Öffne dein Herz. Hanna Berghoff

Öffne dein Herz - Hanna Berghoff


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Obwohl sie beide fünfzehn Jahre alt waren, hatte Jana das Gefühl, Ritva wäre viel älter als sie.

      Ritvas Eltern hatten für die Zeit, in der Ritvas Vater an der Brücke arbeitete, ein umgebautes altes Bauernhaus im nächsten Dorf gemietet. Da das Haus, in dem Jana und ihre Mutter wohnten, sehr viel näher an der Schule lag, ergab es sich fast von selbst, dass Ritva und sie dort zusammen Hausaufgaben machten. Nach der Schule gingen sie gemeinsam nach Hause wie Schwestern, und Janas Mutter freute sich, nun zwei Kinder zu haben, die sie bekochen konnte. Ritva war von der deftigen bayrischen Küche begeistert und bedankte sich immer wieder überschwänglich dafür, sodass Janas Mutter oft ungläubig lachte, denn so etwas war sie nicht gewöhnt.

      Janas Vater war bereits gestorben, als sie acht Jahre alt gewesen war. Ihre Mutter hatte nie wieder geheiratet. Obwohl Jana sehr an ihrem Vater gehangen hatte, hatte sie sich langsam daran gewöhnt, mit ihrer Mutter allein zu sein. Ihre Mutter arbeitete als Bürokraft in einem Teppichbodenmarkt und kam zum Mittagessen immer nach Hause. Danach ging sie wieder zur Arbeit. So waren Ritva und Jana nachmittags allein.

      Am dritten Tag hatte Ritva Jana dann mitten bei den Mathe-Hausaufgaben geküsst. Mathe war sowieso nicht so Ritvas Ding, während Jana immer gern mit Zahlen herumspielte. Das machte ihr Spaß und da fühlte sie sich sicher.

      Gar nicht sicher fühlte sie sich jedoch bei diesem Kuss, der so überraschend für sie kam. Zuerst wusste sie überhaupt nicht, was sie tun sollte. Die heißen Wellen kehrten zurück, nachdem sie zuvor versucht hatte, ihr Herz nicht so laut klopfen zu lassen, dass Ritva es hören konnte. Sie hatte sich auf die Matheaufgabe konzentriert, um sich davon abzulenken.

      Ritva konzentrierte sich nur ungern auf Mathe, und so hatten ihre Augen ständig an Janas Lippen gehangen, während sie ihr etwas erklärte. Irgendwann hatte sie diesen Lippen wohl nicht mehr widerstehen können. Oder vielleicht wollte sie sich auch einfach nur nicht mehr mit Mathe beschäftigen. Das hatte Jana nie herausgefunden.

      Die Erfahrung, die Ritva Jana voraushatte, hatte Jana gar keine Chance gelassen, darüber nachzudenken, was dann an diesem Nachmittag geschah. Und außerdem war sie zum Denken sowieso nicht mehr in der Lage gewesen. Sie hätte keine Matheaufgabe mehr lösen können, selbst wenn sie das gewollt hätte.

      Das kam ihr jedoch überhaupt nicht in den Sinn. Ritvas Lippen und Ritvas Hände waren alles, woran sie noch dachte. An diesem Nachmittag wurden keine Hausaufgaben mehr gemacht, und erst als sie ihre Mutter von der Arbeit nach Hause kommen hörten, zogen sie sich wieder an.

      Jana musste lächeln, als sie sich daran erinnerte, wie hastig das vonstattengegangen war. Denn erst nachdem sich der Hausschlüssel ihrer Mutter im Schloss gedreht hatte, hatten sie mitbekommen, dass es schon so spät war. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Hätte man Jana gefragt, hätte sie wahrscheinlich gesagt, es wären nur ein paar Minuten gewesen statt der Stunden, die sie in Wirklichkeit mit ihren Zärtlichkeiten verbracht hatten.

      Dieses erste Mal würde sie nie vergessen. Beinah spürte sie Ritvas Lippen wieder auf ihren, und sie wäre sich fast selbst mit der Zungenspitze darübergefahren, weil es auf einmal so kribbelte.

      »Guten Abend, Frau Tieck«, hörte sie Zenzis Stimme wie durch eine Nebelwand.

      Die plötzlich aufriss, als Jana bewusst wurde, dass sie diesen Namen heute schon einmal gehört hatte.

      »Guten Abend«, antwortete Melanies Stimme, bevor sich die Nebel vor Janas Augen lichteten und sie sie richtig erkennen konnte.

      Es waren nur die Erinnerungen an Ritva, die ihr Herz so einen kleinen Satz machen ließen, oder? Sie war noch nicht ganz wieder aus der Vergangenheit zurückgekehrt. Ihre Augen öffneten sich weiter als beabsichtigt, weil sie den Schleier der Erinnerung abstreifen wollte.

      Da der Tisch, an dem Jana saß, der Eingangstür genau gegenüberlag, gab es nur eine kleine Verzögerung, bevor auch Melanie sie entdeckte, als ihr Blick von Zenzi zurückschwenkte. Sie schien kurz zu stutzen, dann nickte sie Jana knapp zu.

