Geballte Ladung Liebe - Katharina Wolf Sammelband. Katharina Wolf
verflogen und ich schaute an ihm vorbei. Hinter ihm erblickte ich Sebastian, der uns skeptisch musterte.
»Was geht‘n mit euch?«
»Nichts, geht alle wieder ins Bett!«, fauchte ich sie beide an.
»Nora?« Sebastian nährte sich mir und schaute mich skeptisch an. Lag es daran, dass ich hier frühmorgens ohne Hose versuchte, Kaffee zu kochen, oder an meinem Finger, der langsam die komplette Küchentheke vollblutete?
»Lasst mich doch einfach mal in Ruhe.« Ich sank erschöpft am Tresen herab und versteckte mein Gesicht in meinen Händen. Ich zitterte am ganzen Leib und war kurz vor einem Zusammenbruch. Das war zu viel. Ich musste hier weg. Raus aus dieser Wohnung, aus dieser verdammten Stadt, die mich wieder zu ihm geführt hatte. Ich würde hier zugrunde gehen. Ich hatte wirklich geglaubt, dass es gehen würde. Dass ich vielleicht sogar ein Stück weit über ihn hinweg war. Aber alles wurde nur noch schlimmer. Es gab keinen Ausweg. Ich wusste nicht mehr weiter.
Ich spürte Sebastian mehr, als dass ich ihn sah. Er kniete neben mir auf dem Küchenboden und zog mich an sich heran auf seinen Schoß. Ich wehrte mich nicht. Hatte keine Kraft mehr. Ich schmiegte mein Gesicht an seine Schulter und er streichelte mir beruhigend über den Rücken. Aber ich wurde nicht ruhiger. Ich war ein Nervenbündel, das kaum mehr Luft bekam und am ganzen Körper zitterte ...
»Was ...?« Es war nicht mehr als ein fassungsloser Ausruf.
Wir schauten alle gleichzeitig auf und sahen Jan im Türrahmen stehen.
»Was machst du denn hier?«, kam es nun von Hiro. Jan antwortete nicht, sondern schaute mich an. Besorgt, entsetzt und geschockt.
Langsam, immer noch zitternd und schluchzend, erhob ich mich und stampfte an ihm vorbei in mein Zimmer. Ich nahm die erstbeste Hose, die auf dem Boden lag, und schlüpfte hinein. Socken und Sneaker zog ich hektisch und vor allem stolpernd während des Laufens an. Im Flur griff ich nach meiner Jacke und einem Schal. Dann verließ ich die Wohnung, ohne mich noch mal umzuschauen oder mich zu verabschieden.
Ich rannte los, bog um die Ecke und sprintete immer weiter, keinem bestimmten Ziel entgegen. Die Kälte fiel mir kaum auf. Nur am Rande bemerkte ich die hauchzarte Eisschicht, die die Autos am Straßenrand umhüllte. Aber das war mir alles egal. Ich wollte einfach nur weg. Ich hielt erst an, als ich mich vor lauter Anstrengung und Schwindel fast übergeben musste.
Nach vorne gebeugt stand ich da, rang um Atem und stützte mich auf den Knien ab. Ich atmete schwer und konnte noch immer nicht das Zittern aus meinen Gliedern verbannen.
»Nora, warte!«
Nein!
Ich schaute mich panisch um und sah Jan.
»Lass mich verdammt noch mal in Ruhe. Es reicht!«, rief ich ihm entgegen. Doch er wollte einfach nicht auf mich hören.
»Dir geht es nicht gut. Lass dir doch helfen!«
»Ich brauche deine Hilfe nicht mehr.«
»Verdammt, Nora, warum hasst du mich denn so? Was hab ich dir denn getan?«
»Du hast mich alleine gelassen!«, schrie ich ihm mitten ins Gesicht und konnte die Tränen nicht zurückhalten, die nun in Strömen heiß meine kalten Wangen hinunterliefen. Plötzlich wurde mein Körper unkontrolliert von Schluchzern geschüttelt. Ich zittere, das Atmen fiel mir schwer und ich konnte mich kaum mehr auf meinen Beinen halten.
»Alleine«, flüstere ich ein weiteres Mal, mehr für mich selbst. Zum ersten Mal gab ich es zu. Zum ersten Mal ließ ich das Gefühl zu, betrogen und alleine gelassen worden zu sein. Ich hatte einen Fehler begangen, einen gewaltigen sogar, den ich mir niemals verzeihen würde. Aber er war es, der mir hoch und heilig versprochen hatte, immer für mich da zu sein. Er hatte geschworen, dass ich mich nie wieder einsam fühlen müsste. Ich war mein ganzes Leben lang alleine gewesen und hatte erst durch ihn und seine Familie zum ersten Mal so etwas wie Geborgenheit erfahren. Weihnachten zusammen verbringen, sogar mit Geschenken. Gemeinsame Abendessen mit ihm, Bianca und Sebastian. Ich war immer dabei gewesen, bei allen familiären Feiern. Und mit ein paar wenigen Worten hatte er mir auf einen Schlag alles genommen. Liebe, Familie, ein Zuhause. Nichts war geblieben, außer einer Leere, die das ausfüllte, was einst mein Leben gewesen war.
