Der Pflug des Zorns - Ein historischer Roman. Maria Helleberg
Jetzt weiß er, woran er ist. So ein hübscher junger Mann! Leider kommt er nie auf die Idee, mir den Rock hochzuheben, aber man soll die Hoffnung nie aufgeben!
Jofrid wußte nicht, was sie von Ingrid halten sollte – die Äbtissin war im selben Alter wie ihre Mutter. Ungestüm und doch sanft wie eine Spatzenmutter mit ihren Jungen. Ingrid nahm Jofrid mit in den Gemüsegarten, um ihr eines der Kinder zu zeigen, die Vreta zum Großziehen bekommen hatte, und von dem sie nicht wußte, was man mit ihm anfangen sollte.
Es war Gunnars kleine Schwester Märta, deren Geburt ihre Mutter das Leben gekostet hatte.
Das Mädchen konnte höchstens fünf Jahre alt sein, wirkte aber viel älter – ein verschlossenes, stilles Kind, das weder Ball spielte noch herumtollte, das hingegen artig mit kleinen Schritten auf dem geharkten Gartenweg daherkam, die Hände gefaltet, und sich vor der fremden Dame verneigte. Märta hatte Ähnlichkeit mit ihrem Bruder: die gleiche breite, gewölbte Stirn und die zusammengewachsenen Augenbrauen; aber sie war blond, nicht schwarzhaarig, und die Schwestern in Vreta hatten sie besser gefüttert als Ulf und Margareta es bei Gunnar getan hatten, deshalb war Märta rundlich, weiß und rot.
– Sie wird einmal hübsch, sagte Ingrid und strich dem Kind über das Haar, – wir begnügen uns gern damit, Gott die O-beinigen und Tauben zu geben, aber auch die hübschen, jungen Mädchen können Gott dienen, vielleicht sogar mit größerer Freude als die mißgestalteten!
Jofrid erstarrte: Sie hatte sich gefragt, was Ingrid bewogen haben könnte, das Treffen mit ihren eigenen Kindern aufzuschieben und ihr statt dessen das kleine Mädchen zu zeigen. Märta hatte wenige nahe Verwandte, und wenn Ingrid ein besiegeltes Dokument vorzeigen konnte, aus dem der Wunsch hervorging, daß das Mädchen Nonne in Vreta werden sollte, würden die anderen, die die Verantwortung für ihr weiteres Schicksal hatten, vermutlich mit den Schultern zucken und es gut sein lassen.
Auf dem Weg zurück zu Ingrids Haus wandte sie sich um und sah zu ihrer Überraschung, daß Märta einen entlaubten Stock in die Vogelkäfige steckte und nach den Tauben stach, die in den Weidenkäfigen herumflatterten, schreiend vor Angst.
Man wurde gut bewirtet in Vreta: süßer, klarer Wein aus Poitou, Lachs im Brotteig, Forellenpastete und seltene Früchte warteten auf sie, als habe sie während des Trubels der Erntearbeit nur den Hof verlassen, um verschwenderisch zu essen. Sie konnte sehen, daß es Ingrid ärgerte, daß sie so wenig aß. Ihr Magen zog sich zusammen und sandte einen dünnen, bitteren Beigeschmack von Lachs und Wein in Rachen und Mund hinauf. Nun hatte sie jahrelang diesem Augenblick entgegengefiebert, wechselweise voller Hoffnung und Mißtrauen. Sie hatte an ihre Kinder gedacht, bis sie sich völlig in der Sehnsucht verfangen hatte, und dennoch war es so einfach: zwei Kinder, die gewachsen waren. Drei, vier, fünf Jahre bedeuteten später im Leben nicht viel. Aber drei Jahre veränderten ein Kind und veränderten dessen Sicht von der Welt. Jetzt, wo sie ihnen endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, traf es sie wie ein unersetzlicher Verlust: vier Jahre des Lebens ihrer Kinder hatte sie verloren.
Lucia, die Ingrid den Haushalt führte, brachte Bengt herein. Ihn hatten sie wie einen erwachsenen Mann gekleidet, in knöchellangem Gewand, mit engen Strümpfen, kleinen Schnabelschuhen an den Füßen, einem breiten Ledergürtel um die Taille, so daß man sehen konnte, wie schlank er war. Das Haar wuchs hinten lang herunter, war aber über den scharfen Augenbrauen und an den Ohren gerade abgeschnitten, so daß das Gesicht gedrängt und schmal wirkte. Das dichte, eichhörnchenrote Haar erinnerte an seinen Vater, und er schien Görans breiten Mund und seine wachen Augen zu bekommen. In ein paar Jahren würde man unter den runden, flaumigen Wangen schon den erwachsenen Mann erahnen können.
Jofrid ging in die Hocke, teils, weil ein Schwindelgefühl sie erfaßte, teils, weil sie mit dem Jungen auf Augenhöhe sein wollte. Aber das änderte weder etwas an ihrem Unbehagen, noch trug es zur Annäherung zwischen ihnen bei. Er blieb gerade so weit von ihr entfernt stehen, daß es unmöglich war, die Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu berühren – und er betrachtete sie mit äußerster Feindseligkeit.
