Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020. Jürgen Thaler

Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler


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Europäer, der glattrasierte, im dicken Ulstermantel dahinstürmende Passant des Boulevard:

      Der Bedächtige hat recht. Der Langsame.

      Sieh den heiligen Arbeiter, der die Städte baut, die grossen, ruhmreichen, wolkenfressenden Städte. Auch er ist bedächtig. Auch er ist langsam. Langsam kommt er, um 7 Uhr früh, zum Neubau. Langsam zieht er die Jacke aus. Langsam spuckt er in die beiden Handflächen. Langsam hebt er die Schippe und stösst sie in den Sand. So schippt er Sand auf Sand. Schichtet Ziegel auf Ziegel. Schichtet Mauer auf Mauer. Stösst die Schippe in den Sand. Spuckt in die Hände. Schichtet Ziegel auf Ziegel. Bis zum dritten Stockwerk. Bis zum siebenten Stockwerk. So baut er die Städte. Setzt die Flasche Rotwein an den Mund, wie ein siegreicher Trompeter, und schippt dann weiter. Der stumme Arbeiter. Der bedächtige. Der langsame.

      O wüsste ich, wer recht hat. Der Arbeiter, der sein ganzes Leben lang Ziegel auf Ziegel schichtet. Oder der fliegende, der ungeduldige, der ruhlose Mensch, der ich bin, und über den Städten das unmenschliche Geheimnis sucht.

      Wie hilft es, dass ich es weiss. Den stillen Mauern, alten Schustern geb ich recht. Aber ich muss eilen, suchen, mich drehen.

      Über die Brücken muss ich laufen, vom rechten Ufer zum linken, vom linken Ufer zum rechten, immer hin, immer her, Briefe Papier [sic!] kaufen, Briefe schreiben, Briefe verbrennen, Pakete tragen, öffnen und schliessen, in die Theater gehen um mich bald wieder herauszusehnen, vom rechten Ufer zum linken, um zu essen, vom linken Ufer zum rechten, um zu schlafen, hin und her, mich mühen um müde zu werden, mich hinlegen, um eilen zu können.

      Und unter den Brücken, da fliesst der Fluss, der dunkle, der grüne, immer anwesende, immer miteilende Fluss. Ich lebe an seinen Ufern, springe über ihn, und ich kenne ihn nicht. Er ist mir fremd. Nie beuge ich mich über ein Geländer hinweg in seinen Spiegel. Nie frage ich seine grünen Augen um Rat. Nie horche ich auf sein schicksalvolles Lied. Auch darin hab ich unrecht.

      Die ewigen Wasser geben des Ewigen Antwort.

      Wer aber wagt es zu fragen?

      Die Letzten sind es, die Ärmsten, die Verlassensten, die Vergessensten, die unter den Brücken schlafen, weil nie ein Zimmer gross genug war für ihre Träume, die Parias, die Bettler, die Säufer, die Brüder zu denen ich gehöre und die ich verriet.

      Sie haben’s gut, sie auch, sie leben langsam. Sie setzen sich tagelang an den Strand des Flusses, der schwarz ist wie ein Styx, und kümmern sich nicht um die andere Welt, die über die Brücken rast. Sie arbeiten zwischen Nacht und Tag, nur einige Stunden, gerade für das nötige Weissbrot und den Rotwein. Dann träumen sie weiter. Bevor das Morgenrot seine sieben Schleier über Notre-Dame wirft, steigen sie hinauf, im Geflacker der Laternen, und gehen zu den Hallen. Dort nehmen sie Kontakt mit der Erde. Sie berühren die reinen Früchte und dienen ihnen. Das Füllhorn der Äcker fällt über sie. Sie wandern an dem roten Tomatenberg, grünen Kohlhügeln, weissen Rübenauen vorbei. Sie tragen die duftenden Erdbeeren und die blendenden Weintrauben in ihren alten gekerbten Fingern. Sie werden wieder rein durch die reine Berührung.

      Andere* hingegen tauchen ihre unseligen Hände in den Unrat der Erde, in den dunkelsten Schmutz, und doch klebt kein Schmutz an ihnen. Es sind die Kehrichtsucher. Sie brechen auf mit Handkarren, Kinderwägelchen, mit vier Spielzeugrädern versehenen Kisten, die ein Hund zieht, und mal sogar mit einem Wagen, den ein Eselchen zieht.* *[Von „Andere“ bis „zieht“ gestrichen.]

      Früh* vor Mittag kehren die Kehrichtsucher schon an ihr heimatliches Ufer des Styx zurück. Langsam kommen sie und horchen wieder auf die Melodie der Welt. *[ Von „Früh“ bis „Welt“ gestrichen].

      Aber sie sind nicht mehr allein. Zu ihnen gesellten sich * * [Text bricht hier ab.]

      Diese Niedrigsten von allen, die mit den niegewaschenen Händen, wie zart behandeln sie die kleinen Erdbeeren, wie halten sie eine Melone * * [Text bricht hier ab.]

