Eine Kompanie Soldaten - In der Hölle von Verdun. Alfred Hein

Eine Kompanie Soldaten - In der Hölle von Verdun - Alfred Hein


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— — es wird Nachmittag — es wird Abend — — Lutz hatte sich kaum in seinem Erdloch gerührt. Er kroch in die Erde wie in den Mutterschoss zurück. Hilflos. Angstgejagt von den Granaten, die den Graben auf- und abtasteten. Alle vier bis fünf Minuten bestrich die feindliche Artillerie in diesem Auf und Ab die Gräben am Fusse der Höhe 304 entlang die unmittelbare Umgebung von Lindolfs Erdloch. Dann krachte es nicht nur dumpf, sondern hell metallen in der Nähe, und ein Geprassel von Erdklumpen und Splittern hagelte nieder. Wenn Lutz in den Laufgraben hinaussah, kaum den Kopf wendend, die vor das Erdloch gehängte Zeltbahn nur wenig wegschiebend — dann lagen in der Erde verstreut die rissigen Splitter der amerikanischen Granaten ganz dicht neben ihm.

      Auf und ab, auf und ab, immer die Gräben entlang, alle vier bis fünf Minuten ganz schwer und krachend in der Nähe, kaum zehn Meter im Umkreis entfernt einschlagend, dann wieder weiter rollend, gewaltig donnernd, aber das Ohr war geübt — — die galten andern. Wer lebte noch? Keiner wusste es vom nächsten. Der Leutnant, der schräg gegenüber mit seinem Burschen seine kleine Höhle hatte, rührte sich ebensowenig wie alle andern. Manchmal schleppte sich einer vorbei, meist von der Maschinengewehrkompagnie aus der Sappe — hier ging es am heissesten zu. Auf einen Abschnitt von kaum 30 Metern schossen 6 Geschütze ununterbrochen. Die Sappe hatte van Heusen längst räumen lassen, die aus 300 Sandsäcken aufgebaute Barrikade, die die Stellungen abriegelte, war längst eingeebnet, verschwunden, ein einziger Schurrmurr von Stein und Stahl und Erde, kein Graben mehr, die Wände eingeebnet, nur riesige Trichter — — und überall Tote darin oder noch zuckende Schwerverwundete.

      An der Grabenecke zur Sappe, wo die Schiesserei „nur“ so heftig war, wie in der Gegend der 12. Kompagnie, stand lauernd ein Maschinengewehr, van Heusen, einen Unteroffizier und zwei Gefreite neben sich. Sie warteten, dass aus irgendeiner Ecke ein Franzosentrupp auftauchte mit Flammenwerfern oder Handgranaten. Aber sie kamen immer noch nicht.

      „Wenn sie wenigstens endlich kämen,“ sagte einer der Gefreiten. „Das hält ja kein Schw — —,“ da lag er. Getroffen.

      Auf und ab, auf und ab, immer die Gräben entlang, alle vier bis fünf Minuten ganz schwer und krachend in der Nähe, kaum zehn Meter im Umkreis entfernt einschlagend, dann wieder weiter rollend, gewaltig donnernd noch, aber genügend fern, um die Gedanken wieder zu finden — eine Stunde, zwei, drei — sieben Stunden. In die Erde platt gedrückte Angst, wanzenhaft, nur die Erschütterung der Schüsse im Bewusstsein — Sekunde um Sekunde — Stunde um Stunde — das war alles, was vom stolzen Menschen-Ich übrig blieb. Erinnerungsfetzen des früheren Lebens durchschossen phantasiehaft das Hirn. Kein Durst. Kein Hunger. Die Glieder erstarrten, unbeweglich ins Erdloch eingepresst. Ja, ja — noch da — Getöse ganz nah — schon wieder — schreit wer? — Blut? Bloss Schweiss ... Mutter, wozu kam ich auf die Welt? Um bis in dieses wahnsinige Wüten der Geschütze zu gelangen? Das Herz hämmert. Manchmal noch lauter als die Einschläge der Granaten. Wandern auf und ab, noch immer. Zum tausendsten Male: auf und ab. Zermalmen und pflügen. Schleudern eiserne Nägel und Dolche, durchbrechen Menschen und Erde.

      Hirschfeld wartete: Heut naht die Sühne. Er sass im Laufgang ausserhalb des Erdlochs, ass seine eiserne Ration auf, schrieb an seine Mutter — und wartete.

      6 Uhr. Die Sonne sah schräg und rot in die zerschossenen Gräben der 313er. Aber sie hörten nicht auf. Die ganze Höhe 304 spie Feuer, das auf die Gräben niederging, als gälte es, Sodom zu strafen. Lutz hatte gehofft, dass das Trommelfeuer bis dahin stoppen würde. Es war die Stunde der Abendmeldung. Bisher konnte er noch jeden Abend pünktlich loslaufen, zusammen mit Bernöckel, der aber, ohne dass es der Leutnant wusste, nach zweihundert Metern bei irgendeinem Kameraden liegen blieb: „Lauf allein. Es wird dir nichts passieren,“ und stumpf seine Zigarette anzündete und den Rauch vor sich hinblies.

