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und das populärste Video (das mit der Kakerlake) wurde von über einer Million Menschen gesehen.
Eine Pact-Umfrage aus dem Jahr 2018 zeigt, dass 80 Prozent der Belarus*innen nicht glaubten, Einfluss auf die Entscheidungen der nationalen und lokalen Behörden zu haben. Mit einem Blogger bekamen die Leute plötzlich das Gefühl, eine Stimme zu haben. Eine weitere Umfrage vom 2019 ergab, dass ein Mangel an Informationen einer der Hauptgründe für die politische Passivität der Belarus*innen war. Auch diesen Mangel hat der Blogger erfolgreich adressiert.
Letztendlich scheinen die stundenlangen Live-Streams während der Unterschriftensammlungen und Solidaritätsketten vor den Wahlen, die von nichtstaatlichen Medien übertragen wurden, sowie Interviews mit Menschen, die in Warteschlangen warteten, um „gegen Lukaschenko“ zu unterschreiben, eine wichtige Rolle bei der Stärkung des Mehrheitsgefühls gespielt zu haben. Dank der Online-Medien hatten viele Belarus*innen womöglich zum ersten Mal das Gefühl, einer breiteren Bewegung bzw. einer Mehrheit anzugehören. Die Angst vor politischen Aktivitäten ist damit maßgeblich zurückgegangen.
Politische Ermächtigung
Dem Wahlkampf-Team von Babariko war es gelungen, das populäre Narrativ „Staatsmacht ist schlecht“ zu drehen auf „Menschen sind gut“. Das war eine attraktive Botschaft für die Belarus*innen, insbesondere angesichts der demütigenden Rhetorik von Lukaschenko während der Pandemie. Das Symbol von Babarikos Kampagne war ein Herz – ein starkes Zeichen von Empathie und Unterstützung.
Babariko versuchte, ein besseres Belarus in den Blick zu nehmen, einschließlich des politischen Systems: „Wir leben in einem eher (wenn auch anscheinend undemokratischen) guten (…) Land“ und: „Der Wille des Volkes kann nicht gefälscht werden“. Indem er die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit sowie das Selbstbewusstsein und die Verantwortung der Bürger*innen in einem autokratischen Staat betonte, versuchte er die „Spielregeln“ zu ändern: Nicht „Behörden fälschen die Wahlen“, sondern „die Belarus*innen sind klug genug, das zu verhindern“.
Das „Frauentrio“ hat diese Message konsequent in ihre gemeinsame Kampagne übernommen. Die Frauen waren authentisch, erzählten persönliche Geschichten, sprachen über Liebe und Empathie, baten die Menschen, an sich selbst zu glauben, und waren selbst ein lebendiges Beispiel dafür. Menschen skandierten bei ihren Kundgebungen: „Ich – kann – alles – ändern!” Der traditionelle Slogan der Opposition „Wir glauben, wir können, wir werden gewinnen“ klang nun manchmal so: „Wir lieben, wir können, wir werden gewinnen“. So wurde eine kritische Masse von Belarus*innen zur Wahlbeobachtung und Wahlbeteiligung mobilisiert. Sogar ihre „Bewusstseinsaufrufe“ an die Mitglieder der Wahlkommissionen funktionierte: Bei etwa hundert Wahllokalen wurden die Stimmen tatsächlich richtig gezählt.
Frauenpower
Was von vielen als „weibliche Revolution“ bezeichnet wird, war ursprünglich nicht als solche geplant. Es wäre auch falsch zu sagen, dass das weibliche Element das wichtigste war, das Menschen drei Wochen vor den Wahlen so stark mobilisierte. Die Belarus*innen waren bereits vor den Wahlen politisiert und weitgehend einig gegen Lukaschenko. In diesem Sinne war es eine Protestwählerschaft, die bereit war, für jede starke Persönlichkeit zu stimmen, die sich gegen den amtierenden Präsidenten stellte.
Durch die Verhinderung von drei populären Kandidaten wurde Swetlana Tichanowskaja zur „letzten Hoffnung auf Veränderung“. Veränderung bedeutete dabei vor allem ein Ende der Repressionen und neue faire Wahlen. Und genau das versprach Tichanowskaja: Sollte sie gewinnen, würde sie innerhalb von sechs Monaten neue Wahlen initiieren. Sie sah sich also als Übergangskandidatin.
