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einen oder anderen Form Solidarität mit der Protestbewegung zeigten – so wollten die Belarus*innen sie zumindest finanziell unterstützen.

      Auflösung des „Gesellschaftsvertrags“

      Die Legitimität von Lukaschenko beruhte über viele Jahre auf einem sogenannten „Gesellschaftsvertrag“: Der Staat sorgte für relativ stabilen Wohlstand und für Sicherheit (geringe Kriminalität und keine kriegerischen Konflikte), während die meisten Belarus*innen politisch inaktiv bleiben und den Status quo unterstützen sollten. Um diesen ungeschriebenen Vertrag stand es allerdings bereits seit mehreren Jahren schlecht und schlechter.

      Bereits 2017 kam es zu landesweiten Protesten gegen eine jährliche „Sozialparasitensteuer“. Die neue Steuer war so hoch wie ein durchschnittlicher Monatslohn und sollte für Bürger*innen gelten, die in den letzten sechs Monaten nicht gearbeitet hatten und daher keine Einkommenssteuer entrichteten. Ein weiteres Beispiel: In Brest, einem der regionalen Zentren des Landes, versammelten sich seit über zweieinhalb Jahren jeden Sonntag Menschen in der Innenstadt, um gegen eine neue, offenkundig gesundheitsschädliche Batteriefabrik in der Nähe der Stadt zu protestieren. Die Dauer dieser Proteste ist für Belarus beispiellos. Umfragen haben gezeigt, dass der Anteil der Anhänger*innen von Lukaschenko unter Rentner*innen, Landbevölkerung und „normalen“ Bürger*innen von 68 Prozent im Jahr 2006 auf 32 Prozent im Jahr 2016 gesunken war, eine Halbierung innerhalb von zehn Jahren. Die Pandemie beschleunigte schließlich die Auflösung des „Gesellschaftsvertrags“.

      Wirtschaftliches Wohlergehen

      Die Covid-19-Pandemie hat die Volkswirtschaften weltweit getroffen, Belarus ist hier keine Ausnahme. Im April 2020 prognostizierte der Internationale Währungsfonds für Belarus einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 6 Prozent für das laufende Jahr; im Jahr 2019 lag das Wachstum noch bei 1,2 Prozent. Online-Umfragen bestätigten, dass sich die Wohlstandswahrnehmung der Belarus*innen im Frühjahr erheblich verschlechterte. Nach einer Untersuchung der Institute SATIO / BEROC verzeichneten 45 Prozent der Befragten im März und 52 Prozent im April einen Einkommensrückgang, während fast die Hälfte der Befragten in naher Zukunft einen starken wirtschaftlichen Einbruch erwartete. Innerhalb eines Monats verdoppelte sich der Anteil der Menschen, die Angst vor Arbeitslosigkeit äußerten, von 20 Prozent im März auf 40 Prozent im April. Jeder fünfte Befragte kannte jemanden, der den Job bereits verloren hatte. Insgesamt wuchs der Anteil der Belarus*innen, die ihre Wirtschaftssituation als schlecht einschätzten, von 38 Prozent Ende 2019 auf 61 Prozent im März 2020 – der größte Anstieg in 20 Jahren.

      Corona und die Arroganz des Präsidenten

      Trotzdem hätten wirtschaftliche Faktoren allein kaum ausgereicht, um diese neue Welle der Politisierung auszulösen. Die Belarus*innen sind es gewohnt, unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen zu leben. Die miserable Kommunikation des Staates während der Pandemie trug wesentlich zur Politisierung der Bevölkerung bei.

      Informationen des Gesundheitsministeriums wurden der Öffentlichkeit nicht regelmäßig zugänglich gemacht, stimmten nicht immer mit den Zahlen des Präsidenten überein und wurden oft in eher arrogantem Ton verbreitet. Auf Anfragen nach Informationen über die Anzahl der Pandemieopfer beim medizinischen Personal etwa reagierten zuständige Beamt*innen mit der Frage: „Und wozu brauchen Sie diese Statistiken?“

      Die größte Kluft zwischen Staat und Bevölkerung wurde jedoch womöglich vom Präsidenten selbst verursacht, der während der Pandemie einen markanten Mangel an menschlichem Einfühlungsvermögen und eine überraschende Arroganz an den Tag legte. Seine aggressive Sprache ließ nur wenige soziale Gruppen aus. Sie traf Corona-Opfer („Wie kann man mit einem Gewicht von 135 Kg leben?“), medizinisches Personal (das es nicht geschafft hätte, eine Selbstinfektion zu vermeiden), Arbeitslose („Haben Sie einen Job verloren? Finde Sie einen neuen!“), Unternehmer („Niemand wird für Euch Geld aus Hubschraubern abwerfen!“).