      „Zum Leutnant — he, Lindolf — he, Bernöckel!!“ brüllte der Bursche, den Kopf etwas aus dem Unterschlupf steckend, in das Getöse hinein.

      Lutz kroch heraus — stumpf wie ein Tier. Draussen gingen gerade die schweren Brocken in seiner Nähe herunter, allerhand Zeug flog ihm ins Gesicht und an den Leib, aber er spürte keine Verwundung.

      „Die Meldung —“ sagte der Leutnant. „Wo ist Bernöckel?“

      Der Bursche brüllte nochmals: „Bernöckel!“ Lindolf ging an sein Erdloch heran, aufrecht — es war ja ganz egal in dem Todesregen, lässig — schicksalsergeben. Die Angst war fort.

      Das Erdloch Bernöckels leer! Er war halb wahnsinnig übergelaufen.

      „Holen Sie Feldwebel Röhn,“ sagte Wynfrith. „Oder lassen Sie ihn sitzen — er soll Ihnen einen neuen Melder geben.“ Lindolf kroch nun doch wieder — vorhin waren so zwei lange Splitter, wie Brieföffner so gross, dicht neben ihm hingesaust — Vorsicht! Wynfrith hatte ihn auch angepfiffen: „Lassen Sie diese Bravourstücke — ein vorsichtiger Lebendiger ist in der Kompagnie immer mehr wert als ein waghalsiger Toter. Mut da, wo er am Platze ist. Hier —!“

      Der Feldwebel knurrte: „Was gibts denn?“

      Lutz überbrachte den Befehl. „Nehmen Sie sich den Rinkel. Gruppe Weiss.“

      Wieder weiter — — bsching — bschirring — uiu — Einschlag und Zünderflug, Einschlag und Zünderflug da und dort, und es regnete Schutt, zeitweise Lutz in eine Erdwolke wie in einen Bienenschwarm hüllend.

      „Unteroffizier Weiss?“

      „Sollen Rinkel als Melder abgeben. Bernöckel ist vermisst.“

      „Meinetwegen, wenn er noch lebt.“

      Rinkel lebte noch. Er hatte den Rosenkranz um seine Hände geschlungen und betete zur Mutter Gottes. Ein rheinischer pausbäckiger kräftiger Bauernjunge. Aber die Angst weitete seine Augen, und er zitterte, als er Lindolfs Begehren hörte.

      „Ich kann nicht —“

      „Du Bulle, Mensch — —“ sagte der kleine Lutz ärgerlich. „Wer dran ist, ist dran. Hier vorn gibts kein: Ich kann nicht.“ Dann fuhr er, beschämt über seine Heftigkeit, mit gütiger Stimme fort: „Ich lebe ja auch noch immer. Komm mit, Rinkel. Hier kann es dich doch ebenso treffen.“

      Den Rosenkranz um die Hand gewickelt, kam Rinkel hervor und die Beiden krochen nun zum Leutnant zurück. Wenn die Granaten in der Nähe krachten, betete Franz Rinkel laut und blieb benommen liegen, bis ihn Lindolf, der vorankroch, mit dem Absatz an den Helm stiess.

      „Der Rinkel, den mir Weiss gab, ist ein ziemliches Armloch, Herr Leutnant.“

      Wynfrith sagte: „Wir können uns hier nicht viel darum kümmern, ob einer ein Armloch ist oder nicht. Sei du keins, Lutz.“

      Lindolf freute sich jedesmal, wenn Wynfrith zu ihm Du sagte; denn dieses Du kam ganz aus einer kameradschaftlichen Seele, ohne Herablassung des Vorgesetzten.

      „Da ist er.“

      „Herr Leutnant — ich fühle mich so schwach — kann nicht ein andrer —?“

      „Rinkel! Sie sind Melder!“ schrie Wynfrith. „Es ist doch lächerlich, der Tod wartet an jeder Ecke. Ist denn Sterben so schlimm in diesem Radau?“

      „Jawohl — jawohl —“ sprach wimmernd der dicke, grosse, rotbäckige Bauer. Wie ein blasses Heimchen sass Lutz neben ihm vor dem Leutnant. Es war inzwischen sieben Uhr geworden. Die Dämmerung sank. Und die Schüsse begannen schon abzuirren.

      Der Meldelauf, selbst durch den vordersten Graben, war erträglich. Rinkel freilich stöhnte, wollte nicht vorwärts, wenn auf einer aufgeschossenen Grabenwand Maschinengewehrfeuer lag, und er flüchtete dann immer ins Gebet, das ihn schliesslich gottergeben vorwärts trug.

      Dann und wann fragte Lutz einen in der Kompagnie: „Ist jemand verschütt gegangen?“

      „Ja, der alte Striese,“ sagte einmal der. „Ja, der kleine Meyer II“, hiess es hier. „Den Lewinski haben sie weggetragen, das Bein hing nur noch an einer Sehne.“

      Aber der Skatklub lebte. Pechtler rief: „Na, Lutz“ — nein, er sagte nicht mehr Lucie, der Kleine hatte es in


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