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standhalten kann.
Das Unwissen hilft, die Realität, sich selbst und das Gegenüber wirklich kennenzulernen. David Bohm schreibt in seinem Buch Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen wie wichtig es für einen Dialog ist, alle Annahmen erst einmal in der Schwebe zu halten, um sie gründlich zu betrachten und dadurch einander kennenlernen zu können. Die Bereitschaft zum Nicht-Wissen ist außerdem eine wichtige Grundlage für einen unhierarchischen Austausch auf Augenhöhe. Diese Bereitschaft fehlt so häufig den Vertretern der belarusischen Macht. Die Machthabenden versagen auf allen Ebenen, wenn sie mit dem eigenen Un-Wissen konfrontiert werden. Ein Professor weiß, wie es in der Universität laufen soll, wie man Studentinnen und Studenten einschüchtert, aber wenn die Studenten sich nicht mehr einschüchtern lassen, fällt der Professor mit all seinem „Wissen“ in ein tiefes Loch und ist hilflos. Das belarusische System war jahrzehntelang in sich geschlossen, kaum für Veränderungen zugänglich. Die ganze Bewegung brodelte unter der Oberfläche, die nun aufplatzt. Die Gesellschaft ist jetzt geteilt: Ein Teil verschließt sich noch mehr, der andere ist offen, manchmal wie eine klaffende Wunde.
Schauen, beobachten, die Realität neu kennenlernen, ist harte Arbeit. Groß ist die Versuchung, die Realität zu erfinden statt sie kennenzulernen, im letzten Fall wird es oft wieder ambivalent. Wenn man diese Ambivalenzen wahrnimmt, kann man schwer in einem Atemzug hoch erhobenen Hauptes durch die Revolution marschieren, immer wieder ist man gezwungen, stehen zu bleiben, inne zu halten, die eigene Angst zu versorgen, zu überprüfen, was man sieht, und inwieweit es einem entspricht.
Der Prozess des Kennenlernens fängt jetzt in Belarus auf der gesellschaftlichen Ebene erst an. Die faszinierenden Hof-Communities, die zu wichtigen Plattformen der Selbstorganisation geworden sind, sind Aushängeschilder dafür. Da ist das neue Belarus, von dem so oft die Rede ist, zum Greifen nah: Zwischenmenschliche Begegnungen und Interesse an Kultur, Auftritte von Musiker*innen und Dichter*innen – das hält die Gesellschaft in Schwung, wie auch der Anblick von älteren Menschen und Menschen mit Behinderung, von denen manche zum ersten Mal so offen mit ihren Forderungen auf die Straße gehen. Das ist so atemberaubend, dass ich ab und zu gerne übersehe, dass es auch Menschen gibt, die mit der Revolution im Hintergrund nach einem hundertprozentig legitimen Hype für sich suchen. Ich schiebe erst einmal die Erkenntnis beiseite, dass Menschen in Chats von einigen Hof-Communities wegen „pessimistischer Haltung“ blockiert werden. Man weiß schon, dass Optimismus für eine Revolution unentbehrlich ist. Aber weiß man denn auch, wohin mit dem Pessimismus? Wohin sollen die blockierten Chat-Teilnehmenden denn mit ihren Zweifeln? Und wir dürfen nicht vergessen, dass gar nicht alle Mitbürger*innen in diesen Chats sind. Was ist mit den anderen? Gehören sie dann auch zu der neuen belarusischen Gesellschaft, oder bleiben sie außen vor? Was ist mit denen, die die Seiten wechseln und dies so selbstverständlich tun, als wären sie nie Teil des Systems gewesen? Was ist mit denen, die im Moment orientierungslos sind und einsam? Gehören sie zu diesem Wir, das siegen soll? Wie wird die Kommunikation mit ihnen aufgebaut? Das weiß ich auch nicht. Und ich möchte, dass die freudigen Optimisten das auch einmal nicht wissen und sich danach fragen, statt zu der schnellen Lösung der Blockade im Chat oder wozu auch immer zu greifen.
„Belarusen, ihr seid unglaublich!“ – den Satz aus der Wahlkampagne hört man immer noch oft. Man spricht davon, dass er eine psychotherapeutische Wirkung auf die Belarusen habe. Das bringt mich immer wieder aus der Fassung, denn Psychotherapie ist Arbeit, mit Tiefen und Höhen, wo das Fortkommen eher einer Bewegung im Kreis ähnelt: Immer wieder stolpert man über denselben Problemknoten, bis man ihn auflöst, um ein paar Schritte weiter am nächsten stehen zu bleiben. Mir ist deswegen ein Optimismus, der die Blockade braucht, höchst suspekt, auch in Zeiten der Revolution. Wir brauchen unbedingt Räume, in denen auch Zweifel zugelassen sind, Trauer, Wut, Enttäuschung und Angst, in denen Menschen nachholen können, was sie emotional in all den Jahren womöglich versäumt haben: nah an sich selbst und an den eigenen Bedürfnissen zu sein. Das sich-Ducken, Biegen und Bücken hat hierzulande eine lange Tradition. Das schüttelt man nicht in ein paar Monaten ab.
