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Expertenkreisen und überhaupt einem beträchtlichen Teil der Gesellschaft. Es wurde deutlich, die Belarus*innen glaubten nicht an die Fähigkeit des Staates, die Epidemie zu bekämpfen, sie initiierten selbst die sogenannte „Volksquarantäne“. Menschen arbeiteten nach Möglichkeit von zu Hause, beschränkten ihre sozialen Kontakte und machten die anderen auf das Virus aufmerksam. Petitionen für die Einführung einer Quarantäne wurden initiiert, während Fans führender Fußballvereine die Spiele boykottierten. Medizinisches Personal veröffentlichte selbsterstellte Informationsvideos im Internet.
Eine der wohl größten Spendenaktionen in der belarusischen Geschichte – Bycovid19 – versorgte Krankenhäuser mit der notwendigen Ausrüstung, die dank Privat- und Firmenspenden gekauft wurde (250.000 US-Dollar wurden in den ersten eineinhalb Monaten gesammelt). Die Kampagne vereinte Privatpersonen, zivilgesellschaftliche Gruppen, Unternehmen, die Gesundheits- und Außenministerien und sogar die belarusische Diaspora. Diese einzigartige Solidaritätswelle wurde später in die Wahlkampagne „übertragen“. Als ein Notarzt, der die Covid-19-Maßnahmen des Staates kritisierte, entlassen wurde, sammelten Belarus*innen innerhalb von 24 Stunden seinen Jahreslohn (etwa 5.400 US-Dollar) über Crowdfunding. Nach den Wahlen engagierten sich Freiwillige für neue Spendeninitiativen – dieses Mal für Opfer von Polizeigewalt und weiterer Repressionen sowie für Menschen, denen gekündigt wurde, weil sie zur Unterstützung von Protesten in den Streik getreten waren oder aus Protest selbst gekündigt hatten. In nur wenigen Tagen wurden für solche Zwecke online über zwei Millionen US-Dollar gesammelt.
Witz und Ironie wurden zu einem wichtigen Bestandteil der Solidarität und des Widerstands. Als Reaktion auf die Aussagen des Präsidenten über Corona-Opfer („Warum läufst du durch die Straßen, wenn du morgen 80 Jahre alt wirst?“), starteten Belarus*innen einen Flashmob mit dem Titel „Letztes Wort des Präsidenten“ – sie veröffentlichten im Namen des Präsidenten Nachrufe für sich selbst, als wären sie an Covid-19 gestorben.
„Sascha 3%“ wurde zum bekanntesten Slogan gegen Lukaschenko in diesem Frühling und Sommer (Sascha als Kurzform von „Alexander“). So reagierte die Gesellschaft, einschließlich einiger Unternehmen, auf das Verbot von inoffiziellen Online-Umfragen; die hatten ergeben, dass die Unterstützung für den Präsidenten zwischen drei und sechs Prozent lag. Wahrscheinlich spiegelten diese Zahlen die Realität nicht ganz wider – anderen Erhebungen staatlicher Soziologen zufolge lag das Vertrauensniveau gegenüber dem Präsidenten in Minsk im April bei 24 Prozent. Dennoch zerstörte der 3%-Slogan die Idee ungebrochener Legitimität des Präsidenten und zeigte die Respektlosigkeit eines erheblichen Teils der Gesellschaft ihm gegenüber. Ein weiteres Beispiel ist ein Slogan des Bloggers Sergej Tichanowski „Stop Kakerlake!“. Er wurde spontan aus einer emotionalen Rede einer Bürgerin übernommen, die den Präsidenten mit einem Insekt verglich – dieses Video kam schnell auf über eine Million Aufrufe auf Youtube.
Die belarusische Gesellschaft war für ihre paternalistische Einstellung bekannt, also auch für die Erwartung, dass der Staat eine wichtige Rolle in der Wirtschaft und im sozialen Leben übernimmt. Die rasche Zunahme von Formen der Selbstorganisation zeigt ein anderes Bild: Jüngste Umfragen bestätigen, dass bereits über 60 Prozent der Belarus*innen paternalistischen Formen nicht mehr viel abgewinnen können, während eine Mehrheit in Fragen des Welfare, der Bildung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigung dazu tendiert, eher auf sich selbst zu vertrauen.
Der Grad der Selbstorganisation war allerdings noch im Jahr 2017 sehr gering: Nur fünf Prozent der Bürger*innen brachten einer Umfrage des Zentrums CET zufolge Erfahrung mit informellen Aktionen und Initiativen mit. Umso mehr überrascht die beispiellose Selbstorganisation der Belarus*innen vor und nach den Wahlen von 2020. Die Solidaritätswelle im Frühjahr schenkte den Menschen offenbar eine Erfahrung von „kleinen Siegen“, die ihr Vertrauen in sich und andere stärkte.
