Wir sind der Verein. Alina Schwermer
ist der Verein ein Blankopapier. Eine endlose Chance, ein Freibrief auf Neustart. Der alte Verein zieht nach Milton Keynes um, und aus dem Verlust wächst das unfreiwillige Privileg, ganz von vorn beginnen zu können. Ohne verkorkste Finanzen, ohne Altlasten, ohne schlechte Verträge – und ohne einen konkurrierenden Mutterverein. Von den rund 12.000 Wimbledon-Anhängern wandert etwa ein Drittel mit zum neuen Klub. All das sind Dinge, die den neuen Verein groß machen werden, bevor sie es selbst ahnen. Der AFC Wimbledon im Jahr 2002 ist ein Projekt auferstanden aus Ruinen; aus den Ruinen von Plough Lane.
Einer von Samuelsons Klienten reißt damals die Tribünen des alten Stadions ab. Er fragt ihn, ob er nicht die Fans holen wolle, damit die sich von ihrem Stadion verabschieden können. Samuelson will. Die Anhänger kommen in Scharen. Sie nehmen sich Stücke von den Tribünen mit. Samuelsons Sohn, damals zwölf Jahre alt, steht im kniehohen Gras. „Ich wollte immer im Mittelkreis der Plough Lane stehen“, sagt er. „Aber ich hätte nie gedacht, dass es unter solchen Umständen passiert.“ Und Erik Samuelson, bis dahin eher stiller Beobachter, fühlt, dass er etwas tun will. Noch bevor von einem neuen Verein die Rede ist, analysiert er, der Wirtschaftsprüfer, auf einer Website die Bilanzen des FC Wimbledon. Er macht es gut, bekommt Aufmerksamkeit. Und rutscht in den Zirkel der politisierten Fans. Seine Geschichte, Rekrutierung via Internet, Aktivist innerhalb von ein paar Wochen – sie ist nicht selten. In den frühen 2000ern paaren sich die finanzielle Not vieler englischer Vereine und die selbstbewusstere Fankultur mit einem dritten Faktor: technischem Fortschritt.
Ivor Heller glaubt, erst das Internet habe die ganze Bewegung möglich gemacht. „Ohne das Internet hätte es keine Fanvereine gegeben“, sagt er. „Plötzlich konnte man miteinander kommunizieren. Man konnte Ratschläge von anderen annehmen und diskutieren. Und man hat gemerkt, dass man in seiner Verzweiflung nicht allein ist.“ In den alten Zeiten, erinnert sich Ivor Heller, ist er nie bei einem anderen Fan zu Hause gewesen. Er sieht die Jungs bei den Spielen, und das ist es. Sie treffen sich im Stadion, sie gehen nachher zusammen saufen, und dann geht man eben irgendwann nach Hause. An diesem Abend oder am nächsten Morgen. Und danach? Führt jeder sein eigenes Leben, eine Parallelwelt in vier Wänden. Die Woche und das Wochenende, das sind unterschiedliche Welten für Ivor Heller. „Fans waren nicht vernetzt. Man hätte niemanden zu Hause angerufen und gefragt: Gehst du morgen zum Spiel?“ Er lacht. „Natürlich geht jeder zum Spiel.“
Mit Foren und Fanblogs und Kommentarfunktionen aber ändert sich der Rahmen. „Das Internet wurde wie ein Kleber“, sagt Heller, „der die Leute zusammengebracht hat.“ Menschen wie Samuelson und Heller, die aus völlig unterschiedlichen Welten stammen, finden im Fall Wimbledon zueinander wie in einer goldenen Prophezeiung von Schwarmintelligenz. Heller geht bei den Protesten in vorderster Reihe; Samuelson, der kokettiert, er sei für so was „viel zu sehr Mittelschicht“, bleibt zu Hause und arbeitet Pläne aus.
Als im Mai 2002 der Umzug des FC Wimbledon nach Milton Keynes beschlossene Sache ist, fügen sich technische Entwicklung, neue Fanorganisation und Krisensituation zu einer Dynamik, die die Beteiligten selbst überrollt. Die aufgeputschten Anhänger diskutieren auf einer Sitzung. Hellers Freund Kris Stewart dreht damals die Stimmung mit einem Satz, der heute zur Vereinsfolklore gehört: „Ich will einfach nur Fußball gucken.“ „War das nicht eine großartige Idee?“, fragt Erik Samuelson. „Der Satz wurde für uns wie ein Mantra. Wir waren alle überzeugt davon.“ Ein Protestverein ohne Ideologie, ohne politische Diskussionen. Einfach Fußball. „Und wir haben keine Sekunde geglaubt, dass wir scheitern könnten. Nie.“
Den Mut und den Glauben bewahren sie, zumindest in der eigenen Erinnerung, gegen Widerstände. „Viele haben anfangs geglaubt, dass wir uns selbst zerfleischen würden“, sagt Erik Samuelson. „Sie dachten, dass Fans nur dazu da seien, die Stadiontribünen zu putzen. Wir haben ihnen metaphorisch beide Mittelfinger gezeigt.“ Er hat sichtlich Spaß daran, unerwartet einen derben Ausdruck einzustreuen. Der AFC Wimbledon gegen das Establishment, da ist es jetzt doch. Natürlich sind das nur zwei Drittel der Wahrheit: Manche mögen zweifeln, aber jeder liebt die Erzählung von den rebellischen Fans und der Neugründung gegen das böse Milton Keynes.