Fürst Myschkin wird bei Dostojewski von den „doppelten Gedanken“ geplagt, wenn einander ausschließende Dinge gleichzeitig zutreffend sind. Dadurch wird er am Handeln gehindert. Handeln dagegen kann Rogoschin, der nur von einem einzigen Gedanken besessen ist: Nastassja Filippowna zu bekommen. Muss man auf „doppelte Gedanken“ verzichten, um handeln zu können? Oder kann man sich sowohl die „doppelten Gedanken“ als auch die Fähigkeit zum Handeln bewahren? Beim Schreiben geht das ganz gut, so ist dieser und sind andere Texte für mich ein Einüben im Handeln ohne Verzicht auf „doppelte Gedanken“. In der Psychotherapie spricht man von der Verengung des Wahrnehmungshorizonts in Krisensituationen. Einer der möglichen Behandlungswege wäre, den Wahrnehmungshorizont zu erweitern, vielleicht auch durch das Zulassen der eigenen „doppelten Gedanken“. Aus diesem Grund scheint mir die Rolle der Kunst und Literatur so wichtig. Nicht nur der direkten Protestkunst, die die Stimmung schafft, sondern auch der Kunst und Literatur als ein Labor, in dem das tiefe Erkunden des Menschlichen legitim ist.
Eine enge Freundin von mir ist gerade schwer krank. Die Medikamente wirken nicht, die Ärzte suchen seit Monaten nach Lösungen, es bleibt aber ungewiss, wie viel Zeit sie noch hat. Neulich telefonierten wir lange, es war ein sehr lebendiges Gespräch mit Weinen und Lachen. Irgendwann sagte sie, dass sie gar nicht weiß, wie sie sich auf den Tod vorbereiten, was sie denken und tun soll. Sie hätte immer gedacht, man könne das Leben abschließen und jetzt sehe sie, dass das gar nicht geht. Ist denn nicht jedes Unwissen mit diesem letzten Unwissen verknüpft? Ist das womöglich der Grund, warum wir das Unwissen so oft mit Annahmen und Interpretationen zupflastern? Die Freundin sagt, wie wohltuend es ist, dass sie mir das sagen kann und ich ihr keine Ratschläge gebe. Im gemeinsamen Aushalten des Unwissens kommen wir uns sehr nahe.
Genau diese Erfahrung mache ich auch mit meinen Mitmenschen in Belarus. Die Gesellschaft in Belarus hat etwas ganz Wichtiges gewagt: eine Bewegung, ohne genau zu wissen, wohin sie führt. Eine Bewegung, die von der so wertvollen Erkenntnis über die Unzulässigkeit von Gewalt und Fälschungen getragen wird. Ich wünsche mir, dass diese Bewegung und somit die Offenheit möglichst lange anhalten, dass sie uns an Ikonen, Anführer*innen und Gruppendruck vorbeiführen, zu uns selbst und zu den in uns selbst gefundenen oder gewachsenen Werten, an denen wir uns orientieren können. Dann werde ich bestimmt zu dem Wir gehören, das gesiegt hat. Dann kann ich womöglich auch den Tagebuchtext veröffentlichen, ohne jemanden in seinem Optimismus zu stören.
CORONA, SELBSTORGANISATION UND POLITISIERUNG
Olga Dryndova
Seit dem Wahltag am 9. August 2020 erlebt Belarus eine politische Krise in einem Ausmaß, das das Land seit seiner Unabhängigkeit 1991 nicht gesehen hat. Noch zu Beginn des Jahres bestand kaum ein Zweifel daran, dass Präsident Alexander Lukaschenko für eine sechste Amtszeit „wiedergewählt“ werden würde. Eine breite und rasche Politisierung der Belarus*innen vor den Wahlen, gefolgt von den größten politischen Protesten in der Geschichte des Landes, überraschte Expert*innen, Politiker*innen und Belarus*innen selbst. Die öffentliche Unzufriedenheit kam jedoch nicht aus heiterem Himmel. Zur Revolution hat eine Reihe von langfristigen Gründen und kurzfristigen Auslösern geführt.
Eine schrittweise Politisierung der breiten Gesellschaft in den letzten Jahren wurde durch die anhaltende Pandemie und die unangemessene Reaktion des Staates darauf beschleunigt, was zu einer zunehmenden Selbstorganisation geführt hat. So wurden Solidarität, Selbstorganisation und Politisierung zu den drei Schlüsselwörtern des belarusischen Frühlings und Sommers im Jahr 2020.
Solidarität und Selbstorganisation
Belarus wurde Anfang 2020 für seine „Corona-Dissidenz“ plötzlich weltbekannt: Fußball- und Eishockeymeisterschaften der Profis wurden nicht ausgesetzt, die Staatsgrenzen blieben offen, eine Militärparade sowie ein landesweiter Subbotnik, also breit aufgezogene Arbeitseinsätze, fanden statt wie eh und je. Präsident Lukaschenko nannte das Coronavirus eine „Psychose“; seine Empfehlungen, gegen Covid-19 mit Wodka, Sauna, Eishockey oder Feldarbeit vorzugehen, sorgten weltweit für Schlagzeilen.
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