Das Erbe sind wir. Michael Meyen
ins Archiv geschickt werden und man selbst in ein Prüfungsverfahren mit ungewissem Ausgang?
Auf dem Podium wird nachher das Wort ›demütigend‹ fallen, ausgesprochen von Heike Schüler, die ein Buch über Erich John geschrieben hat, den Vater der Weltzeituhr auf dem Berliner Alexanderplatz, 1973 Designprofessor an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee und 1982 Gastprofessor in Columbus, Ohio.29 Heike Schüler sagt, sie habe viel mit Erich John gesprochen, auch über die Evaluierung natürlich.
»Deshalb weiß ich, wie schmerzhaft es ist, wenn Professoren, die über viele Jahre Studenten unterrichtet haben, sich einer Prüfung stellen müssen. Wenn angezweifelt wird, dass sie die Lehrbefähigung haben. Das ist schon krass. Meine ehemaligen Dozenten tun mir wirklich leid«.
WIE MAN IN DER DDR JOURNALISTIK-DOZENTIN WURDE
Sigrid Hoyer kenne ich inzwischen ein bisschen und weiß, dass sie sich nie auf so ein Podium setzen würde. Selbst in der Publikumsrolle ist Sigrid Hoyer heute »aufgewühlt«, wie sie das nennt, weil wir beide gerade in ihrem Gedächtnis gegraben haben, in einem langen Gespräch, das nun noch autorisiert werden muss und dabei vieles zurückgeholt hat und noch zurückholen wird, was verdrängt war, vergessen war. »Herr Meyen«, sagt sie, »ich bin jetzt doch dankbar. Ich werde endlich damit abschließen können«. Sie hat sich lange dagegen gesträubt, dieses Interview zu führen. Ich werde noch bis Anfang Februar auf das Manuskript warten und es vielleicht überhaupt nur bekommen, weil uns die Herkunft verbindet. Wir sind beide an der Ostsee aufgewachsen, haben bei der gleichen Zeitung angefangen und den Draht nach Norden nie gekappt. Das darf man nicht unterschätzen in einer Stadt wie Leipzig, in der sich die Einheimischen zuerst an der Sprache erkennen.
Sigrid Hoyer ist fünf Jahre jünger als Karl-Heinz Röhr. Geboren 1940 in Demmin, Abitur an der Hansaschule in Stralsund, in der Stadt, kein Scherz, als »Rotes Kloster verrufen«.30 Sie war gut im Unterricht und mochte die neuen Lehrer, die aus Potsdam direkt von der Hochschule kamen, weil die alten »scharenweise in den Westen« gegangen waren und dem NWDR Stoff für Berichte geliefert hatten. In Deutsch gab es jetzt Brecht. 1957 saß Sigrid in einem der ersten Freundschaftszüge in die Sowjetunion. Das schreibt sich heute so leicht hin, wo die Teenager schon über alle Weltmeere geflogen sind. In der DDR gab es damals Brot und Fleisch auf Marken, genau wie Kartoffeln und Kohlen. Das Leben eines Mädchens wie Sigrid spielte zwischen Barth, wo die Großeltern wohnten, und Stralsund. Auslandsreisen waren im Drehbuch nicht vorgesehen. Als kleines Mädchen war sie mit der Mutter einmal in Bydgoszcz gewesen, wo der Vater mit seiner Einheit stationiert war, und einmal in Bad Neuenahr, wo er dann im Lazarett lag. Als sie 1957 aus der Sowjetunion zurückkam und in Velgast ausstieg, sagt Sigrid Hoyer heute, »dachte ich, ich komme vom Mond«.
Daheim auf Erden hörte der Opa, ein Schumacher, den Rias. Er mochte die DDR nicht, aber seine kleine Enkelin. Zur Einschulung hat er ihr einen Ranzen gemacht, und sie war die einzige, die Lederschuhe trug. Später rief er Sigrid, »wenn im Radio eine Reportage aus dem Ausland lief«. Sowas musst du auch mal machen, Kind. In Stralsund gab es kein Funkhaus. Also Reporterin für die Kreisredaktion der Ostsee-Zeitung. Sigrid Hoyer weiß noch mehr als 60 Jahre später, dass der Lokalredakteur Dieter Lander hieß. »Ihm verdanke ich viele gute Ratschläge«. Sie war dabei, wenn sich die Volkskorrespondenten trafen, und hat einmal sogar über die Ostseerundfahrt berichten dürfen. Egon Adler, Erich Hagen, Täve Schur. Die Helden der neuen Zeit fuhren Fahrrad.
Der Test für das Studium in Leipzig war in Berlin, im Haus der Presse an der Friedrichstraße. Auch hier gibt es einen Erinnerungsfetzen. Bruno Apitz, Nackt unter Wölfen. Das Buch ist 1958 erschienen, ein Jahr vor der Abiturprüfung von Sigrid Hoyer, die noch Sigrid Mahlow hieß. Die Geschichte vom Kleinkind, das im KZ Buchenwald überlebt, weil Kommunisten ihr Leben riskieren und es im Zweifel auch opfern, gehört genauso zur DDR wie die Ritter der holprigen Landstraßen um Täve Schur. Vielleicht hat sich Sigrid Mahlow selbst in diesem Lagerkind gesehen. Sie ist in diesem Alter in Demmin oft »halb angezogen ins Bett« gegangen, »an der Tür griffbereit ein kleiner Koffer mit dem Wichtigsten«. Wenn die Sirene losheulte, ging es mit der Mutter in den Luftschutzkeller, direkt »neben den Benzintanks einer Autowerkstatt«. Bei der Oma in Barth gab es Ruhe und »Butterschnitten mit selbstgemachter Blaubeermarmelade«, aber für diesen Genuss waren 70 Kilometer Fußmarsch nötig, über Grimmen und Stralsund, mit Übernachtungen in Scheunen oder bei Verwandten. Es war nicht schwer, Nackt unter Wölfen zu loben. »Ich wollte unbedingt Journalistin werden und habe das offensichtlich auch vermittelt«.