      Umfragen bestätigten die hohe Unzufriedenheit der Belarus*innen. Laut einer internationalen Erhebung vom März / April bewerteten 86 Prozent der Befragten die Reaktion ihrer Regierung auf Covid-19 als äußerst unzureichend. Das war das zweitschlechteste Ergebnis von 58 beteiligten Staaten nach der Türkei. Auch das Vertrauen der Bevölkerung in offizielle Informationen zu Covid-19 im März / April war im Vergleich zu anderen Staaten sehr gering. Die Lage wurde öffentlich sogar mit der verantwortungslosen Informationspolitik der sowjetischen Behörden nach der Explosion von Tschernobyl 1986 verglichen. Die Zeit hat gezeigt, dass die Sorgen der Belarus*innen nicht unbegründet waren. Obwohl die offiziell von den Behörden genannten Corona-Sterblichkeitsraten in Belarus weltweit zu den niedrigsten gehören, starben nach Daten der Vereinten Nationen allein im Zeitraum April bis Juni im Land etwa 5.600 Menschen mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres (offiziell sind in Belarus insgesamt nur 937 Menschen wegen Corona verstorben; Stand: 21. Oktober 2020).

      Die „neue Opposition“ und ihre Botschaften

      Die neuen Gesichter in der belarusischen Politik scheinen zur richtigen Zeit und am richtigen Ort aufgetaucht zu sein. Keine der neuen Figuren stammt aus der traditionellen Parteiopposition, die in Belarus weder bekannt noch beliebt ist. Noch dazu konzentrierten sie sich auf ganz unterschiedliche soziale Gruppen und konnten dadurch eine hohe Zahl unzufriedener Menschen erreichen.

      Die beiden nicht zugelassenen Kandidaten, der Ex-Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, und der Ex-Leiter des Belarus Hi-Tech Parks, Valeri Zepkalo, zielten auf eine eher gemäßigte Wählerschaft. Ihre Zielgruppe war vermutlich oft besser ausgebildet, verfügte über internationale Erfahrung und war mit aktuellen Entwicklungen im Land nicht zufrieden, strebte nach liberalen Reformen und hatte Lukaschenko und sein ineffizientes Staatssystem einfach satt.

      Youtube-Blogger Sergej Tichanowski adressierte eine radikalere Anhängerschaft. Diese Menschen lebten hauptsächlich in den Regionen außerhalb der Hauptstadt, waren ärmer, konnten keinen guten Job finden, waren es müde, es ständig mit der Unverschämtheit der lokalen Behörden zu tun zu haben, und sie waren wütend auf Lukaschenko persönlich, nicht zuletzt wegen dessen Rhetorik während der Pandemie. Diese unterschiedlichen sozialen Gruppen hatten im Alltag nicht unbedingt viel miteinander zu tun, aber ihr Streben nach Veränderung und ihre Opposition gegen den Präsidenten fand unter dem Motto zusammen: „Jede*r außer einem“.

      Dieses Motto erwies sich als ausgesprochen gelungen, als Swetlana Tichanowskaja mit dem spontanen „Frauentrio“ nur drei Wochen vor den Wahlen plötzlich zur nationalen Heldin wurde. Die drei Frauen standen nun für drei populäre männliche Figuren, nachdem diese nicht zur Wahl zugelassen wurden: Swetlana Tichanowskaja anstelle von Sergej Tichanowski, Veronika Zepkalo anstelle von Valeri Zepkalo und Maria Kolesnikowa anstelle von Viktor Babariko. Durch die Vereinigung der drei Teams holten die Frauen ein Maximum aus ihrer Wahlkampagne heraus, indem sie die Zielgruppen aller drei Kandidaten erreichten.

      Die Macht der Online-Medien

      Online-Medien wie Youtube und andere soziale Medien (insbesondere der Instant Messenger Telegram) spielten eine wichtige Rolle bei der jüngsten Politisierung der belarusischen Gesellschaft. Der Anteil der Menschen, die Informationen aus alternativen Online-Quellen erhielten, stieg von 24 Prozent im Jahr 2010 auf 60 Prozent im Jahr 2018. Gleichzeitig sank das Vertrauen in die staatlichen Medien (vor allem das Fernsehen) bereits seit Jahren. Soziale Netzwerke waren 2019 für fast 28 Prozent der Befragten eine regelmäßige Quelle für Nachrichten. Diese Zahl wuchs wahrscheinlich direkt vor den Präsidentschaftswahlen noch, da schnell entstehende nationale, lokale und Nachbarschafts-Telegramkanäle zu wichtigen Plattformen für Informationsaustausch und politische Selbstorganisation wurden. Überhaupt steigt die Zahl der Online-Medien-Nutzer*innen weiter an und belief sich 2019 auf mehr als 79 Prozent der Bevölkerung – damit lag Belarus weit über dem weltweiten Durchschnitt von 53 Prozent.

      Auf diese Tendenzen ging der Blogger Tichanowski ein. Er nutzte Youtube, um die Interessen der „einfachen“ Menschen aus der belarusischen Provinz bekannt zu machen. Er reiste durch das Land, traf die Menschen persönlich,


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