Ich war alleine!
Wieder alleine.
Immer alleine.
Ich wollte ihn nicht mehr sehen. Vor seiner Reaktion hatte ich zu viel Angst. Auf einen mitleidigen Gesichtsausdruck oder ein paar tröstende Worte konnte ich gut und gerne verzichten. Dafür war es zu spät. Es würde nichts ändern. Es würde alles nur noch schlimmer machen. Ich war schon am Ende. Mehr konnte ich nicht ertragen.
Abschalten
»Nora war dein Name, stimmt‘s? Komm ma her!«
Der Typ, der sich mir vorhin als Rob vorgestellt hatte, zog mich auf seinen Schoß. Ich wehrte mich nicht. Dafür war ich schon zu vollgedröhnt. Er reichte mir ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit und ich nahm es dankbar entgegen. Gierig trank ich davon. Das leere Glas, in dem sich nun nur noch zwei Eiswürfel klackernd hin und her bewegten, stellte ich hinter uns auf den Tresen.
Rob schlang den Arm um meine Taille und winkte seine beiden Freunde zu uns. Ein Pärchen. Emma und Mike hießen sie, glaube ich. Sie waren die letzten Stunden nonstop auf der Tanzfläche gewesen und hatten sich zu Electro-Beats bewegt. Nun waren sie verschwitzt und Emmas Make-Up verschmiert, doch ihre Augen waren wach und zeigten die größten Pupillen, die ich je gesehen hatte. Sie wollten weitertanzen. Wir waren einfach alle viel zu gut drauf und hatten viel zu viel Energie, um still sitzen zu bleiben.
»Willste noch‘n bisschen was, Baby?«, raunte mir Rob ins Ohr und ich nickte. Mir war durchaus klar, dass er mit mir flirtete, aber nichts war umsonst und mir war es egal. Hier in diesem düsteren Club störte es niemanden, dass man sich einfach mal vor aller Augen was reinzog. Rob zauberte ein Tütchen Stoff hervor. Emma kramte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche und Rob präparierte eine schöne Linie weißes Pulver. Er reichte mir den Spiegel und ein kleines Röhrchen. Ich sog alles ohne zu zögern rein. Rob sniefte ebenfalls eine riesige Portion weg und reichte alles an Emma weiter, die sich dann auch noch etwas gönnte. Mike verzichtete kopfschüttelnd. Er hatte bereits genug, sagte er. Wir alle hatten bereits mehr als genug. Das sagte mir mein Verstand. Aber der hatte keine Priorität mehr. Ich fühlte mich wohl hier. Ich konnte mich dunkel daran erinnern, schon früher manchmal an diesem Club vorbeigelaufen zu sein. Früher hatte ich wegen der seltsamen Gestalten und der lauten Musik, die man selbst draußen hören konnte, Angst gehabt. Jetzt war das anders. Die düstere Stimmung, das Strobolicht, der Kerl hinter mir, das schöne Gefühl in meinem Kopf, meine tauben Glieder, all das war wie eine warme Decke, die mich einhüllte und alles, was mich traurig machte, einfach draußen ließ. Außerhalb der Decke. Ich hatte ein Lächeln im Gesicht und saß mit geschlossenen Augen einfach nur da. Der Flash kam und ich war glücklich.
Einige Minuten später – oder waren es Stunden? – verließen wir den Club und fuhren weiter. In den nächsten Club? Kneipe? Disko? Tankstelle? Es war mir egal. Doch leider ließ der Rausch langsam nach und trübe Stimmung machte sich breit. Ich brauchte dringend demnächst Nachschub, sonst wäre die Party für mich vorbei. Ich kuschelte mich in den Rücksitz und überlegte, ob ich kurz die Augen schließen sollte, aber ich bezweifelte, dass das klappen würde. Zu viel Kokain zum Schlafen, zu wenig, um ekstatisch zu sein. Mike saß vor mir, lenkte mit einer Hand und stellte das Radio alle paar Sekunden auf einen anderen Sender. Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Emma, die ständig an ihm herumfummelte. Wahrscheinlich würden sie gleich während der Fahrt noch vögeln. Ich grinste und musste kichern. Rob neben mir lachte mit.
»Was is so lustig?«, fragte er und legte eine Hand auf meinen Oberschenkel.
»Nichts«, gab ich zu, denn es war ja auch absolut gar nichts wirklich lustig. Eigentlich war das alles wirklich schlimm und traurig und echt bitter.
Aber es war mir egal.
Noch.
Ich