische Bedeutung wuchs radikal, und für die Briten wurde das Land zu einem extrem wichtigen Teil ihrer Pläne, das größte und erfolgreichste Weltreich aller Zeiten zu formen.
Gustave Flaubert und Henrik Ibsen »von Kairo den Nil hinauf«
Victor Hugos Bonmot von 1829, nun seien alle Europäer Orientalisten, sollte nicht bloß als Ausdruck einer einheitlichen Denkweise aufgefasst werden, die darauf abzielte, die muslimischen Länder zu unterdrücken. Es war auch mehr als eine neue Form der Heuchelei, in der das Laster nun die Tugend lobt, vielmehr klingt in seinen Worten auch eine neue Art von Wissbegier durch. Dieses Interesse und diese Begeisterung für den Orient drückten sich unter anderem darin aus, dass Ägypten im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem immer wichtigeren Reiseziel für europäische Intellektuelle wurde. Zwei der vielen, die dieses Land bereisten, waren der Franzose Gustave Flaubert und sein norwegischer Kollege Henrik Ibsen.
Nach einer stürmischen Überfahrt von Marseille traf der damals 28-jährige Flaubert 1849 in Ägypten ein. Er besichtigte die Große Sphinx, die koptische Kathedrale in der Kairoer Altstadt, er sah Gaukler, Akrobaten und Schlangenbeschwörer; er begegnete Prostituierten, und er blickte auf den Nil, natürlich, den er als gelb und voller Erde beschrieb. Er reiste nach Luxor, Theben und Karnak, und seiner Mutter berichtete er, überall scheine es halb im Sand versunkene Tempel zu geben.
Flaubert war einerseits bewegt oder erregt vom Chaos, denn er war ja gerade auf der Flucht vor dem langweiligen, bürgerlichen, oberflächlichen, »allzu ordentlichen« Frankreich. Andererseits musste er in allem, was er nicht begriff, Ordnung schaffen, um überhaupt über das Gesehene reflektieren oder darüber schreiben zu können. Von einem rein philosophischen und existenziellen Standpunkt aus meinte er, »Ordnung« enthalte eine verdammende und prüde Einstellung der conditio humana gegenüber, sie wirke der Offenheit und der Abschaffung von Rigidität und Regeln entgegen, die der Mensch anstreben sollte. Aber indem er die Macht der Perspektive als einen Prozess beschrieb, der ihm aufgezwungen wurde, statt sich einfach ihren dominierenden Konventionen zu unterwerfen, konnte er die Distanz aufrechterhalten. In einem Brief aus Kairo schrieb er 1850:
Da wären wir nun in Ägypten. … Vorläufig habe ich die erste Verwirrung noch nicht überwunden … jede Einzelheit droht, die Hand auszustrecken und dich zu packen; und je mehr du dich darauf konzentrierst, um so weniger bekommst du die Ganzheit zu fassen. Dann wird nach und nach alles harmonischer, und die Teile fügen sich von selbst zusammen, entsprechend den Gesetzen der Perspektive. Aber die ersten Tage, großer Gott, da herrscht so ein verwirrendes Chaos von Farben.39
Flauberts Sicht auf Ägypten war beeinflusst von dem grundlegenden, unausweichlichen und allgegenwärtigen Dualismus in der ägyptischen Gesellschaft – Tod und Leben, Wüste und Fluss. Er war fasziniert von dem, was er für die ägyptische Fähigkeit hielt, die Dualitäten des Lebens zu akzeptieren, die er beschrieb als Schmutz-Geist, Sexualität-Reinheit, Wahnsinn-Gesundheit. Er fand es großartig, dass die Leute in den Restaurants ganz offen rülpsten, er umgeben war von »einem Esel, der kackte, und einem Herrn, der in eine Ecke pisste«. Und ein sechs oder sieben Jahre alter Knabe rief, als er in Kairo auf der Straße an Flaubert vorbeikam: »Ich wünsche Ihnen Glück und Zufriedenheit, vor allem aber einen großen Schwanz.«
Flaubert fuhr 1850 mit einer Fellucke – dem traditionellen Segelboot, das in Oberägypten noch immer zu sehen ist – nilauf und beschrieb, wie das Leben auf dem Fluss die Entwicklung an demselben widerspiegelte. Er notierte, dass elf von den vierzehn Besatzungsmitgliedern der rechte Zeigefinger fehlte. Sie hatten sich, wie viele andere, den Abzugsfinger abgehackt, um nicht in Muhammad Alis Heer eingezogen zu werden. Flaubert erzählte ebenfalls von den alten Afrikanerinnen, die ihm auf dem Boot begegneten:
Auf allen diesen Booten gibt es unter den Frauen alte Negerinnen, die eine Fahrt nach der anderen unternehmen; sie sind hier, um die neuen Sklaven zu trösten und moralisch zu unterstützen; sie lehren dieselben, sich ihrem Schicksal zu ergeben, und sie fungieren als Dolmetscherinnen zwischen ihnen und dem Sklavenhändler, einem Araber.
So fasste er die Situation im Land zusammen: Ägypten sei ein Land, in dem die mit sauberen Kleidern die mit schmutzigen Kleidern prügelten.
Flauberts Schriften erinnern an klassische »orientalistische« Texte, insofern, als sie Dinge, die dem Autor als exotisch und fremd erschienen, auf eine oftmals exotisierende Weise schildern. Und es kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass Flauberts Beobachtungen ihre Kraft dadurch gewinnen, dass sie auf einem deutlich akzentuierten Unterschied zwischen Frankreich und Ägypten beruhen. Ägypten wird als Frankreichs Gegenpol interessant. Für Flaubert war Frankreich aber nicht einfach das Modell oder Ideal, an dem er Ägypten maß. In seiner Heimat war er ein ziemlich isolierter Intellektueller, der sich vielen der damaligen Trends und dem Lebensstil des Bürgertums widersetzte. Dieser Dualismus in seiner Beziehung zu Frankreich zeigt sich auch darin, wie er Ägypten beschrieb. Deshalb ist es schwierig und ungerecht, ihn als eine Art Werkzeug des europäischen Expansionismus zu betrachten oder als hervorstechenden Vertreter einer intellektuellen Tradition, die eine totale Kontrolle des Orients anstrebte, und sei sie nur latent. Gewiss, er nutzte seine Stellung gegenüber weiblichen und männlichen Prostituierten in Ägypten aus, und ihm war klar, dass Privilegien im Umgang mit Ägyptern auf Macht beruhten. Er verwendete Begriffe und Argumente, die im Rückblick als abwertend erscheinen. Aber Flauberts Begeisterung für das Land am Nil erscheint als ehrlich und sogar leidenschaftlich, obwohl sie auch eine Fantasie war, geschaffen eben