Wir sind der Verein. Alina Schwermer

Wir sind der Verein - Alina Schwermer


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und sie sind zu einem gewissen Grad auch Kinder des Internets: Sie glauben an die Crowd. Erst durch die Vernetzung wird es möglich, dass Fans sich organisieren. Gerade bei großen, heterogenen Fanszenen kann viel Macht der Masse ein mächtiges Problem werden. Wo viele Köpfe mitreden, kommt es zu Streit, zu Mobbing und erschöpfenden Grabenkämpfen. Viele Klubs machen außerdem die Erfahrung, dass Mitsprache den Menschen vor allem in einer Krise wichtig ist: Läuft es schlecht, kämpfen sie mit unendlich viel Herzblut für den Verein. Läuft alles gut, gibt es wenig Interesse. Das Ehrenamt ist ein hartes Amt, besonders, wenn der Erfolg sich nicht einstellt. Und wenn dann ein Investor kommt und Titel verspricht, passiert es mitunter, dass die Fans ihre Demokratie gar nicht mehr wollen. Und sich selbst wieder abwählen.

      Ist also das Konzept Mitgliederführung im Fußball überholt? Ein ideologischer Dinosaurier, abgelöst von einem Konstrukt wie Red Bull, dessen Vereine so gut wie ohne Mitsprache auskommen? Oder hat die neue Bewegung die Kraft, den Fußball besser zu machen? Und wenn ja, wie viel sollten Fans mitbestimmen dürfen? Vielleicht können die Geschichten in diesem Buch helfen, einige der Fragen zu beantworten.

      Am Ende ist die Reise von Fanvereinen noch lange nicht. Einige Verbände fangen gerade erst an, sich wirklich für sie zu interessieren. In Israel sollen fangeführte Klubs künftig staatliche Förderung bekommen, in Georgien und Armenien gibt es ähnliche Überlegungen. In Spanien verhandelte die Fanorganisation FASFE 2017 über die Einführung einer Art 50+1-Regel. SD Europe leitete 2017 ein großes Projekt mit acht Vereinen aus verschiedenen Ländern und acht nationalen Fanorganisationen, das von der EU finanziert wurde. Fanvereinen wird zugetraut, etwas zu bewegen. Sie sind neu, sie sind aufregend, sie bieten eine Alternative. Wenn man sie richtig angeht. Und haben doch große Schwierigkeiten, sich im aktuellen System zu behaupten. Bis wohin die Macht der Masse gehen sollte, unter welchen Umständen Fanvereine funktionieren oder scheitern und ob Anhänger überhaupt langfristiges Interesse an Demokratie haben, mag hoffentlich die ein oder andere Erfahrung eines Fanvereins zeigen.

      Ich habe versucht, ein möglichst vielfältiges Bild zu zeichnen. Die Porträts in dem Buch erzählen von Vereinen in ganz Europa, bei denen Fans sich als Eigentümer oder Funktionäre versuchen. Von Kreisligisten bis zu Profiklubs, von Erfolgsprojekten und Gescheiterten und denen dazwischen. Aus Deutschland und Österreich, aus Spanien, Italien und England, aus Kroatien und Israel. Manche, wie der englische AFC Wimbledon, sind gefeierte Superstars und spielen mittlerweile im Profifußball mit. Andere, wie Austria Salzburg, sind zerrissen und kämpfen gegen das Aus. Und der AFC Telford United oder Fortuna Köln sind heute überhaupt nicht mehr fangeführt.

      Die Beweggründe für ihre Entstehung sind verschieden, und dasselbe gilt für ihre Fanszenen: Manche wurden aus Protest gegen einen Eigentümer gegründet, manche als Rettungsversuch in einer Krise, und einige, wie das israelische Beitar Nordia, aus ganz anderen, politischen Gründen. Dort handelt die Geschichte nicht mehr so sehr vom Kampf gegen Kommerz, sondern von Rassismus und von einer Szene, die versucht, ihren Weg in einem heiklen politischen Umfeld zu finden.

      Klubs in Osteuropa kämpfen mit anderen Hindernissen als die in Großbritannien; und während sich in Deutschland und Österreich im Moment nicht viel tut, wächst die Zahl der Fanvereine ausgerechnet in zwei Ländern, wo wenige sie erwartet hätten: in Spanien und Italien. Und muss man überhaupt seinen Verein neu gründen, um etwas zu verändern? Nicht unbedingt. Die Geschichte aus Gelsenkirchen handelt davon, wie Fans versuchen, Dinge von innen zu verändern. Mal erfolgreich, mal weniger. Ihre Geschichten erzählen die, die es erlebten: die Fans an der Basis und die neuen Präsidenten und Vorstandsmitglieder, und die Trainer und Spieler. Die also, die jede Woche zum Platz gehen, auch bei Nieselregen, nach acht Stunden Arbeit und meist ohne jede Bezahlung, weil sie ihren Verein lieben. Die darauf hoffen, wirklich etwas zu bewegen. Und es oft genug tun.

