BELARUS!. Группа авторов

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von Frauen, die nach dem Wahlergebnis und vier Nächten der Gewalt gegen Männer auf die Straße gingen. In Weiß gekleidet, mit Blumen und mitten am Tag stellten sie sich – im starken Kontrast – den schwarz vermummten Polizisten der OMON-Einheit.

      Zu Symbolfiguren des Widerstandes wurden viele: die Hausfrau Swetlana Tichanowskaja, die Flötistin Maria Kolesnikowa, die Rentnerin Nina Baginskaja, die Malerin Nadzja Sajapina, die Sportlerin Alena Leŭčanka, die Bikerin Jana … Die Gesichter dieser Frauen wurden und werden auf Plakaten und Flugblättern, auf T-Shirts, in sozialen Netzwerken, Graffiti und anderen Formen von Street-Art abgebildet. Eine der ersten Ikonen des Protests ist förmlich ein Frauenbild – Chaim Soutines Gemälde „Eva“. Das bekannte Porträt wurde von der Regierung aus der Kunstsammlung des inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko konfisziert und daraufhin von den kritisch gesinnten Kulturschaffenden mehrfach reproduziert. So war Soutines „Eva“ hinter Gittern, im Sträflingsanzug, mit Victory-Zeichen oder auch mit einem rotlackierten Stinkefinger zu sehen. Wenig später, als der Protest breite Massen erreichte, tauchte im Belarusischen der Neologismus Evaliucyja auf. Und er trifft den Kern. Er steht für einen weiblich initiierten, betont friedlichen, ausgesprochen solidarischen und durchaus kreativen Protest. Für einen Protest, der vielleicht noch nicht als eine Revolution (revaliucyja) bezeichnet werden kann, und dennoch nicht weit davon entfernt ist. Fakt ist: Unabhängig vom Ausgang der aktuellen Ereignisse geht dieser Protest in die Geschichte ein.

      Dabei wurde die Geschichte von Belarus bisher vorwiegend von Männern geschrieben. Nur wenige Frauen, wie etwa Fürstin Rahnieda, die Aufklärerin Euphrosyne von Polack oder die Schriftstellerin Franciška Uršula Radzivill finden in Lehrbüchern als berühmte Persönlichkeiten der weit zurückliegenden Vergangenheit Erwähnung. In der neueren Geschichte sind sie eher unsichtbar. Die Unsichtbarkeit von Frauen in gesellschaftspolitischen Diskursen ist kein spezifisch belarusisches Phänomen. Das Besondere im Fall von Belarus ist eine lange Unsichtbarkeit der Titularnation als solcher. Die historische Zugehörigkeit zu mächtigeren Nachbarn führte dazu, dass die Belarus*innen unter anderem als „verspätete“ oder „defizitäre“ Nation, als ein „kleines“ Volk, und das von ihnen bewohnte Territorium als „weißer Fleck“ apostrophiert wurden. In literarischen, publizistischen und medialen Texten und nicht zuletzt auch im politischen Diskurs wurde die belarusische nationale Identität lange Zeit wenn nicht mit einer Null-Metaphorik ganz getilgt, so doch mit Inferioritätsmerkmalen attribuiert.

      Über die genannten Fremdzuschreibungen und Konnotationen hinaus sind bereits im Toponym Belarus zahlreiche Entwürfe eines nationalen Selbstbildes enthalten. Intellektuelle finden darin eine schicksalhafte Komponente und entfalten im Diskurs über das Belarusische wiederkehrende Motive und Mythologisierungen: ein „weißes“, unerforschtes Gebiet, Terra incognita, ein namenloses Land, ein Gespenst … Wird das Bild des Landes konkreter umrissen, so erscheint es als eine Gestalt, die von den Gepflogenheiten des Dorfes geprägt ist und in einem Sumpf zu versacken droht. Das Femininum Belarus lädt ferner geradezu dazu ein, es als eine Frau zu personifizieren. In das nationale Leidensnarrativ passt etwa die Allegorie einer Frau und Mutter, die immer wieder fremdgeht oder sexuell misshandelt wird:

       Спала з маскалём, / Спала з ляхам, / Ды была пастеллю мне плаха. / Спала з тваiм бацькам – лiцьвiнам, / А цяпер з табой – маiм сынам. (…) Паглядзi, з кiм спала Айчына!

      (Анатоль Сыс, „Песня пра жану“, 1993).

      Mit einem Moskal’ geschlafen, / mit einem Lachen (=Polen) geschlafen, / und war auch mit mir im Bett. / Mit deinem Vater, dem Litauer, geschlafen, / und jetzt schläft sie mit dir, meinem Sohn. (…). Schau nur, mit wem die Heimat geschlafen hat!

      (AnatoÍ Sys, „Lied über die Ehefrau“, 1993).