Lucia knuffte Bengt in den Rücken, um ihn dazu zu bringen, ein Mindestmaß an Höflichkeit zu zeigen und zu seiner Mutter hinzugehen. Nach einer langen, peinlichen Pause tat er, was Lucia wollte: aus freiem Willen, nicht auf Befehl eines Erwachsenen.
Sie hatte geglaubt, daß sie ihn jetzt umarmen würde, den schmächtigen, unbeholfenen Körper; aber er fegte ihre Hände fort, rot vor Scham, angewidert. Räusperte sich und blickte offen und verloren zu Lucia hinüber, bevor er mit spitzer, eintöniger Stimme einen auswendig gelernten Spruch hersagte.
Seine Großmutter Cecilia, die jetzt eine der heiligen Schwestern in Stockholm war, hoffte zutiefst, daß sie endlich die Verpflichtungen einer Mutter gegenüber ihren Kindern erfüllen würde und daß sie ihre schweren Sünden und ihre Herzlosigkeit bereute.
Als er fertig war, ließ er sich auf beide Wangen küssen, biß sich aber auf die Lippen, um nicht zu weinen; stand noch lange da und atmete heftig vor Gereiztheit.
Bengt konnte sich wenigstens an sie erinnern. Arvid war nur ein paar Monate alt gewesen, als sie getrennt wurden, und der Junge hatte keine Ahnung, wer Jofrid war, wollte sich nicht von ihr anfassen lassen. Lucia warnte sie lachend: Arvid sei ein kleines Wildtier, das schlug, schrie, biß und trat. Sie hatte recht. Arvid heulte, so daß ihm die Tränen in dem kleinen, vergrämten Gesicht nur so aus den Augen rannen – und er schlug seine ihm fremde Mutter, sabberte und winselte und machte sich steif.
Abends, bei Einbruch der Dunkelheit, ging Jofrid, die keine Ruhe finden konnte, hinüber in die Kirche, um die Schwestern die Vigilie singen zu hören. Jofrid konnte kaum sehen, wohin sie ihre Füße setzte, ging aber dennoch schnell die schmalen, hohen, unebenen Stufen hinunter. Sie krümmte die Zehen um die Außenkante jeder Fliese – in den dünnen, weichen Lederschuhen spürte sie jede noch so unbedeutende Unebenheit mit der Fußsohle.
Der Chorgesang hatte begonnen, und sie war der einzige Zuhörer in der Laienbrüderkirche – als seien diese beiden Welten ernsthaft und auf ewig getrennt. Die kühle Verschlossenheit, Schutz und Flucht auf der einen Seite, unzugänglich für sie.
Lange, wogende Klangwellen füllten den Raum, ließen die Luft um sie herum schwingen und schallen, und es war, als ob ihr Körper darauf antwortete. Die klaren Frauenstimmen klangen, als stammten sie aus jungfräulichen, unwissenden Seelen.
Als sie gehen wollte, fiel ihr Blick auf eines der neuen Bilder über dem Marienaltar: das Herz von langen Schwertern durchbohrt, ein jedes symbolisierte eine Sorge, die Maria von ihrem Sohn zugefügt worden war. Noch vor kurzem wäre ihr das gekünstelt vorgekommen. Aber heute abend verstand sie die Bedeutung, und sie setzte sich auf die Treppe und weinte wie eine alte Frau.
Ein einziges Mal hatte sie mit ihrer Schwiegermutter über ihre neue Ehe gesprochen. Ingeborg hatte vierzig Jahre auf Algot gewartet. Aber Ingeborg war unglaublich beherrscht und gleichmütig, niemals verbittert. Und dann hatte sie die ältere Frau gefragt, ob sie niemals in all den Jahren, in denen sie mit Måns verheiratet gewesen war, ihr Schicksal verflucht hätte.
Nur einmal, hatte Ingeborg geantwortet; und sofort hatte sie die Frage bereut, denn eine Art Verwundbarkeit arbeitete sich durch das farblose, ausgezehrte Gesicht. Durchlebter, aber noch immer lebendiger Schmerz.
Und Ingeborg hatte erzählt: Sie war mit Måns zum Weihnachtsempfang auf einer der königlichen Residenzen gewesen. Es hatte lange und kräftig geschneit, die Nacht war frostklar und still wie der Tod. Sie war nicht zur Mitternachtsmesse in die Kapelle gegangen, stand windgeschützt bei einer der Steintreppen und genoß die Einsamkeit und die Kälte. Vier junge Männer kamen mit Fackeln in den Händen angeritten, unförmig in ihren Pelzen, sie lachten und riefen einander mit hellen Stimmen zu. Dann ritten sie in dem kleinen Innenhof umher, die Tiere schnaubten und dampften, Schaum stand um sie, und die Reiter warfen einander die brennenden Fackeln zu. Nicht ein einziges Mal fiel ihnen eine davon in den Schnee.
Einer von ihnen ritt dicht an ihr vorbei, mit zwei Fackeln in der rechten Hand, er schrie auf das Pferd ein, um es anzufeuern – sie hatte ihn von der Seite gesehen und für einen Augenblick geglaubt, die Zeit stehe still, oder der Böse habe ihr ein Trugbild gesandt, denn dieser Mann hatte ausgesehen wie ihr Algot, aber