Swetlana Tichanowskaja hatte nie vor, in die Politik zu gehen, sie kümmerte sich um ihre Kinder, nachdem sie früher als Dolmetscherin aus dem Englischen gearbeitet hatte. In ihren Reden konzentrierte sie sich auf Familienwerte, Kinder und Liebe und betonte immer wieder, dass ihr verhafteter Ehemann Sergej ursprünglich der Hauptgrund für ihr politisches Engagement gewesen sei. Mit der Zeit stand sie jedoch nicht nur für seine Freiheit, sondern auch für die Freiheit aller Belarus*innen. Sie sah sich zwar als schwache und „einfache“ Frau, wurde allerdings nach Wochen voller Kundgebungen vor den Wahlen immer stärker. Wenn alles vorbei sei, würde sie wieder „ihre Bouletten braten“, sagte sie. Ihre Ansichten änderten sich auch nach den Wahlen nicht, als sie Belarus verlassen musste und zu einer international bekannten Oppositionsfigur wurde.
Maria Kolesnikowa war dazu in gewisser Weise der Antipode – sie sah sich als freie Weltbürgerin und erwähnte in ihren Interviews den Wert des Feminismus. Sie hatte eine erfolgreiche Karriere im Kreativbereich und arbeitete als Musikerin und Artdirektorin. Die gebürtige Belarusin lebte und arbeitete lange Zeit in Deutschland und anderen europäischen Staaten und lernte die Werte von Demokratie und Freiheit in der Praxis kennen. Sie wurde bereits im Team von Babariko sichtbar: Ihre Botschaften („Wir sind legitim!“, „Belarusen, ihr seid unglaublich!“) erreichten eine breite Öffentlichkeit. Von den drei Frauen war sie die einzige, die nach den Wahlen in Belarus blieb und sogar ihren Pass zerriss, als Geheimdienste versuchten, sie außer Landes zu schaffen, was zu ihrer Verhaftung führte.
Veronika Zepkalo galt als Kombination aus beiden Elementen: eine selbstbewusste, erfolgreiche Managerin bei Microsoft, eine liebevolle Frau und Mutter. Bei der ersten gemeinsamen Pressekonferenz machte sie deutlich, dass die belarusische Verfassung auch für Frauen geschrieben sei und dass Frauen in Belarus Männern gleichgestellt seien. Diese Aussage war eine deutliche Antwort an Lukaschenko, der das Gegenteil insinuiert hatte. Gleichzeitig unterstützte sie Swetlana Tichanowskaja als Mutter und Ehefrau – so sah für sie „Frauensolidarität“ aus. Schließlich betonte sie in ihren Interviews, es gebe nur einen Politiker in ihrer Familie, und das sei ihr Ehemann Valeri Zepkalo.
Diese Kombination von traditionellen und feministischen Werten in den Botschaften des „Frauentrios“ spielte offensichtlich eine wichtige Rolle für ihre breite Popularität, weil sehr unterschiedliche Zielgruppen damit angesprochen wurden. Die schüchterne und liebevolle Tichanowskaja war ein perfekter Prototyp für einen erheblichen Teil der Belarus*innen, die eher traditionelle Werte teilten – sie wurde eine Art „politisches Aschenputtel“. Menschen unterstützten sie aus Solidarität, Mitgefühl und Bewunderung für ihren Mut.
Gleichzeitig kamen feministische Botschaften von Kolesnikowa und die aufbauenden Reden von Zepkalo bei den Anhänger*innen der Frauenpower gut an. Patriarchalische Hierarchien und Sexismus sind in Belarus sehr präsent – sowohl im öffentlichen Raum als auch am Arbeitsplatz oder zu Hause. Frauen sind ständig geschlechtsspezifischen Stereotypen und Diskriminierungen ausgesetzt. Belarusische Frauen scheinen allerdings laut jüngsten Umfragen weniger patriarchalisch geprägt zu sein als Männer. Das „Frauentrio“ gab ihnen eine Chance, sich selbst und ihre eigenen Stärken besser kennenzulernen, es motivierte tausende Belarusinnen zu friedlichen Frauenprotesten nach den Wahlen.
Schlusswort: Menschenrechte
Wahlfälschungen und Repressionen kannte Belarus auch früher schon; nie zuvor allerdings traf die staatlich sanktioniere brutale Repression so viele Menschen persönlich oder über ihre Bekanntenkreise. Menschen sahen mit eigenen Augen, warum faire Wahlen wichtig sind und warum Menschenrechte geachtet werden müssen.
Dabei hatte eine Pact-Studie von 2017 gezeigt, dass die Befragten die Achtung der Menschenrechte, des menschlichen Lebens und der individuellen Freiheit für sich selbst als doppelt so wichtig eingeschätzt hatten wie für die Gesellschaft insgesamt. Das heißt, die Belarus*innen glaubten damals, dass diese Werte für andere Menschen nicht so wichtig waren wie für sie selber. Solidarität und Politisierung haben diese Trennlinien zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft nun verwischt.
BELARUS ALS FRAU UND DIE FRAUEN VON BELARUS
Ein Selbstbild der Nation
Marina Scharlaj
Belarus – jana maja. Belarus ist weiblich. Eine Plakatlosung setzt ein