Das Aufnahmegespräch in Berlin war das eine, das Braunkohlejahr in Laubusch bei Hoyerswerda das andere. Eine Wohnung zu dritt, dort, wo wenig später Brigitte Reimann aufschlagen und der Ankunfts-Generation ein Denkmal setzen würde.31 Drei Pressemädels unter Arbeitern. Sigrid Mahlow kam in eine Schlosserbrigade und hat Zahnräder befeilt. Sie träumte davon, auf einem Bagger zu sitzen, aber der Körper war vernünftiger als der Kopf. Erst die Hände, dann die Wirbelsäule. Der Betriebsarzt schickte sie zurück nach Stralsund. Damit Sigrid Mahlow mit denen studieren konnte, die sie in der Braunkohle kennengelernt hatte, ging sie für ein Jahr zur Volksstimme nach Karl-Marx-Stadt und arbeitete dort auch kurz in Flöha, wo meine Frau ein Vierteljahrhundert später erst Jugendkorrespondentin war und dann Volontärin. »Ein schönes Jahr«, sagt Sigrid Hoyer heute. »Keine bedrückenden Vorgaben«, weder bei der Recherche noch beim Schreiben.
Die beiden Mitbewohnerinnen aus Hoyerswerda sind dann doch nicht in Leipzig erschienen. Der Weg von der Schulbank an die Universität war im Wortsinn weit. Die Prüfung in Berlin, die Kohle, das Vorpraktikum. Die Redaktionen waren froh, wenn jemand das Handwerk beherrschte, und lockten mit festen Stellen. Der Westen lockte sowieso. Und die Genossen machten es niemandem leicht. Bevor das Studium im Herbst 1961 losging, musste Sigrid Mahlow zum Kartoffeleinsatz, nach Lebien, ein paar Kilometer südöstlich von Wittenberg. Die Junge Welt, Zeitung der Freien Deutschen Jugend, hatte gerade die Aktion »Blitz kontra NATO-Sender« gestartet. Losung: »Der Bonner Strauß darf in kein Haus! Alle sehen und hören die Sender des Sozialismus!«32 Der Spuk war zwar schon nach vier Tagen wieder vorbei, weil sich bei den Verantwortlichen in Berlin die Beschwerden stapelten über FDJ-Brigaden, die Antennen abrissen und Wohnungstüren beschmierten, an der Fakultät für Journalistik in Leipzig aber kam das offenbar nicht sofort an. Die Studenten, die gerade in Lebien Kartoffeln sammelten, sollten mit den Bauern diskutieren. Klassenbewusstsein zeigen, dem Klassenfeind offen ins Auge blicken und ihm klarmachen, dass es mit dem Westfernsehen vorbei ist. Dieser Klassenfeind war allerdings gar nicht so feindlich. Er ließ die Studenten bei seiner Familie wohnen und hat sie »vorzüglich versorgt«, nicht unwichtig in einem Land, in dem es immer noch Kartoffelkarten gab und Butter und Fleisch ad hoc rationiert werden konnten.
»Damals habe ich angefangen, mich zu fragen, ob ich das eigentlich will. So einfach bei Leuten klopfen, nicht einen Anlass abwarten und dann das Gespräch suchen, sondern agitieren. Damit hatte ich Probleme. Ich merkte, das kann ich nicht. Dazu kam die Sache mit der Partei.« Eigentlich war das keine ›Sache‹ für jemanden wie Sigrid Mahlow, die mit dem Freundschaftszug in die Sowjetunion fuhr, schon als Schülerin für die Parteizeitung schrieb und ohne zu zögern ihre Gesundheit einsetzte, wenn die Funktionäre selbst zierliche Mädchen in die Produktion schickten. Sie hatte schon in der elften Klasse einen Antrag gestellt, zum Geburtstag von Friedrich Engels. Warum nicht. Das Nein kam von ganz oben, von Karl Mewis, Bezirksparteichef in Rostock. Liebe junge Genossin in spe, verstehe bitte, dass wir im Moment nur Arbeiterkinder aufnehmen können. Der Vater dieser jungen Genossin verdiente sein Geld zwar als Betonfacharbeiter, aber das zählte nicht, weil in der Kartei »kaufmännischer Angestellter« stand, sein erster Beruf. Das war damals schon albern, hatte aber sehr konkrete Folgen. Weil sie kein Arbeiterkind war (zumindest nicht nach der offiziellen Definition), bekam Sigrid Mahlow zunächst weniger Stipendium und war finanziell erst gerettet, als ihr ein Leistungsstipendium bewilligt wurde.
Zurück nach Lebien, zurück in den großen Saal des Dorfgasthofs, wo sich die Erntehelfer von der Universität zur SED bekennen sollen. Sofort. Sigrid Hoyer erinnert sich an Thomas Nikolaou, Exilkommunist aus Griechenland und Assistent an der Fakultät für Journalistik, nur drei Jahre älter als sie, und sagt, dass dort »viel Vertrauen zerstört worden«