Wir sind der Verein. Alina Schwermer

Wir sind der Verein - Alina Schwermer


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und aufgrund der 50+1-Regel in abgeschwächter Form nahezu jeder deutsche Verein.

      In Deutschland dagegen versteht man als Fanverein üblicherweise einen Verein, der tatsächlich aus der Fanszene entstanden ist: Entweder wird er von Fans übernommen oder von Fans neu gegründet. Das Wort „Phönixklub“ beschreibt einen Klub, der aus der Asche eines alten, untergegangenen Vereins neu entsteht; ein häufiges Muster bei Fanvereinen. Es gibt auch ganz neu gegründete Konkurrenz- oder Protestprojekte, aber sie sind seltener. Gemeinsam ist ihnen allen die Mitsprache der Basis. Jeder, der einen Anteil oder eine Mitgliedschaft bei einem Fanverein erwirbt, hat Stimmrecht, und zwar eine Stimme pro Person. Es muss demokratisch zugehen, damit ein Klub als Fanverein gilt. Kein Investor darf die Mehrheit der Stimmrechte haben.

      Abgesehen davon gibt es viele lokale Unterschiede: Es gibt Fanvereine, die alle zentralen Entscheidungen im Plenum abstimmen lassen. Und solche, die nur eine jährliche Mitgliederversammlung mit Entscheidungsmöglichkeiten haben, ähnlich wie bei einem konventionellen mitgliedergeführten Verein. Viele, aber nicht alle, sehen sich explizit auch als sozialen Versuch oder Community-Projekt. Sie sind häufig stärker sozial engagiert als konventionelle Vereine und sehr idealistisch. Die Grenzen zwischen mitgliedergeführtem Verein und Fanverein sind fließend; es ist auch eine Frage der (Selbst-)Wahrnehmung.

      Wie viele Fanvereine es gibt, lässt sich nicht genau sagen – nicht alle sind vernetzt, es herrscht viel Fluktuation durch Neugründungen oder Scheitern, und unter den Vernetzten besitzen nicht alle Initiativen tatsächlich einen Verein. Einige halten nur Anteile oder ringen um Einfluss. Die Zahlen deuten darauf hin, dass es in Europa etwa 150 Vereine und Initiativen gibt. Das ist bemerkenswert. Erst um die Jahrtausendwende haben sich in England die ersten Fanvereine gegründet. Innerhalb von zwanzig Jahren ist das Bedürfnis danach in vielen Ländern rasant gewachsen. Neu aber ist es nicht.

      Denn der Grundgedanke, dass ein Verein von seinen Anhängern geführt wird, ist fast so alt wie der organisierte Fußball selbst. Würden wir einen längeren Spaziergang zu den kleinen Plätzen im England des 19. Jahrhunderts unternehmen, wo Männer, oder zumindest größtenteils Männer, eine luftgefüllte Schweinsblase in eher ovaler Form herumkickten und das Fußball nannten, würden wir Zuschauer treffen, die sehr selbstverständlich ihren Verein auch führten. Die Fußballvereine in den Anfangszeiten kannten diverse Formen: Unter ihnen waren die von der Kirche oder einer Schule getragenen, eher gutbürgerlichen und elitären Konstrukte, die Arbeitervereine, die oft von ihrem jeweiligen Werk finanziert wurden, Mischungen und ganz unabhängige, wilde Konstrukte.

      Die Wurzeln von Schalke 04 etwa liegen, wie Dietrich Schulze-Marmeling in „Der gezähmte Fußball“ zeigt, in einer Straßenmannschaft von Jugendlichen, die sich selbst organisierte. Der erste Vorsitzende war ein 14-jähriger Teenager, mindestens zur Irritation des Establishments. Die Trennung zwischen Fans und Fußballfunktionären war noch nicht vollzogen. Vereine wurden häufig von eben denen geführt, die sie unterstützten: Ex-Spielern, Freunden und Nachbarn der Sportler oder von lokalen Geschäftsleuten. Und während Mitsprache im Mutterland durch die Professionalisierung schnell an Bedeutung verlor, blieb sie in einigen Ländern bis heute verankert. In Deutschland, wo die Tradition der Vereinsmitgliedschaft wesentlich stärker ist, blieb die Idee bis in die Sky-Ära präsent – auch wenn heutige Mitglieder etwa des FC Bayern auf die Ausrichtung des Klubs fast keinerlei Einfluss haben. Was zu der Frage führt, ob es überhaupt gut ist, wenn Mitglieder mitreden.

      Was also kann Fanführung?

      „Denken Sie etwa, Porsche, Mercedes oder DHL würden ihre Anteilseigner vor jeder Entscheidung nach ihrer Meinung fragen?“, fragte Ralf Rangnick einmal provokant, als man ihn auf das umstrittene Mitsprachemodell seines RB Leipzig ansprach. Und in Bezug auf andere Bundesligaklubs hat Rangnick recht. RB Leipzig und Borussia Dortmund etwa unterscheiden sich in Sachen Mitsprache weniger voneinander, als Klub- und Fanpropaganda es suggerieren. Es ist kaum möglich, bei einem global operierenden Unternehmen das Publikum in strategische Entscheidungen einzubinden. Selbst bei einem eingetragenen Verein wie Schalke 04 ist echte Mitsprache häufig nur schwer möglich. Und oft ist das, was manche Aktivisten fordern, an der Basis gar nicht gewollt: An vielen Standorten nehmen Fans ihr Wahlrecht kaum wahr. Nur eine kleine Minderheit erscheint zu Mitgliederversammlungen. Wenn sie es tun, dann finden Erfolgsversprechen in fast allen Szenen mehr Unterstützung als Mitsprache.