      Danken möchte ich all den Fanvereinen, die sich die Zeit nahmen, mir ihre Geschichte zu erzählen. Die es möglich machten, bei einem Besuch hinter die Kulissen zu schauen, und die sich meist nicht scheuten, auch über ihre Schwierigkeiten zu sprechen. Ein großer Dank auch an die Fans und Trainer, die ihre persönlichen Geschichten erzählt haben, obwohl sie teilweise gar nicht mehr im Verein aktiv sind. Danke an die Fanvereine für das Bildmaterial. Und an SD Europe für die vielen Gespräche, Informationen, Kontakte und das Material. Außerdem vielen Dank an den Verband Deutscher Sportjournalisten (VDS), der mir mit einem Stipendium einen Teil der Recherchereisen möglich gemacht hat.

      Zuletzt noch ein Hinweis: Vereine, die ihren Fans gehören und in denen Mitglieder mitbestimmen, gibt es nicht nur in Europa. Es gibt sie von Argentinien über Nigeria bis Japan, und nicht nur im Fußball. Berühmtestes internationales Beispiel ist vielleicht der US-amerikanische NFL-Klub Green Bay Packers, der seit 1923 mitgliedergeführt ist und im Jahr 2016 über 300.000 Anteilseignern gehörte. Es würde den Rahmen sprengen, all die Klubs in einem Buch zu behandeln. Die Geschichten bleiben also im europäischen Fußball, in loser Reihenfolge. Und sie beginnen, wo auch die ersten Fanvereine entstanden: in England um die Jahrtausendwende.

      Kapitel 1 – AFC Wimbledon

      Aufbruch im Mutterland

      Der AFC Wimbledon ist der Star unter den Fanvereinen. Ein Pionier, der es von ganz unten bis fast ganz oben schaffte und weiß, wie man eine Geschichte erzählt. Am Anfang steht ein rücksichtsloser Umzug.

      Wenn Ivor Heller im Nachhinein den Moment sucht, an dem die Dinge in Bewegung gerieten, erinnert er sich an einen Abend im November im Jahr 2001. Andere Wimbledon-Fans, sagt er, mögen andere Momente nennen, es gibt viele Anfänge einer Revolution, aber für ihn ist genau das der Abend, an dem die Geschichte beginnt.

      Es ist November, ein Herbstabend im Süden Londons, und Ivor Heller, seit Kindertagen Fan des FC Wimbledon, ist mit ein paar anderen Fans in seiner Heimatstadt unterwegs. Fußball hat sie aus den Häusern in den Herbst getrieben, aber es ist kein Spiel ihres kriselnden Vereins, des gerade aus der boomenden Premier League abgestiegenen FC Wimbledon, das die Fans aus dem gemütlichen Heim treibt. Sondern Business. Eine Besprechung, die schlecht gelaufen ist.

      Es ist eine kleine Gruppe, die da durch London geht: Ivor Heller, Besitzer einer kleinen Druckerei, Kris Stewart, Finanzberater, und ein paar Bekannte, auch sie aus der Fanszene. Und sie kommen von einem Treffen mit dem damaligen Klub-Präsidenten Charles Koppel. Der Präsident hat die Fans eingeladen.

      Dass ein Präsident mit Fans verhandelt, ist neu. Doch nun gehen sie enttäuscht durch die kühle Herbstnacht. Schon länger gärt in Wimbledon ein Streit zwischen dem Vorstand und Teilen der Fanszene, es geht um Tradition und Heimat und Respekt. Und so sehr haben sich die Fronten verhärtet, dass Koppel keine andere Möglichkeit sieht, als die Gegenfraktion zum Gespräch zu laden.

      Der FC Wimbledon, in den 1990er Jahren ein Verein mit Talent für Chaos, sucht ein neues Stadion – das ist die Ausgangslage. Weil sich in London keine Dauerlösung findet, zieht die Vereinsführung in Erwägung, den Klub in eine andere Stadt zu versetzen. Einige potenzielle Standorte erledigen sich von selbst, aber der Verein, der einigermaßen ratlos gegen den eigenen Niedergang kämpft, bringt für jedes abgelehnte Szenario ein neues ins Spiel. Sogar Dublin ist im Gespräch. Dublin in Irland. „Dublin in Irland“, sagt Ivor Heller heute immer noch ungläubig, „das muss man sich mal vorstellen.“ Für die größtenteils lokal verwurzelte Anhängerschaft würde ein solcher Umzug ganz offensichtlich die Bindung zum Verein kappen. Sie sind Verlierer der fußballerischen Globalisierung. „Dublin = Tod“ hat Ivor Heller in seiner Druckerei auf Plakate schreiben lassen.

      Viel Aufmerksamkeit gibt es für die Proteste in der Presse; Fans, die mit dem Rücken zum Spielfeld stehen, die sich auf die Straße legen und den Mannschaftsbus bei der Abreise blockieren, es sind einprägsame Bilder. Man habe sich den Arsch abgefroren, als sie auf dieser Straße lagen, erinnert sich Heller. Aber was soll’s, es erregt Aufsehen.

      Im Herbst 2001 hat sich der Machtkampf gewendet: Der Geschäftsmann Pete Winkelman und sein Milton Keynes Stadium Consortium (MKSC) wollen den FC Wimbledon in die Planstadt Milton Keynes holen, rund eineinhalb Stunden von London entfernt. Das Novum im englischen Fußball nimmt Gestalt an. Auch heute, nachdem


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