Der Niedergang des Paternalismus im Land geht mit einem geringen Vertrauen in die Behörden einher. Laut einer Umfrage von 2017 – 2018 (durch das Projekt BIPART der School of Young Managers in Public Administration) vertrauten nur etwa 40 Prozent der Menschen der Regierung, nur 34 Prozent den Ministerien und 33 Prozent den lokalen Behörden, während über 64 Prozent Politiker*innen und Beamt*innen generell nicht vertrauten. Aber auch das allgemeine Vertrauensniveau in der Gesellschaft war 2018 noch recht gering – nur leicht über die Hälfte der Befragten zeigten Vertrauen gegenüber den eigenen Mitbürger*innen. Das Jahr 2020 hat das wesentlich verändert.
Auch in anderen postsowjetischen Autokratien haben fehlende wirksame staatliche Maßnahmen gegen die Pandemie zur Aktivierung von Bürgergruppen geführt. In Belarus haben diese Entwicklungen allerdings den Wahlprozess erheblich beeinflusst – diese „ausgeübte“ Solidarität und das neue Vertrauen zu Mitbürger*innen trugen ohne Zweifel zur gegenwärtigen Politisierungswelle in der belarusischen Gesellschaft bei.
Politisierung der Gesellschaft
Die während der Pandemie wachsende Politisierung breiter Bevölkerungsschichten wurde mit der Wahlkampagne ab Mai intensiviert. Man konnte plötzlich einen Aktivitätsschub bei den Bürger*innen beobachten, und die Wahlkampagne wurde überraschend sowohl für Belarus*innen als auch für internationale Betrachter zu einer Art „Reality-Show“.
Eine Rekordzahl von 55 Initiativgruppen reichte Anträge ein, um Kandidat*innen für die Präsidentschaftswahl zu nominieren. Der frühere Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, konnte in nur einer Woche fast 9.000 Freiwillige für seine Initiativgruppe online rekrutieren. Zum Vergleich: Präsident Lukaschenko konnte mit seinen enormen Ressourcen rund 11.000 Personen registrieren. In einem Monat (21. Mai – 19. Juni) waren landesweit über 127.000 Menschen an der Sammlung von Unterschriften für potenzielle Kandidat*innen beteiligt; ein großer Teil davon, wenn nicht die Mehrheit, war vorher nie politisch aktiv gewesen.
Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Altersgruppen standen landesweit in endlosen Warteschlangen, um ihre Unterschriften für alternative Kandidat*innen abzugeben. So kam die damals unbekannte Swetlana Tichanowskaja, die an Stelle ihres verhafteten Mannes, des bekannten Youtube-Bloggers Sergej Tichanowski kandidieren wollte, auf über 100.000 Unterschriften. Viele wussten nicht einmal, wie sie hieß oder wo sie arbeitete – Menschen unterzeichneten aus Solidarität und aus Protest gegen Lukaschenko.
Aus diesen Warteschlangen wurden nach der Inhaftierung von Viktor Babariko, dem bis dahin wichtigsten Konkurrenten für Lukaschenko, die spontanen Solidaritätsketten von Menschen im ganzen Land. Als am 15. Juli keiner der populären Alternativkandidaten für die Wahlen registriert wurde, rief das Wahlteam von Babariko Belarus*innen dazu auf, Beschwerden bei der Zentralen Wahlkommission einzureichen – am nächsten Tag bildete sich vor dem Gebäude der Wahlkommission in Minsk eine mehrere Kilometer lange Schlange. Es wurden über 5.000 Beschwerden eingereicht – ein für Belarus einzigartiger Grad politischer Aktivität.
Das spontan und aus Not gebildete, aber sofort populär gewordene „Frauentrio“ Tichanowskaja, Kolesnikowa und Zepkalo besuchte innerhalb von drei Wochen 13 Städte und zog bei ihren Kundgebungen in den Regionen bis zu fünf Prozent der Bevölkerung an – eine unerhörte Zahl für die traditionell passiven belarusischen Wähler*innen. In Minsk fand am 30. Juli die größte Wahlkundgebung in der belarusischen Geschichte statt, die von 60.000 bis 70.000 Menschen besucht wurde. Die drei Frauen wurden wie Rockstars behandelt: Menschen fragten sie nach Autogrammen und Bildern, zeichneten Gemälde mit ihnen, trugen Kleidung mit den Triosymbolen und sangen mit ihnen die Oppositionshymne Mury (Mauern).
Auch zur Wahlbeobachtung wurden Belarus*innen mobilisiert wie nie zuvor: In den ersten fünf Tagen nach der Ankündigung der Wahlbeobachtungsinitiative des Teams Babariko bewarben sich rund 5.000 Menschen, und bis zu den Wahlen stieg diese Zahl auf fast 10.000. Dazu kamen Kampagnen der Menschenrechtsorganisationen. So kam es letztendlich zu den schon zur „Tradition“ gewordenen Warteschlangen auch am Wahltag – sowohl in Belarus als auch im Ausland vor den Botschaften. Eine derart hohe Wahlbeteiligung hatte Belarus noch nie erlebt.
Damit sind Solidaritätsketten und Warteschlangen in gewisser Weise zum Symbol der Präsidentschaftswahlen 2020 geworden. Und diese Tradition fand auch nach den Wahlen eine Art Fortsetzung: Frauen, Studierende,