Wir sind der Verein. Alina Schwermer
Alles nur Gerede?
„Am Anfang der Saison war es einfach nur Gerede“, erinnert sich Ivor Heller. „Die Fans haben es nicht so ernst genommen. Wir waren sehr wütend, aber wir haben nie geglaubt, dass der Umzug wirklich passieren würde.“ Auch die FA ist gegen eine so radikale Umsiedlung. Doch das Präsidium des FC Wimbledon ist in der finanziellen Not zu vielem bereit. Charles Koppel erwägt eine Klage gegen den englischen Verband. Die FA will es sich nicht leisten, in einen langen Gerichtsstreit mit einem ihrer Vereine zu geraten. Und Milton Keynes ist jetzt eine realistische Option.
An diesem Herbsttag im November beim Treffen mit dem Präsidenten, an dem Tag, wo beide Seiten versuchen, zu reden, wird Ivor Heller zum ersten Mal klar, dass er seinen Verein verlieren könnte. „Koppel dachte, sie würden gewinnen“, sagt Heller. „An dem Abend konnte ich es sehen. Ich habe gesehen, dass sie dachten, sie gewinnen.“ Heller sagt, der Präsident wolle ihn damals überreden, den Fans in Wimbledon den Umzug schmackhaft zu machen. Ivor Hellers Druckerei ist wichtig für die Proteste. In den vergangenen Monaten sammelte sich hier eine Bewegung, eine neue Energie entstand. Sie drucken Plakate. Erstellen Flyer. Besprechen alte Aktionen und überlegen sich neue Aktionen, all das läuft über Ivor Heller. Und jetzt hat er das Gefühl, dass man ihn als Sprachrohr will, um die wütenden Anhänger zu beruhigen.
Von einer aussichtslosen Lage zum Triumph: jubelnde Fans des AFC Wimbledon.
„Das hätte ich nie getan“, sagt Heller. Er ist ein kleiner, dicklicher, temperamentvoller Mann, der findet, dass er Unternehmergeist hat. Ivor Heller ist nicht vorsichtig. Jeder Satz ist ein Risiko und ein Ausrufezeichen. Heller ist einer von der Basis. Er hat den Stallgeruch und die einfache, radikale Sprache, die keinen Zweifel lässt. Er unterteilt die Grenzen klar und ohne Zögern, hier ist richtig, da ist falsch. Und er fühlt sich als einer von denen, die für das Richtige kämpfen. Die Boulevardpresse wird später Geschichten darüber schreiben, wie Heller seinen Job und seine Beziehung für seinen Verein opferte. Er wird sagen, dass er nichts von beidem bereute.
An dem Novemberabend an einer Straße im Südwesten von London geht Ivor Heller neben Kris Stewart, der während der Proteste zum Freund wurde. „Weißt du was?“, sagt Heller zu Stewart. „Wenn sie gewinnen, fangen wir einfach von vorne an.“ Er sagt es impulsiv so dahin, wie er vieles impulsiv tut. Mit einem neuen Klub, denkt er in dem Moment, wären sie vielleicht besser dran. „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl: Selbst wenn wir die Schlacht verlieren, gewinnen wir den Krieg.“ In der mythischen Geschichte des AFC Wimbledon ist das Pathos dieses Satzes genau die richtige Dosis. Heller denkt sehr selbstverständlich in Schlachten und Kriegen, er meint es so. Und dann gehen sie nach Hause. Es fühlt sich nicht historisch an. Und Ivor Heller vergisst, was er gesagt hat. Zwei Wochen später klingelt das Telefon. Am anderen Ende der Leitung ist Kris Stewart. Er fragt: „Du meintest das ernst mit dem Neuanfang, oder?“ Heller sagt einfach: „Ja.“ Ab dem Moment meint er es wirklich ernst. Ein halbes Jahr später werden die Fans in England zu Pionieren: Sie gründen ihren eigenen Verein, den AFC Wimbledon.
„Lass uns das doch einfach noch mal machen.“
Wimbledon ist für den, der uneingeweiht und oberflächlich durchspaziert, kein Ort, wo eine Revolution ihr natürliches Zuhause findet. Fünfzehn Jahre nach der Gründung des Fanvereins AFC Wimbledon liegt der Vorort wohlhabend und friedlich schweigend und beschaulich da, wenn auch nicht so reich, wie das Klischee gern erzählt. Es gibt eine schäbige Pizzabude, kleine Vorgärten, Schilder mit „Vote Labour“ kurz vor der Wahl, und wirklich auf allen dieser Schilder steht „Labour“. Die Häuser reihen sich fast identisch aneinander. Trotzdem hat der alte FC Wimbledon eine ungewöhnlich wohlhabende Anhängerschaft. Nach Recherchen von Andrew Ward und John Williams für das Buch „Football Nation“ verdienen um die Jahrtausendwende 23 Prozent der Dauerkarteninhaber des Vereins mehr als 50.000 Pfund im Jahr. Es ist der zweithöchste Wert im englischen Profifußball – nach dem FC Chelsea.
