Öffne dein Herz. Hanna Berghoff
wandte Zenzi sich von ihr ab und ging hinter den Tresen, um die Maßkrüge zu zapfen, die am Stammtisch verlangt wurden.
So alleingelassen versank Jana wieder in ihren Gedanken. Diese Babett . . . Jana war nur deshalb auf den Hof gefahren, weil Nicky ihr von Babett erzählt hatte. Über alle Maßen begeistert. Sie war tatsächlich der Meinung, sie hätte einen Engel kennengelernt. Was Zenzi eben hier erzählt hatte, klang aber nicht ganz so.
Nicky war immer begeistert. Immer wieder. Während Jana sich in dieser Beziehung sehr zurückhaltend verhielt, ging Nicky sehr offen mit ihren Gefühlen um. Sie konnte gar nicht anders. Sie war einfach so. Auch wenn alle über sie lachten, hielt sie das nicht davon ab.
Manchmal hätte Jana sich gewünscht, sie wäre so offen gewesen. Aber obwohl sie zu allen Menschen nett und freundlich war – sogar dann, wenn sie es gar nicht verdient hatten –, hielt sie ihr Innerstes doch verschlossen. Dass Nicky sich ständig in eine neue Frau verliebte, fand sie manchmal lustig, manchmal auch anstrengend. In letzter Zeit jedoch eher besorgniserregend. Besonders seit ihrem Gespräch heute Mittag.
So wie Zenzi mit Babett zusammen zur Schule gegangen war, war Jana mit Nicky zusammen zur Schule gegangen. Das bedeutete, Babett war erheblich älter als Nicky. Das war bisher eigentlich nicht Nickys Vorliebe gewesen. Ihre Kurzzeitfreundinnen waren genauso jung wie sie, oft sogar noch jünger, weil Nicky selbst auch nicht gerade wie zweiundzwanzig wirkte. Da hätte man manchmal noch mindestens fünf Jahre abziehen können, wenn man sie so erlebte. Wenn nicht mehr.
Babett hatte Nicky jedoch anscheinend regelrecht vom Hocker gehauen, trotz des Altersunterschieds. Im Gegensatz zu sonst war Babett wohl auch die treibende Kraft gewesen, dass sie sich näher kennengelernt hatten. Genauso wie Jana hatte auch Nicky Babett vorher nur vom Sehen gekannt. Vor allem gerade auch der Altersunterschied hatte dafür gesorgt, dass sie nicht in denselben Kreisen verkehrten. Weil sie nicht dieselben Interessen hatten. Hatte sich das auf einmal geändert?
Die ganze Geschichte, die Nicky Jana beim Mittagessen erzählt hatte, klang sehr seltsam. Babett hatte in der Drogerie eingekauft, in der Nicky arbeitete, und deutliches Interesse an ihr gezeigt. Bei Nicky musste man sich nicht fragen, ob sie auf Frauen stand, jeder wusste es. Das war sonst auf den Dörfern hier nicht so üblich, aber mit der Zeit hatten die Leute es akzeptiert. Sich irgendwie daran gewöhnt, ohne sich noch daran zu stören.
Oder sie hielten es nur für eine ›Phase‹, weil Nicky noch so jung war und in ihrer jugendlichen Begeisterung immer wieder übers Ziel hinausschoss. Begeisterung für alles, nicht nur für Frauen. Sie wurde als verrücktes Huhn betrachtet, und da ließ selbst die altertümliche Dorfmoral einmal fünfe gerade sein.
Es gab sogar Leute, die Jana dafür bedauerten, dass sie mit Nicky befreundet war und so oft ihre Zeit mit ihr verbringen musste, weil Nicky manchmal wie eine Klette an ihr hing. Die meisten waren jedoch wohl froh, dass sie sich nicht mit Nicky abgeben mussten, und überließen diese Aufgabe gern Jana. Nicky war der Hofnarr und Jana so etwas wie ihre Gouvernante.
Dass Jana auch auf Frauen stehen könnte, war bisher noch niemandem in den Sinn gekommen, denn sie ging nicht damit hausieren wie Nicky. Wenn Lehner-Junior hinter ihr her war, empfand sie das manchmal zwar nicht als sehr angenehm, auf der anderen Seite jedoch als eine gute Fassade, hinter der sie sich verstecken konnte.
Denn im Gegensatz zu Nicky hatte sie nicht den Vorteil, dass man sie als Hofnarr betrachtete, dem man alles durchgehen ließ. Viele junge Männer im Dorf wären wahrscheinlich sehr enttäuscht gewesen, wenn sie erfahren hätten, dass Jana nicht für sie zur Verfügung stand, und man wusste nie, was das auf einem Dorf bewirken konnte.
So war der Junior ihre Tarnung. Solange der einflussreichste Junggeselle im Dorf scheinbar fast so etwas wie mit ihr liiert war, ließen die anderen sie in Ruhe.
Nur dass er sich mit dem fast wohl nicht mehr sehr lange zufriedengeben würde. Und auch nicht mit dem scheinbar. Obwohl viele im Dorf Jana dafür bewunderten, wie standhaft sie war und ihr das auch immer wieder sagten, lag manchmal zugleich so etwas wie Erstaunen in dieser Bewunderung. Sogar Unverständnis.