Der AFC Wimbledon weiß, wie man eine Geschichte erzählt. Seine Protagonisten sind talentierte Erzähler; das erste Team wird medienwirksam gecastet. „Wir hatten bessere PR als viele andere Fanvereine“, sagt Ivor Heller geradeheraus. Und: „Wir haben uns nie Grenzen gesetzt.“ Das Sendungsbewusstsein trifft auf einen Zeitgeist, der auf ein Wimbledon gewartet hat. Die Ernüchterung von der Premier League, zehn Jahre nachdem die großen Geldschleusen aufgingen, ist spürbar geworden. Die billigste Jahreskarte beim FC Liverpool kostete 1990 sechzig Pfund für eine komplette Saison. 2017 kostet sie 685 Pfund. „Selbst Vereine wie Liverpool sind von der lokalen Community abgeschnitten“, sagt Autor Jim Keoghan. „Sie haben Fans auf der ganzen Welt, aber die Leute vor Ort können sich keine Tickets mehr leisten. Man könnte diesen Verein nehmen und irgendwo anders hin verpflanzen, und es würde das Geschäft nicht schädigen. Und daran ist etwas falsch. Vereine sollten in der Gemeinschaft verwurzelt sein, sie sollten einen Bezug zu den Menschen vor Ort haben.“
Der AFC Wimbledon bringt diese neue, alte Art von Bezug. Jeder, der will, kann bei dem Fanverein einen Anteil kaufen und bekommt genau eine Stimme. Jeder Anteilshaber kann die Vereinsführung wählen oder bei wichtigen Themen auf den Generalversammlungen abstimmen, sofern er erwachsen und damit stimmberechtigt ist. Im Frühjahr 2017 wollen etwa 3.000 Menschen dem AFC Wimbledon so nahe sein, dass sie einen Anteil und damit eine Stimme erwerben. Rund 2.500 von ihnen sind stimmberechtigte Erwachsene.
Keine Experimente
„Egal, wie man es bemisst, der AFC Wimbledon hat Erfolg auf jeder Skala“, sagt Stuart Dykes vom Fanverein FC United of Manchester. Wimbledon ist der Che Guevara der Fanrevolte: eine Ikone, die überall hinpasst, auf das T-Shirt des Studenten, als abgeschabter Sticker in die Eckkneipe oder als sexy Poster in die Küche der Hausfrau. Und wenn das widersprüchlich wirkt, stört es niemanden. Der Fanverein schlüpft in jede Rüstung. Wimbledon punktet bei denen, die sich Fanrechte und faire Eintrittspreise wünschen, bei Anti-Kommerz-Nostalgikern und bei Erfolgsfans, die auf Siege mit einem kleinen Klub stehen. Der Verein lebt von dem Hype, und 2017 wirkt er weitgehend stabil. Er hält nichts von Experimenten.
Seit der Gründung sind beim AFC im Wesentlichen dieselben Personen in Führungspositionen. Zwar helfen viele Freiwillige im Alltag, doch die großen Entscheidungen liegen in den Händen von wenigen. Auch im guten Sozialismus muss es jemanden geben, der Entscheidungen trifft, glaubt Ivor Heller. Man darf hinterfragen, wie basisdemokratisch der AFC Wimbledon ist. Heller, der Idealist, beantwortet das pragmatisch: „Manche Fans glauben, dass Fanführung heißt, man müsste über jede Eintrittskarte am Spieltag abstimmen. Aber so kann man einen Verein nicht managen.“ Denn eines lernt die Bewegung bald: Die Fanbasis, die einen Verein tragen, ihn beflügeln und führen kann, kann ihn auch ins Schlingern bringen. Ort der größten Probleme ist ausgerechnet das wundersame Netzwerk, das alle zusammenbrachte: das Internet. „Wir empfehlen mittlerweile allen Fanvereinen, kein offizielles Fanforum zu führen“, sagt Antonia Hagemann von Supporters Direct Europe.
Das lernen sie bald etwa beim zweiten Popstar der Bewegung, dem 2005 gegründeten FC United of Manchester, der sich explizit gegen Kommerz richtet und politisch sein will. Denn im Netz tun viele Anhänger das, was Menschen gern im Internet tun: schimpfen, hassen, mobben. „In Manchester wurde im Fanforum extrem gegen Individuen gehetzt“, sagt Hagemann. „Es ging so weit, dass der Vorstand keine Entscheidungen mehr treffen konnte, weil in alles reingegrätscht wurde. Teilweise waren das Äußerungen, die auch juristisch relevant wurden.“ Und: „Wir können nur jedem raten, das Forum zuzumachen“, sagt Hagemann. Wenn Mitsprache heißt, dass jeder bei allem mitreden muss, gibt es ein Problem. Die Leute des AFC Wimbledon helfen 2005, den FC United of Manchester zu gründen. Aber inhaltlich liegen die beiden Vereine weit auseinander. Beim FCUM missionieren sie bewusst im Rest Europas, sie sehen sich als Wortführer einer Bewegung. Und verweigern sich dem, was sie als Kommerz empfinden. Beim AFC Wimbledon reden sie über Fanführung nur, wenn man sie fragt. Und es gibt wenig, was sie aus ideologischen Gründen nicht tun würden.
Die Grenzen der Basisdemokratie und Machtstreitereien
Der AFC Wimbledon lernt die Macht und die Grenzen von Basisdemokratie in den ersten,