      Kurze Vision.

      Ich werfe mich [daraufhin*] *[gestrichen] in ein Büschel Gras, halb aus Glück halb aus Müdigkeit. Ich stecke Nase und Gesicht tief an die nassschwarze Erde, die hier, ebenso wie in der entlegensten Ebene, nach Minze und Ewigkeit riecht, nach Sauerampfer und Kraft. Ist das der Notausgang aus den Elyseischen Feldern? Die Rückkehr zur Natur? An der Schulter der Böschung zieren und schmücken sich Leberblümchen und Anemonen. Löwenzahn, Rittersporn und Wolfsmaul rüsten sich zur Liebe und Jagd, mit Speeren und Kolben und gespaltenen Zungen. Mein Menschentanz [von gestern Abend*] *[gestrichen] war er frenetischer und* halsbrecherischer* **[gestrichen] als der der zehntausend, [bei der Dämmerung hinsterbenden*] *[gestrichen] Sommerfliegen in dieser Sonnensäule? Da ringelt ein Bach sich vorbei: ein kleiner Bach, ein imitierter Bach, ein ganz naiver Bach neben der grossen Allee. Und ich finde dieselbe Welt von Liebe und Furcht: die silbernen Fische, die Flösse der Holzwürmer, die aufgeregten Molche, die rudernden Spinnen, Wasserlinsen und Zitterrohr, und am Ufer die ahnungslosen Liguster, die kleinäugigen Eidechsen, die königlichen Hirschkäfer, die grossäugigen Eulen, [Eichhörnchen*] *[gestrichen]. Kleine Demut und Bühne grausamer Dramen, Andacht und Mord in Klee und Schierling, bei Meise und Ameise. Eifersucht und Angst, Hunger und Hass wie bei uns, wie bei uns.

      Ich schlief: drei Stunden, drei Minuten oder drei Jahrhunderte!

      Ich springe auf. Ich muss mich retten vor dir, barmherzige und tödliche Natur! Fliehen, wieder fliehen? Wohin? In die polierte, geziegelte, asphaltierte, porzellanene Stadt. In die* *[Text bricht hier ab.]

      Bericht

      Bei diesem Tagebuch in Paris von Iwan Goll handelt es sich um einen unveröffentlichten Text, der im Nachlass von Robert Warnebold überdauerte und sich seit 2018 im Besitz des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek befindet.

      Anmerkungen

      — Meinen 33. Frühling: Yvan Goll wurde am 29. März 1891 geboren. Im Jahre 1924 wäre er 33 Jahre alt geworden.

      — Paul Colin (1892 – 1985). Französischer Grafiker und Maler. Geprägt vom Art Déco, schuf er Plakate und Bühnenbilder. 1964 stellte er bei der documenta III in Kassel aus.

      — Clarté: Im Jahr 1919 von Henri Barbusse unter der Bezeichnung „Clarté“ gegründete Vereinigung „Internationale des Geistes“, die vor allem in Frankreich, mit Sitz in Paris, erfolgreich agierte. Dem Direktionskomitee gehörten u. a. an: Henri Barbusse, Paul Colin, Georges Duhamel, Anatole France, Andreas Llatzko, Madeleine Marx, Jules Romains und René Schickele. Die bereits 1918 von Iwan Goll gegründete Zeitschrift Menschen. Clarté wurde im Auftrag des Pariser Zentralkomitees als „Bruderblatt der internationalen Zeitschrift Clarté“ in Paris veröffentlicht. Clarté wurde von Goll von 1918 bis 1921 herausgegeben. Der darin abgedruckte, von Goll ins Deutsche übersetzte Brief von Henri Barbusse (19.12.1920) stellte die Zeitschrift unter die Clarté-Bewegung.

      — Kriegsbändchen im Knopfloch: Verdienstorden im Ersten Weltkrieg. Bisweilen auch noch zur Ordensschnalle des Trägers passend gefertigt.

      — Eines fünfjährigen sterileren Kriegs: Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918.

      — Marcel Cachin (1869 – 1958). Französischer Politiker. Trat 1891 der Partie ouvrier français bei, wurde später einer der Begründer der Parti communiste français. Von 1918 – 1958 Herausgeber der Zeitung L’Humanité.

      — Sanskulott: „Sansculottes“ (von französisch culotte = Kniebundhose, sans = ohne) wurden im Frankreich des 18. Jahrhunderts die unteren Bevölkerungsschichten genannt. Sie trugen nicht – wie üblich bei den reichen Adligen und dem Klerus zu jener Zeit – Kniebundhosen oder Seidenstrümpfe (culottes), sondern lange Hosen, die zum Arbeiten praktischer waren. Zunächst beinhaltete der Begriff den Spott über die einfache Bevölkerung, später wurde er Synonym für die radikalste Massenbewegung in der Französischen Revolution: Den „Sansculottes“ gelang es, durch ihren hartnäckigen Protest, die Ziele der Revolution durchzusetzen: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit.

      — whitmansche […] Hymnen:


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