      Wie kein anderes Beispiel verdeutlicht das Gedicht von AnatoÍ Sys die Verknüpfung von Gendermustern und nationalen Identitätskonstruktionen: Die traditionelle Genderordnung wird auf andere Formen der Identitätsbildung projiziert. In der Geschichte, die als patrilineare Geschichte der Männer verstanden wird, gilt der Mann als prototypischer Vertreter einer Nation; die Position der Frau ist von der des Mannes abhängig. Die Konzeptualisierung der belarusischen Nation als Frau weist auf ihre Schwäche hin, wird mit dem „Weiblichen“ doch das Unentwickelte, Emotionale, Passiv-Inferiore und Passiv-Naturhafte konnotiert. Demgegenüber stehen die „männliche“ Stärke und Überlegenheit, das Aktiv-Geistige, Schöpferische und Rationale – die Eigenschaften, die im belarusischen Identitätsdiskurs zumeist den Nachbarstaaten zugeschrieben werden.

      Viel häufiger als das Bild der Dame minderen Gewichts ist in den diskursiven Identitätskonstruktionen allerdings das Madonnenbildnis anzutreffen. Im nationalen Selbstbeschreibungsmodell von Belarus kommt der Mutter eine außerordentlich positive Stellung zu. Das Licht der Mutter sei, wie es der Dichter Ryhor Baradulin („I ščyraść ichnjaja i laska“, 1987) beschreibt, mit dem Licht Gottes vergleichbar; es sei „geheimnisvoll“, „unendlich“ und „unfassbar tief“ – genauso wie die eigene Sprache und Heimat. Auch diese beiden Begriffe (mova und radzima, ebenfalls weiblichen Geschlechts) werden mit femininen Eigenschaften versehen. Die eigentliche Muttersprache, das Belarusische, besitzt zwar im nationalen Diskurs eine starke Identifikationskraft, wird aber lange Zeit als Dorfsprache abgestempelt. Als Sprache der Titularnation hat sie einen rein symbolischen Wert und steht im kommunikativen Alltag dem Russischen, dem Maskulinum jazyk, wesentlich nach. Dementsprechend wird die belarusische Sprache in der Personifizierung als Mutter mit den bekannten Klischees des Weiblichen, des Mütterlich-Seelenvollen, aber auch des Leidensfähigen und Rezeptiven konzeptualisiert. Im patriarchalen Weltbild hat sie oft keine Stimme. Die Belarus*innen, die statt die eigene Muttersprache zu gebrauchen, in ihr verstummen, die Sprache des „großen Bruders“ sprechen, gelten als „schweigende“ Nation schlechthin. Sie werden immer wieder zum Schweigen gebracht – in der jüngsten Geschichte vom Staatsapparat der eigenen Republik, an dessen Spitze ein „richtiger“ Mann, ein mužik stehe.

      Die Stilisierung von Alexander Lukaschenko als Vater der Nation (baćka) und „Herr im Haus“ ist im politischen und populär-kulturellen Kontext bekannt. Die offiziellen massenmedialen Inszenierungen rekurrieren nicht selten auf Genderkonstruktionen und Familienbezeichnungen und deuten auf ein Wertesystem hin, das von dezidiert männlichen und patriarchalen Eigenschaften geprägt ist. Der belarusische Staatschef, der sich gerne als alleinerziehender Vater in der Öffentlichkeit in Szene setzt und dabei die Gesellschaft junger Frauen ostentativ genießt, äußerte sich immer wieder zu den Vorzügen der traditionellen Genderordnung im eigenen Land.

      Ironischerweise war es wohl gerade dieser unentwegt vorgebrachte Sexismus, der die Frauen in der Politik nicht ernst nahm, sie unterschätzte, aber sie letztlich bestärkte und zu einem mächtigen Gegner werden ließ. Die Frauen, die im Sommer 2020 unverhofft die politische Bühne und später die Straßen und Plätze von Belarus betraten, sind in mehrfacher Hinsicht symbolhaft. Ihr Aufstand ist eine Auflehnung gegen Lukaschenkos Patriarchat, in dem Frauen dazu bestimmt sind, Kinder zu gebären und in der Küche am Herd zu sein. Ihr Aufstand steht aber auch für das Erwachen der Nation – einer vermeintlich „schwachen Frau“, die ihre eigene Courage neu entdeckt. Heute demonstriert der Staatsapparat seine Stärke, indem er friedliche Frauen wortwörtlich schlägt, in Gefangenentransporter zerrt und in Gefängniszellen einsperrt. Eine Metapher vermag es noch besser zu erfassen: In seinem Willen, an der Macht zu bleiben, spricht Lukaschenko von „seinem“ Land als der „Liebsten, die man nicht hergibt“. Ein staatlich organisiertes Frauenforum in der Minsk-Arena, bei dem der Machthaber vor Tausenden von Frauen Kampfbereitschaft verkündete und dabei ein Fest in sowjetischer Tradition abhalten ließ, krönte ein neues Lied mit gleichnamigen Titel („Ljubimuju ne otdajut“ / „Die Liebste gibt man nicht her“). Bezeichnend ist, dass es nicht nur auf Russisch, sondern auch von russischen Popstars mitgesungen wurde. Wie sehr eine solche „Liebe“ auf Gegenliebe des belarusischen Volkes trifft, ist mehr als fraglich. Die Regierung hält es jedenfalls nicht davon ab, dieses Lied ins Repertoire der Heimatsongs aufzunehmen, die aus den Lautsprechern


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