Denn Janas Zurückhaltung war heutzutage doch schon eine große Ausnahme. Früher hatte man immer vorausgesetzt, dass es keinen Sex vor der Ehe geben durfte. Dass die Frau als Jungfrau in die Ehe gehen musste. Doch in der Hinsicht hatte auch auf dem Land mittlerweile die moderne Zeit Einzug gehalten.
Und außerdem war es sowieso nie so gewesen. Sonst hätte es die vielen Sechs-, Fünf- oder sogar Dreimonatskinder wohl kaum gegeben, die schon immer gang und gäbe gewesen waren. Gerade für einen Bauern, der einen Hof zu vererben hatte, war es wichtig, dass seine Frau ihm diesen Erben schenken konnte. Also versicherte er sich da oft bereits im Voraus, dass sie fruchtbar war.
Da hatte immer schon ein breiter Graben zwischen moralischem Anspruch und der Praxis gelegen. Nur hatte das niemand zugeben wollen. Und wenn eine Frau schwanger wurde, die dann nicht das Glück hatte, vom Kindesvater auch geheiratet zu werden, hatte sie den Schwarzen Peter. Deshalb hatte es früher schon aus dem Grund mehr Jungfrauen gegeben als heute, wenn auch nicht so viele, wie behauptet wurde.
Doch obwohl viele im Dorf Jana vielleicht tatsächlich noch für eine Jungfrau hielten, weil sie dem Junior so widerstand, entsprach das auch bei ihr schon lange nicht mehr den Tatsachen. Wenn auch nicht so, wie die meisten es wahrscheinlich erwartet hätten.
Als attraktives Mädchen, das sie nun einmal gewesen war, waren schon in der Schulzeit immer viele Verehrer um Jana herumgeschwirrt. Für die sie sich nicht interessiert hatte. Was das Vorrecht eines schönen Mädchens war. Sie hatte die Wahl.
Dann jedoch im letzten Schuljahr war Ritva gekommen. Ritvas Mutter war Finnin, und deshalb war Ritva so blond, wie man nur sein konnte. Die Haare hingen ihr golden strahlend bis auf den Rücken hinunter. Ihr Vater war irgendeine Art Ingenieur, der für eine gewisse Zeit hier beim Brückenbau zu tun gehabt hatte. Von vornherein war klargewesen, dass Ritva nicht bleiben würde. Nur so lange, bis die Brücke fertig war, die ihr Vater mitbaute.
Vielleicht hatte auch das zu Janas Interesse an Ritva beigetragen. Oder einfach die Tatsache, dass Ritvas Anblick, als sie zum ersten Mal in die Klasse kam, Jana glattweg umgehauen hatte.
Ihr Herz schlug schneller, ihr brach fast der Schweiß aus, und als Ritvas blaue Augen zu ihr herüberschwenkten, hatte sie sogar Schwindel erfasst. Als ob sie das bemerkt hätte, hatte Ritva leicht gelächelt.
Dieses Lächeln hatte Jana dann endgültig fast vom Stuhl kippen lassen. Noch nie zuvor hatte sie so etwas gespürt. Dieses heiße Brennen in ihren Wangen, diese unkontrollierbaren Wellen, die ihren ganzen Körper zu überfluten schienen, dieses nur noch atemlos rasende Herz, das ihr fast aus der Brust sprang.
Sie wusste absolut nicht, wie ihr geschah, doch Ritva schien es zu wissen, denn sie lächelte noch mehr, als sie sich auf den leeren Platz neben Jana setzte und sie damit fast aus dem Klassenzimmer trieb.
Aber sie konnte natürlich nicht gehen. Sie musste sitzen bleiben. Die Beherrschung, die ihr das abverlangte, war übermenschlich, unmenschlich sogar, wenn man es auf einer Skala der Tortur betrachtete, die man einem Menschen überhaupt zufügen konnte.
Und trotzdem war es ein herrliches Gefühl. Ein berauschendes Gefühl. Ein Gefühl, als wäre sie plötzlich aus dem Ei geschlüpft wie ein Küken, das zum ersten Mal seine Flügel spreizen konnte, oder aus einem Kokon, in dem ein Schmetterling versteckt gewesen war, der sich jetzt in die Lüfte erhob.
Ritva war im Gegensatz zu Jana keine Jungfrau mehr. Sie hatte schon Erfahrung. Und schnell merkte Jana, dass Ritvas skandinavisches Erbe ihr eine Freiheit und Unbeschwertheit verlieh, die in einem bayrischen Dorf eher ungewöhnlich waren. Da Janas Lehrerin sie dann auch noch darum bat, Ritva doch bitte auf den Stand der Klasse zu bringen, saßen sie nicht nur in der Schule nebeneinander, sondern verbrachten auch ab dem ersten Tag jeden Nachmittag miteinander, um Hausaufgaben zu machen. Und das hatte Folgen.
Ob sie sich ganz von allein getraut hätte, Ritva anzusprechen, wusste Jana nicht, aber darüber musste sie sich auch keine Gedanken machen, denn Ritva hatte damit absolut keine Probleme. Nicht nur, dass sie allein schon dadurch, dass sie nebeneinander saßen, in gewisser