      Die Floskel, der Fußball ließe sich verbessern, wenn Vereine nur mal auf ihre Fans hören würden, zeichnet ein falsches Bild. Auch und gerade Fans fordern Erfolg und verzichten dafür häufig gern auf Demokratie. Was also kann Fanführung? Wenn man es wörtlich nimmt, kann ein mitgliedergeführter Verein auch heute noch die Champions League gewinnen: Real Madrid und Barcelona etwa sind beide mitgliedergeführt. Alle Fans, die den jährlichen Mitgliedsbeitrag zahlen, haben Stimmrecht bei der Wahl des Präsidenten. Wirtschaftlich nachhaltiger oder ethischer aber macht es das Verhalten der Vereine sicherlich nicht: Real und Barça allein hatten 2015 einen gemeinsamen Schuldenberg von 767 Millionen Euro angehäuft. Zwischen 2009 und 2014 gab Real 600 Millionen Euro für Neuzugänge aus. Bei den Wahlprogrammen der Präsidentenwahl geht es vor allem um populistische Versprechen von möglichst großen Transfers.

      Sind also fangeführte Klubs überhaupt in irgendeiner Weise besser oder vorzeigbarer als konventionelle Vereine? Die mitgliedergeführten großen Player wohl kaum. Die neuen, kleinen erheben dagegen tatsächlich Anspruch darauf, ethischer zu handeln. Können sie es? Um die Jahrtausendwende tritt der Fanverein aufs Parkett.

      „Als ich angefangen habe, wurden Fans als randalierende, Bier trinkende Idioten gesehen“, sagt Antonia Hagemann von Supporters Direct Europe. „Am Anfang mussten wir richtig dicke Bretter bohren. Man sitzt im Raum mit älteren Männern irgendeines Verbandes, und man sagt: Ihr seid doch auch Fans. Speziell für mich als Frau war es nicht leicht. Mittlerweile sitzen wir in EU-Expertenkommissionen, wir werden gehört. Die Akzeptanz von organisierten Fans hat sich verbessert. Aber wir sind immer noch das schwächste Glied in der Kette.“

      Die Welt ändert sich im Jahr 2000, als sich in England Supporters Direct gründet. Eine Organisation, die Fans dabei unterstützt, Trusts zu gründen und einen eigenen Fußballverein zu führen. Die Gründung eines neuen Vereins propagieren sie weniger. Fans sollen, so will es die Organisation, zuerst versuchen, mehr Einfluss im alten Verein zu gewinnen, mit Dialog von innen heraus Veränderungen anstoßen. Ein neu geschaffener Fanverein ist die letzte, weil schwierigste Option. Aber es ist oft die einzige Möglichkeit, die bleibt; die Situation in vielen kriselnden Großklubs ist so verfahren, der Schuldenstand so hoch oder die Vereinsführung so korrupt und unkooperativ, dass das letzte Mittel, die Neugründung, zum ersten Mittel wird.

      1997 wird in England die Idee der Fanübernahme geboren, eine Idee, die vor allem aus der Not entsteht. Anhänger in Bournemouth haben 400.000 Pfund gesammelt, um ihren Verein vor der Insolvenz zu retten, und weil die Gläubiger keinen anderen Vorschlag akzeptieren, erhält im Juni 1997 der Trust den Auftrag, den AFC Bournemouth zu führen. Plötzlich also sitzt in England, dem Fußballland der Scheichs und Oligarchen, ein Fan auf dem Präsidentenstuhl. Und Bournemouth, ein kleines Licht am großen Tisch der Fußballwelt, wird zum ersten Klub auf der Insel, dessen Anteile mehrheitlich den Anhängern gehörten. Ein Fanverein, ein Gewächs der Krise. Die Idee breitet sich über Großbritannien nach ganz Europa aus. Seit etwa 2007 vernetzen sich die Vereine auch untereinander: ein enormer Vorteil, um gegenseitige Erfahrungen austauschen und Richtlinien für erfolgreiche Projekte zu erarbeiten. Denn längst nicht jedes Projekt läuft gut. Die Weisheit der Masse kann trügerisch sein.

      Kann Mitbestimmung den Fußball besser machen?

      Eine populäre Anekdote erzählt davon, wie Besucher einer westenglischen Nutztiermesse 1906 im Rahmen eines Gewinnspiels das Schlachtgewicht eines Rindes schätzen sollten. Sie schätzten so genau, dass der Mittelwert aller 787 Schätzungen besser war als die Schätzung jedes einzelnen Teilnehmers, inklusive Experten. Es entstand die Idee von der Kompetenz der Masse: Wenn viele Menschen mitreden, seien die Ergebnisse besser und genauer als bei Entscheidungen von Einzelnen. Fanvereine leben ein Stück weit von Schwarmintelligenz.

      Das Fußballgeschäft aber ist wesentlich komplexer als das Gewicht eines Rindes; es geht nicht um schlichtes Wissen, sondern um die Abwägung verschiedenster Faktoren. Und die Beziehung von Menschen


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