      »Was möchten Sie trinken?«, fragte Zenzi im gleichen Moment freundlich und ging mit zwei Maßkrügen in den Händen, die für den Stammtisch bestimmt waren, auf Melanie zu.

      Fast wie entsetzt starrte Melanie auf die überdimensionalen Krüge.

      »Das müssen Sie nicht trinken.« Jana lachte und hob ihr eigenes Glas an. »Es gibt auch Wein.«

      »Ich . . .« Melanie räusperte sich. »Ich mag Bier. Nur vielleicht in einem etwas kleineren Glas?« Sie blickte Zenzi leicht unsicher fragend an.

      Sie ist süß, dachte Jana. Sie will es nicht sein, aber sie ist es.

      »Ein Pils?«, fragte Zenzi, die die Maßkrüge mit einer solch selbstverständlichen Kraft stemmte, dass es aussah, als hielte sie nur leichte Hanteln. Sie brauchte kein Fitnessstudio, um zu trainieren. Das tat sie schon bei der täglichen Arbeit.

      »Gern.« Melanie nickte. Ihr Blick wanderte wieder zu Jana hinüber.

      Mutter wartet mit dem Essen auf mich, dachte Jana. Ich sollte gehen.

      Dennoch blieb sie sitzen. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass Melanies Haar fast so blond war wie Ritvas. Nicht ganz, und es war viel kürzer, beinah wie ein Igel.

      Sie wusste, dass solche Haare wunderbar kitzeln konnten, wenn man darüberstrich. Ihre Brustwarzen richteten sich auf.

      Doch nicht jetzt! Unwillkürlich hätte sie fast an sich hinuntergeschaut, aber im letzten Moment hielt sie sich zurück. Auf jeden Fall war sie froh, dass sie keine enganliegende Bluse trug.

      Sie sah, dass Melanies Blick immer noch auf ihr ruhte, und fragte sich, ob sie etwas bemerkt hatte. Ein verdächtiges Kribbeln sammelte sich auf ihren Wangen. Sie würde jetzt doch wohl nicht rot werden? Bitte, bitte nicht.

      Melanie schien immer noch zu zögern und sah sie nur an. Traute sie sich etwa nicht, zu Jana an den Tisch zu kommen? Oder wollte sie es nicht?

      »Kennt ihr euch schon?«, fragte Zenzi da völlig unbeeindruckt von all dem, was gerade hier durch den Raum schwebte, und ließ ihren Blick zwischen Melanie und Jana hin- und herschwenken.

      »Ähm . . . Nein . . . Ja . . .«, stammelte Melanie völlig überrumpelt, während Jana nur schluckte.

      Zenzi war einfach gut darin, Gesichtsausdrücke von Menschen zu deuten. Das half ihr bei ihrer Arbeit hier in der Gaststube sehr. Vor allem, wenn sie mit Betrunkenen zu tun hatte, bei denen sie einschätzen musste, ob sie gleich das ganze Mobiliar zerschlagen würden oder sie sie dazu bringen konnte, friedlich nach Hause zu gehen.

      »Dann setzen Sie sich doch einfach zu Jana«, schlug Zenzi ganz locker vor, während sie das Bier weiter zum Stammtisch trug. »Ich bringe Ihnen dann gleich Ihr Pils.« Sie setzte die Maßkrüge mit einem dumpfen Geräusch auf dem Tisch ab.

      Schulterzuckend verzog Jana das Gesicht und wies mit einer Hand auf einen der Stühle an ihrem Tisch, während sie Melanie ansah. Das musste genügen, denn zum Sprechen fühlte sie sich immer noch nicht in der Lage. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.

      Komisch. Vorhin auf dem Bauernhof war das nicht so gewesen. Da hatte sie sich sogar recht sicher gefühlt. Sicher genug, um ein bisschen mit Melanie herumzuspielen, fast mit ihr zu flirten. War es die Erinnerung an Ritva, die sie jetzt so verstummen ließ? Melanies blondes Haar hatte sie wohl an mehr erinnert, als an was sie erinnert werden wollte. Sie seufzte innerlich, aber nun hatte sie Melanie schon an ihren Tisch eingeladen, das konnte sie nicht mehr rückgängig machen.

      Denn Melanie folgte der Einladung bereits, trat an ihren Tisch und legte eine Hand auf die Lehne des Holzstuhls. »Das ist ja merkwürdig, dass wir uns hier treffen«, sagte sie, zog den Stuhl zurück und setzte sich Jana gegenüber.

      Nun musste Jana doch schmunzeln. »Nicht so merkwürdig, wenn man bedenkt, dass Sie hier wohnen und Zenzi meine Cousine ist«, gab sie zurück.

      Melanie nickte. »Da haben Sie wohl recht. Ich wusste nur nicht, dass Sie Ihre Abende auch hier verbringen.«

      »Tue ich nicht.« Jana schüttelte den Kopf. »Ich


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