Der FC Wimbledon ist eine sozial interessante Mischung. Gutbürgerliche bis reiche Anhängerschaft unterstützt einen Verein, dessen Etat unterdurchschnittlich, dessen Spieler überwiegend Working Class und dessen Position die des Underdogs ist: In den 1970er und 1980er Jahren steigt der ehemalige Non-League-Klub mit winzigem Budget bis in die erste Liga auf und gewinnt 1988 gegen den hoch favorisierten FC Liverpool den FA Cup. Dieser FC Wimbledon ist ein wilder Gegensatz zum Ruf seines Bezirks: schnoddrig, ranzig, mit hässlichem Kick-and-Rush-Fußball und einer Mannschaft, die sich einen Ruf fürs Saufen und Raufen und Treten erarbeitet. Herzstück dieser „Crazy Gang“ (Spitzname des FC Wimbledon in den 1980ern und 1990ern) ist das heruntergekommene Stadion Plough Lane mit seinen nackten Kabinen, Sanitäranlagen ohne Klopapier, Legenden von mit Salz befüllten Zuckerstreuern. Vielleicht ein plausibler Ort einer Revolution; Aufruhr gegen die gepflegte Schönheit drumherum.
Ivor Heller kommt zum ersten Mal an die Plough Lane, als er sieben oder acht Jahre alt ist. Sein Fußballtrainer hat ihn mitgenommen. Es ist ein Dienstag in den Schulferien Anfang der 1970er. Damals gehen nicht viele zum FC Wimbledon, in Hellers Erinnerung sind es vielleicht 1.200 Leute. Aber das fasziniert ihn: „Ich habe das geliebt. Den Geruch des Ortes, die besondere Atmosphäre, weil jeder jeden kannte. Man konnte die Erde riechen und die Trikots, und die Menschen haben sich miteinander unterhalten, nicht wie anderswo, wo man einander nicht kennt.“ Nebenbei kann Heller, damals wie heute klein gewachsen, auf der halb leeren Tribüne leicht das Spielfeld sehen. Auch das ist für ihn ein gutes Argument. Aber er verliebt sich erst, als er kurz darauf mit der Gleichgültigkeit des kleinen Jungen, der den Fußball gerade erst entdeckt, zu einem anderen Verein geht: zum FC Chelsea. Danach weiß Ivor Heller, was er nicht will. Er findet die Atmosphäre anonym, unterkühlt und brutal. Fansein beginnt bei Ivor Heller mit dem Stolz, dem FC Chelsea widerstanden zu haben. Fortan verpasst er kein Spiel des FC Wimbledon mehr. Und als sich der Fanverein AFC Wimbledon gründet und von ganz unten neu startet, ist es möglicherweise ein Vorteil, dass sie es gewöhnt sind, Underdogs zu sein. „Als wir in meiner Kindheit in den Amateurligen waren, haben wir so viel Spaß gehabt“, sagt Ivor Heller. „Also haben wir gesagt: Lass uns das doch einfach noch mal machen.“
„Ach, das ist ja wirklich möglich.“
Wie aber kommen sie dazu? Was bringt Fans dazu, ihren Verein zu verlassen? Lust auf Amateurfußball ist es jedenfalls nicht. Auch kein Protest gegen den Kommerz des englischen Profifußballs, wie es später oft erzählt wird. Eher eine Notsituation, in der es kaum eine Alternative gibt. Der Außenseiter FC Wimbledon (übrigens sehr schnöde von einem Milliardär geführt und in dieser Hinsicht sicher kein Underdog) verliert in den 1990er Jahren rapide den Anschluss an die boomende Premier League. Schon 1991 muss der Verein aus dem alten Stadion Plough Lane ausziehen, weil es den Sicherheitsanforderungen nicht mehr genügt. Es ist der Beginn eines rapiden Niedergangs. Der damalige Klubbesitzer Sam Hammam verkauft das Stadion für acht Millionen Pfund – und er lässt, wie sich später herausstellt, seine eigene Firma die Hälfte davon einstreichen.
Der heruntergewirtschaftete FC Wimbledon also braucht ein neues Stadion, damit beginnt die Standortsuche. Mal soll der Klub nach Wales ziehen, dann eben nach Dublin. Dass der Verein aus Süd-London in einen anderen Staat ziehen soll, ist nicht absurd genug. Und die Beziehungen zwischen Führung und einem Großteil der Fans, die sich an die Plough Lane zurückwünschen, werden schlechter. 1995 passiert in Wimbledon etwas Neues: Es gründet sich die WISA (Wimbledon Independent Supporters Association), um die Positionen der Fans gegenüber der Klubführung zu vertreten. Sie werden das zwar nicht besonders erfolgreich tun, aber es ist ein Signal von Aufruhr.
Auch an anderen Orten in England entstehen zu dieser Zeit die ersten Fanverbände und Interessensvertretungen. „In den 1990er Jahren hat sich das Spiel geändert“, sagt der Autor Jim Keoghan, der das Buch „Punk Football“ über englische Fanvereine verfasst hat. Er selbst ist kein Freund des neuen Reichtums im englischen Fußball: „Die Premier League ist Fußball von der schlimmsten Sorte. Fans wurden immer mehr gemolken und marginalisiert, und daraus entstand eine Reaktion.“ Wer als Klub in der Premier League bestehen will, muss jetzt deutlich größere wirtschaftliche Risiken eingehen als früher; eine Lawine von Vereinen gerät durch den extremen Konkurrenzkampf